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Debatte

Identitätspolitik – emanzipatorisch oder reaktionär? Intersektionale Perspektiven

17. März 2020 Gerrit Kaschuba Edda Kirleis Birgitta M. Schulte

Identitätspolitik wird seit einiger Zeit heftig diskutiert, allerdings zeigt sich dabei eine inflationäre und auch völlig unterschiedliche Verwendung des Begriffs. So ist die extreme Rechte als „Identitäre Bewegung“ ins politische Feld getreten. Die Begrifflichkeit wurde von „Identität“ zu „identitär“ unmerklich verschoben, um Aufmerksamkeit zu gewinnen und um vorgeblich sagbar zu machen, was nach dem Zusammenbruch des Nazi-Reichs tabuisiert war. Feministischen Bewegungen wiederum wird Identitätspolitik als Vorwurf entgegengehalten. In Deutschland werden häufig die Antidiskriminierungskämpfe von Feministinnen sowie die von Trans* und Inter* Bewegungen subtil oder offen abgewertet.

Dieser Beitrag argumentiert: Identitätspolitik, gerahmt sowohl als Unterdrückungs- als auch als Befreiungsdiskurs, macht die Ambivalenz der aktuellen Debatte sichtbar. Eine intersektionale Perspektive für die Analyse der strukturellen Überlagerung von Diskriminierungsmustern ist hilfreich und ermöglicht, Machtstrukturen in ihrer Bedeutung für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen und Lebenslagen differenziert zu erkennen und aufzuzeigen.

Identitätspolitik legitimiert oder bekämpft Herrschaft

Identitätspolitik birgt eine Ambivalenz in sich, da sie auf Ausgrenzung der anderen aus einer bestimmten Gruppe basiert, gleichgültig, ob als Unterdrückungs- oder Befreiungsdiskurs. Beide können neue Formen der Marginalisierung und Gewalt hervorrufen.

In Südasien beispielsweise hat die politische Bedeutung und Nutzung von Gruppenidentitäten eine lange Geschichte. Die britische Kolonialmacht fand im indischen Subkontinent Gesellschaften vor, die von unterschiedlichen ethnischen, sprachlichen, kastenbasierten und religiösen Identitäten geprägt waren und ihre Politiken darauf aufsetzten. Die Kolonialherren wiederum nutzten diese und rechtfertigten damit Einschluss oder Ausschluss, Ausbeutung und Marginalisierung. In Südasien ist Identitätspolitik folglich eine gesellschaftliche Realität mit langer Tradition, die Herrschaft legitimiert und diskursiv erhält.

Im postkolonialen Südasien ist aber ebenso zu beobachten, dass die marginalisierten Gemeinschaften die ihnen zugeschriebene Identität nutzen, um kollektiv Widerstand zu leisten und aufgrund ihrer Identität Gegenmacht zu entwickeln. So nennen sich die Angehörigen der Widerstandsbewegungen der Kastenlosen in Indien bewusst „Dalit“, „die Niedergetretenen“. Die Erfahrung ihrer kollektiven Ausgrenzung aufgrund ihrer Identität motiviert sie dazu, diese Identität als Ausgangsplattform ihrer eigenen Politik im Sinne ihrer Interessen zu nutzen.

Frauenbewegungen und Identitätspolitik

Die südasiatischen Frauenbewegungen agierten in gleicher Weise und nutzen ihre Diskriminierung als Frauen als gemeinsame Aktionsplattform. Indigene Frauen aus Südasien problematisieren, dass ihre Unterdrückungserfahrungen innerhalb indigener Völker als „Nebenwiderspruch“ entwertet werden. Seit die Vereinten Nationen eine Erklärung zu den Rechten indigener Völker verabschiedet haben, ist ihnen eine Identität als Gruppe ermöglicht worden, durch die sie zumindest diskursiv eine internationale Politik ausüben können.

Die Frauenbewegung in Westeuropa Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre fokussierte den Faktor Geschlecht und die Benachteiligung von Frauen in der patriarchal geprägten Gesellschaft. Von Anfang an richtete sich der Feminismus gegen die mit dem Frausein verbundene Abwertung und entsprechende gesellschaftliche Ausschlüsse, die als strukturell erkannt wurden. Frauen solidarisierten sich.

Das als universal dargestellte „Wir“ der Frauen wurde im Zuge der 1980er-Jahre als eines von weißen (Mittelschichts-)Frauen kritisiert. Im Zuge postkolonialer und antirassistischer Theoriebildung wie auch in der Queer Theory wurden weitere Kategorisierungen und damit einhergehende Machtverhältnisse untersucht, wie z. B. Ethnizität, Hautfarbe, geschlechtliche Identität (LGBTIQ) etc., die neue Bewegungen und ihre Aktivist_innen auf den Plan riefen.

