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Hinter der Kamera. Der Bildband „Große Fotografinnen aus zwei Jahrhunderten“

29. Oktober 2024 Jenny Bünnig

„‚Ganz verschiedene Personen, die alle ganz Verschiedenes wollen, ganz Verschiedenes wissen, ganz Verschiedenes lieben, ganz verschieden aussehen.‘“ Mit diesen Worten beschrieb Diane Arbus bereits 1939 als 16-Jährige ihren Blick auf das Leben. Doch sie fassen auch den Bildband Große Fotografinnen aus zwei Jahrhunderten. Meisterinnen des Lichts von Boris Friedewald sehr gut zusammen, der 2023 in einer erweiterten und aktualisierten Neuauflage bei Prestel erschienen ist. Denn die hier versammelten Künstler*innen entstammen nicht nur unterschiedlichen Zeiten und unterschiedlichen Kulturkreisen. Auch ihre Motive und Motivationen, ihre Herangehensweisen und ihre Blicke könnten teilweise gegensätzlicher kaum sein. Sie alle verbindet jedoch das künstlerische Medium, mit dem sie sich ausdrücken: die Fotografie.

Vielfalt, seitenweise

Auf den über 250 Seiten, die der Band umfasst, stellt Friedewald 60 Fotograf*innen vor. Neben einer Einleitung, einer Bildliste und der genutzten Literatur erhält jede*r Künstler*in bis zu vier Seiten, auf denen neben einem einseitigen Beschreibungstext inklusive eines Porträts vor allem ein Einblick in zentrale Werke der Person hinter der Kamera ermöglicht wird. Ergänzt wird dies bei manchen durch Zitate – von ihnen selbst (wie z. B. Newsha Tavakolian, Viviane Sassen oder Sarah Moon) oder anderen (wie z. B. Norman Mailer, Richard Avedon oder Lewis Carroll). Bei einigen Fotograf*innen erkennt man über verschiedene Schaffensperioden hinweg eine charakteristische Bildsprache, bei anderen selbst in unterschiedlichsten Arbeiten eine gewisse typische Handschrift und bei wieder anderen würde man hinter verschiedenen Werken nicht einmal dieselbe künstlerische Hand vermuten.

Die Fotograf*innen sind nach dem Alphabet sortiert und nicht etwa nach Zeiten oder Themen geordnet. Das führt dazu, dass die kunstvoll anmutenden Cyanotypien der Britin Anna Atkins aus der Mitte des 19. Jahrhunderts (S. 21ff.) in direktem Kontrast zu Bildern von Eve Arnold stehen, auf denen u. a. 1960 die schwimmende Marilyn Monroe zu sehen ist (S. 18). Das Londoner Kohlekraftwerk Battersea, von Vera Lutter 2004 mit einer Camera obscura aufgenommen (S. 143), trifft auf die Werke der Straßenfotografin Vivian Maier (S. 146ff.). Das Porträt einer anmutigen Fahnenträgerin von Tina Modotti (S. 171) wird gerahmt vom Schnappschuss einer leidenschaftlichen Sängerin im New Yorker Metropolitan Café (S. 169), eingefangen von Lisette Model, und dem mystisch wirkenden Bild „La Mouette“, das von Sarah Moon aus Frankreich stammt (S. 177). Und die Serie „Being“, in der Zanele Muholi lesbische Schwarze Frauen in intimen, innigen Momenten zeigt (S. 184f.), ist umgeben vom berühmten Lama Linda, das bei seiner Fahrt über den New Yorker Times Square von Inge Morath fotografiert wurde (S. 180), und der Aufnahme eines aufgehängten Schafskopfes aus der Reihe „Schlachthof“ von Madame d’Ora (S. 189). Mehr Vielfalt geht fast nicht.

Fotografierende Frauen?!

In seiner Einleitung schreibt Boris Friedewald, dass die Bezeichnung Fotografin für die in diesem Band Versammelten „oft unscharf“ (S. 6) sei. Das liegt jedoch nicht nur an den teilweise sehr gegensätzlichen Haltungen in Bezug auf das Fotografieren selbst, das für manche ein Handwerk (wie z. B. für Sarah Moon) oder schlicht ihre Arbeit ist (wie z. B. für Evelyn Hofer), für andere dagegen Kunst (wie z. B. Shirana Shahbazi oder Annette Kelm). Vor allem die Frage des Geschlechts, des Frauseins, spielt(e) für die verschiedenen Fotograf*innen eine unterschiedliche Rolle. Einige von ihnen thematisierten diese Frage selbst sehr explizit, wie z. B. Gisèle Freund, die überzeugt war, dass es ihr nur als Frau gelungen sei, „‚dort Aufnahmen machen zu dürfen, wo meine männlichen Kollegen gescheitert waren‘“ (S. 4), während Newsha Tavakolian betont: „‚Meine männlichen Kollegen haben meinen Erfolg mit meinem Geschlecht in Verbindung gebracht. Das war eine Beleidigung – ich leugne zwar nicht die Relevanz des Geschlechts, aber meine unermüdlichen Anstrengungen sollten nicht ignoriert werden‘“ (S. 223).

Diane Arbus nannte sich selbst „‚Fotograf‘“ (S. 6), ebenso wie Eve Arnold: „‚Ich wollte nicht, dass als Fotografin mein Frausein im Mittelpunkt stand. Das empfand ich als Einschränkung‘“ (S. 6). Zanele Muholi identifiziert sich als non-binär und versteht sich vor allem als Aktivist*in im visuellen Bereich.

„Ob es Claude Cahun gefallen hätte, in ein Buch über Fotografinnen aufgenommen zu werden? Sicher nur mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass sie ein Leben lang daran gearbeitet hat, nicht auf ihr Geschlecht reduziert zu werden. Und die Fotografie war nur eine der vielen Ausdrucksformen dieses Künstlermenschen“ (S. 48).