Benachteiligungen – simultan und intersektional

Die US-amerikanische Gruppierung „Combahee River Collective“ hat schon 1977 Identitätspolitik betrieben. Die Gruppe Schwarzer lesbischer Frauen glaubte, dass sich ihre spezifische Unterdrückungserfahrung aus ihrer „Identität“ als Schwarze Lesben heraus am radikalsten bekämpfen lasse – und zwar gemeinsam (Combahee River Collektive 1982). „In einer linken Politik, die sich vornehmlich auf den männlichen Industriearbeiter als Modellfigur des Proletariats bezog, erkannten sich die Schwarzen lesbischen Frauen nämlich nicht wieder“ (Susemichel/Kastner 2019 o. S.).

Ihr Konzept der „Simultaneity“ aus den 1970ern ging dem Konzept der „Intersectionality“ der 1980er-Jahre voraus. Kimberlé Crenshaw arbeitete 1989 die „Intersection“, die Überkreuzung von Diskriminierungen als Frauen und als Schwarze heraus: Die Schwarzen Arbeiterinnen bei Ford erhielten nicht deshalb weniger Lohn, weil sie langsamer arbeiteten, und auch nicht, weil sie schlechter verhandelt hätten. Sie erhielten weniger Lohn als die Schwarzen Arbeiter, weil sie Frauen waren. Und sie erhielten weniger Lohn als die weißen Arbeiterinnen, weil sie Schwarz waren. Ihre Benachteiligung war strukturell. Sie traf sie mehrfach.

Der intersektionale Ansatz ermöglicht, verschiedene individuelle und Gruppenidentitäten anzuerkennen. Auf dieses Verständnis hin kann ein vernetztes solidarisches Handeln erfolgen.

Machtverhältnisse sind komplex

Identitätspolitik ist kein neues oder gar westeuropäisches Phänomen, und Machtverhältnisse können nicht ausschließlich auf Klassengegensätze oder auf Geschlechterungerechtigkeit reduziert werden. Sie müssen in jedem gesellschaftlichen Umfeld in ihrer Komplexität analysiert werden.

Identitätspolitik kann die Ausübung von Macht sowohl als Unterdrückung (herrschaftliche Identitätspolitik) als auch im Sinne einer kollektiven Befreiung ermöglichen. Um Machtveränderungen nicht wieder in neuen Unterdrückungsmechanismen und Ausgrenzungen enden zu lassen, ist ein intersektionaler Ansatz notwendig, und zwar als Machtkritik, die die Inklusion aller Marginalisierten ermöglicht. Die Bedeutung einer intersektionalen Perspektive ist für die Analyse der strukturellen Überlagerung von Diskriminierungsmustern wichtig.

Mit Nancy Fraser und Koschka Linkerhand können auch die strukturellen und systemischen Formen von Ausbeutung und Unterdrückung stärker in den Mittelpunkt gestellt werden, die sich sowohl ökonomisch als auch in patriarchalen Institutionen und staatlichen Strukturen niederschlagen (vgl. Aruzza/Bhattacharya/Fraser 2019; Linkerhand 2018). Der Naturalisierung und Kulturalisierung sozialer Unterschiede kann entgegengewirkt werden durch eine alle Kategorien umfassende Analyse und den Blick nach innen und außen. Wichtig wäre eine Suche nach Gemeinsamkeiten, nicht nach Unterschieden, vor allem im Zusammenwirken der marginalisierten Gruppen (vgl. Aruzza/Bhattacharya/Fraser 2019).

Lösungsversuche

Als begründet kann ein Vorwurf gegen Identitätspolitiken angesehen werden, wenn bei der Betonung gruppenspezifischer Interessen gesellschaftliche Machtverhältnisse nicht benannt werden sowie neue Machtpolitiken einzelner Gruppen und Verletzungen anderer entstehen.

Mit Gemeinschaft stiftenden Merkmalen ist die Gefahr der Essentialisierung verbunden, so als ob sie zum Wesenskern des jeweiligen Kollektivs gehörten. Viele Wissenschafler_innen haben inzwischen darauf hingewiesen, dass Identität nicht eine Sache des Wesens einer Person oder eine Gruppe ist, sondern eine Positionierung (Young 1994; Hall 2018; Harding 1991). Daraus schlussfolgert Sabine Hark:

„Wenn aber Identität gerade nicht eine Sache des Wesens ist und ohnehin nie nur eine Sache, sondern stets offen und im Werden befindlich, letztlich eine Sache des Erzählens, gibt es immer Identitätspolitik, das heißt eine Politik der Position und der Positionalität. Identitäten, mit anderen Worten, sind das Ergebnis von Erzählungen, mit denen Individuen und Kollektive sich politisch, historisch und kulturell verorten – und, vielleicht mehr noch, verortet werden.“ (Hark 2019 o. S.)

In den Fortbildungen des Netzwerks Gender Training sollen ‚Identitäten‘ in diesem Sinne erzählt werden können. Sie können analysiert und jeweilige Positionen auch neu formuliert werden. Wir nutzen dabei eine intersektionale Perspektive, die tiefer gehende Differenzierungen im Sinne der Überwindung von vorschnellen Zuschreibungen vollzieht und das Zusammenspiel verschiedener Formen von Machtausübung herausarbeitet. Intersektionalität ermöglicht auf dieser Basis Handlungsfähigkeit, indem unterschiedliche Erfahrungen von Unterdrückung und Diskriminierung nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern vielmehr Synergien geschaffen werden können. Persönliche und gruppenbezogene Diskriminierung als auch ihre strukturellen Ursachen und Formen und damit zusammenhängende Zuschreibungsprozesse können angesprochen und die eigene Positionierung und Beteiligung bewusstgemacht werden.

Dieser Beitrag ist eine gekürzte und leicht veränderte Fassung von „Die Debatte um Identitätspolitiken. Ein Plädoyer für den intersektionalen Blick“ des Netzwerks Gender Training.

Literatur

Aruzza, Cinzia; Bhattacharya, Tithi & Fraser, Nancy (Hrsg.) 2019: Feminismus für die 99%. Ein Manifest, Berlin.

Combahee River Collective 1982: A Black Feminist Statement. In: Hull, Gloria T.; Scott, Patricia Bell & Smith, Barbara (Hrsg.): But Some of Us Are Brave. Black Women's Studies, Old Westbury, S. 13–22.

Crenshaw, Kimberlè 1989: Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics. In: The University of Chicago Legal Forum, (1), S. 139–167.

Hall, Stuart 2018: Das verhängnisvolle Dreieeck. Rasse, Ethnie, Nation, Berlin.

Hall, Stuart 1994: Der Westen und der Rest. Diskurs und Macht. In: Hall, Stuart (Hrsg.): Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg, S. 137–179.

Harding, Sandra 1991: Feministische Wissenschaftstheorie, Hamburg.

Hark, Sabine 2019: Wer spricht hier über wen? Zeit Online, https://www.zeit.de/kultur/2019-07/identitaet-identitaetspolitik-diskriminierung-aktivismus-philosophie (zuletzt aufgerufen am 07.02.2020).

Linkerhand, Koschka (Hrsg.) 2018: Feministisch streiten. Texte zu Vernunft und Leidenschaft unter Frauen, Berlin.

Susemichel, Lea & Kastner, Jens 2019: Linke Identitätspolitik. Partikularinteressen versus soziale Verantwortung? 10.02.2019, Deutschlandfunk „Essay und Diskurs“.

Young, Iris Marion 1994: Geschlecht als serielle Kollektivität: Frauen als serielles Kollektiv. In: Institut für Sozialforschung (Hrsg.): Geschlechterverhältnisse und Politik, Frankfurt/Main, S. 223–261.

Zitation: Gerrit Kaschuba, Edda Kirleis, Birgitta M. Schulte: Identitätspolitik – emanzipatorisch oder reaktionär? Intersektionale Perspektiven, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 17.03.2020, www.gender-blog.de/beitrag/identitaetspolitik-intersektionale-perspektiven/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20200317

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Dr. Gerrit Kaschuba

Gerrit Kaschuba führt wissenschaftliche Untersuchungen, Evaluationen und Begleitforschung am Forschungsinstitut tifs e.V. in Tübingen durch. Sie begleitet insbesondere Gender Mainstreaming-Prozesse in Kommunen und verschiedenen Organisationen. Sie gibt Fortbildungen im bereich Gender, Diversity und interkulturelles Lernen.

 

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Edda Kirleis

Edda Kirleis ist seit 1995 Regionalreferentin für Südasien mit den Schwerpunkten Gender und Friedensarbeit sowie Konfliktbearbeitung und Vorsitzende des Genderstrategieausschuss des Evangelischen Entwicklungsdienstes (EED), Bonn. Sie gibt Gender Trainings für Entwicklungs-NRO (Brot für die Welt, EZE, Misereor, Caritas Schweiz, DED u.a.) und kirchliche Einrichtungen.

Seit 2012 im Evangelischen Werk für Diakonie und Entwicklung, Berlin

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Birgitta M. Schulte

Birgitta Schulte ist Trainerin, Coach und Autorin für ARD-Hörfunk, Sachbuch und Belletristik. Sie gibt Gender Trainings in Bildungsinstitutionen, Kirchen und für Verwaltungen.

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