Während für Muholi im Buch eine geschlechtsneutrale Schreibweise verwendet wird, wurde sich im Falle von Claude Cahun für die weibliche Form entschieden, obwohl es ein eigenes Zitat von Cahun gibt: „‚Neutrum ist das einzige Geschlecht, das mir behagt‘“ (S. 49). Dafür steht auch der selbstgewählte Name Claude, der sowohl für Frauen als auch für Männer verwendet werden kann. Daher wäre zu fragen, warum hier nicht ebenfalls neutrale Bezeichnungen gewählt worden sind.

Neue Auflage, neue Gesichter

Sowohl in Bezug auf den Aufbau als auch mit Blick auf den Inhalt unterscheidet sich die erweiterte und aktualisierte Neuauflage von Große Fotografinnen aus zwei Jahrhunderten nur wenig von der ersten Fassung aus dem Jahr 2014. Es wurden jedoch fünf weitere Künstler*innen aufgenommen, die nun ebenfalls vorgestellt werden: Diane Arbus, Miho Kajioka, Annette Kelm, Ming Smith und Newsha Tavakolian. Damit wird der Band um weitere spannende Positionen bereichert. Während die Dokumentarfotografin Arbus vor allem dafür bekannt wurde, Menschen zu fotografieren, denen sonst eher wenig(er) Beachtung geschenkt wurde, besitzen die oft ungewöhnlichen Perspektiven von Kajioka eine ganz besondere Ästhetik. Kelm geht es in ihren Arbeiten nach eigener Aussage darum, „‚die Bedingungen und Möglichkeiten des Mediums Fotografie zu reflektieren‘“ (S. 117), und im Mittelpunkt der Aufnahmen von Smith, die schon früh mit dem Rassismus in den USA konfrontiert wurde, steht „‚die Spiritualität und die Menschlichkeit Schwarzer Menschen‘“ (S. 210). Mit Newsha Tavakolian ist eine iranische Fotografin vertreten, die den Fokus auf soziale Konflikte und Naturkatastrophen und dabei insbesondere immer wieder den Blick auf Frauen richtet. Aufgrund ihrer nicht selten kritischen Bilder war es ihr in ihrer Heimat 2019 für ein Jahr verboten, zu fotografieren.

Während sich die „inneren Werte“ des Buchs in der Neuauflage also weniger verändert haben, ist es von außen jedoch kaum wiederzuerkennen. Denn es wurde nicht nur der Titel angepasst – aus Meisterinnen des Lichts. Große Fotografinnen aus zwei Jahrhunderten wurde jetzt Große Fotografinnen aus zwei Jahrhunderten. Meisterinnen des Lichts –, sondern vor allem ein neues Cover gewählt. So wurde die Schwarz-Weiß-Aufnahme von Oscar Graubner, die Margaret Bourke-White 1935 auf dem Chrysler Building in New York zeigt, durch eine Fotografie von Hellen van Meene ersetzt, auf der eine Frauenfigur abgebildet ist, die einen Wellensittich auf der Hand hält und die Betrachtenden direkt ansieht. Einen Band über Fotografinnen mit dem Werk eines Fotografen „zu verpacken“, hatte schon bei der ursprünglichen Fassung einen gewissen Missklang, der zusätzlich dadurch verstärkt wurde, dass Bourke-White zwar als Künstlerin bei der Arbeit gezeigt wurde, sie aber eigentlich und vor allem selbst zum Motiv, also zum Objekt eines Künstlers wurde. Van Meenes Frauenfigur dagegen wirkt nicht nur interessant und rätselhaft. Sie bleibt darüber hinaus nicht auf das Angesehen-Werden beschränkt, sondern gibt den Blick zurück – an uns als Betrachtende.

Viel ist nicht genug

In Große Fotografinnen aus zwei Jahrhunderten präsentiert Boris Friedewald eine „Vielheit, die ohne Frage auch Lücken aufweist – wie überall, wenn eine Auswahl aus einer Menge getroffen werden muss“ (S. 7), wie der Autor selbst schreibt. Der Blick auf die Namen des Inhaltsverzeichnisses lässt ein Übergewicht an eher westlichen Fotografinnen und Künstlerinnen aus dem sogenannten Globalen Norden sichtbar werden. Hier darf man sich sicherlich für die Zukunft eine Erweiterung wünschen – damit die spannenden, ungewöhnlichen, besonderen Blicke von Fotograf*innen auch unseren Blick weiter öffnen. Die Neuauflage hat dafür einen Anfang gemacht.

Der Bildband Große Fotografinnen aus zwei Jahrhunderten. Meisterinnen des Lichts von Boris Friedewald ist 2023 bei Prestel erschienen.

Literatur

Boris Friedewald (2023). Große Fotografinnen aus zwei Jahrhunderten. Meisterinnen des Lichts. Erweiterte und aktualisierte Neuausgabe. München: Prestel.

Zitation: Jenny Bünnig: Hinter der Kamera. Der Bildband „Große Fotografinnen aus zwei Jahrhunderten“, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 29.10.2024, www.gender-blog.de/beitrag/grosse-fotografinnen/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20241029

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Dr. Jenny Bünnig

Jenny Bünnig ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Koordinations- und Forschungsstelle des Netzwerks Frauen- und Geschlechterforschung NRW. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählen: Literatur und Kunst der Moderne und Gegenwart, Melancholie, Fremdheit, Zeit- und Raumdarstellungen, „weibliche“ Identitätskonstruktionen in der Literatur, Frauendarstellungen in der Kunst.

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