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Headergrafik: Sybille Hassinger, o T., 2000. Öl/Paraffin auf Leinwand, 120 x 100 cm, Bildausschnitt.

Forschung

Intersektionale und postkoloniale Kritik an Wissenschaft und Politik

19. Januar 2021 Johanna Leinius Heike Mauer

Die Proteste der Black-Lives-Matter-Bewegung haben den Namen von George Floyd weltweit bekannt gemacht und Rassismus und Polizeigewalt auch in Deutschland als strukturelle Probleme benannt. Doch spezifische Fälle, wie der von Christy Schwundeck, sind weit weniger bekannt. (Polizeiliche) Gewalt gegen Schwarze Frauen in Deutschland wird oftmals als ‚Nischenthema‘ verhandelt. Zumeist ebenso unsichtbar bleibt dabei, dass rassistische Polizeigewalt gegen Frauen, trans und nichtbinäre Menschen spezifische vergeschlechtlichte Formen annimmt. Auch die COVID-19-Pandemie macht komplexe Macht- und Herrschaftsverhältnisse sichtbar, die unter anderem auf vergeschlechtlichten und rassifizierten Ökonomien basieren.

Unser Beitrag plädiert dafür, sich solchen gegenwärtigen Konstellationen von Ungleichheit mit intersektionalen und postkolonialialen Forschungsperspektiven anzunähern. Denn diese eignen sich besonders gut dazu, die globalen und historischen Dimensionen der Verschränkung von Macht, Ungleichheit und Herrschaft zu analysieren.

Intersektionalität und Postkolonialität als Forschungsperspektiven

Oftmals stellen intersektionale und postkolonial-feministische Perspektiven die Verknüpfungen von Rassismus, Sexismus und Klassenverhältnissen – als Beziehungen, in denen Differenz und Gleichheit in einem teils paradoxen Verhältnis zueinander stehen – in den Mittelpunkt. Der von uns herausgegebene Sammelband „Intersektionalität und Postkolonialität“ zeigt, wie beide Ansätze als Forschungsperspektiven in politik- und sozialwissenschaftlichen Analysen produktiv gemacht werden können. Dabei plädieren wir für die theoretische und methodologische Reflexion der beiden Begriffe. Denn Postkolonialität und Intersektionalität werden in populärwissenschaftlichen, aktivistischen, aber auch feuilletonistischen Lesarten bisweilen als Buzzwords eingesetzt. Damit geht nicht nur die interne Heterogenität beider Perspektiven verloren, auch die spezifischen Genealogien der mit ihnen verbundenen emanzipatorischen Kämpfe von beispielsweise Schwarzen Frauen, Women of Color und migrantisierten Feministinnen werden ausgeblendet.

Wissensproduktion als politische Intervention

Aber es ist gerade dieser kritische Impetus, der die Ausrichtung von Intersektionalität und Postkolonialität als Forschungsperspektiven ausmacht. Denn sie teilen ein Verständnis von Wissensproduktion als (wissens)politische Intervention, um die Gesellschaft in emanzipatorischer Weise zu verändern. Beide Perspektiven reflektieren das komplexe Verhältnis zwischen Differenz und Gleichheit. Aus intersektionaler und postkolonialer Perspektive ist der Wunsch, Menschen festgelegten Kategorien zuzuordnen, ein wesentlicher Machtfaktor, der den hegemonialen Blick stabilisiert. Ein solcher Blick ist allerdings nicht in der Lage, die komplexen Identifikationen und Erfahrungen von marginalisierten Personen adäquat zu erfassen. Das Austarieren zwischen Differenz und Gleichheit aus Sicht derjenigen, deren Lebensrealitäten nicht berücksichtigt werden, ist daher ein zentrales Anliegen beider Perspektiven und Ausganspunkt emanzipatorischer Wissensproduktion und -transformation.

Verflechtungen zwischen historischen und aktuellen Genealogien

Postkolonialität und Intersektionalität als in sich heterogene Perspektiven ermöglichen empirische, theoretische sowie hochschul- und (wissens)politische Reflexivität bei der Analyse einer Vielzahl von Politik- und Praxisfeldern. Beispielsweise setzen Wohlfahrtsstaatsregime die mit Geschlechterverhältnissen und Rassifizierungsprozessen verbundenen Ungleichheiten in ein Verhältnis zueinander. Daher hängt es von den konkreten sozialen Positionierungen und der Handlungsmacht der Subjekte ab, welche Wirkungen arbeitsmarkt- und wohlfahrtsstaatliche Politiken ganz konkret auf sie entfalten können.

Katrin Menke und Monika Götsch zeigen dies in ihrem Beitrag an den Beispielen erwerbstätiger Eltern und transgeschlechtlicher Personen. Das Spannungsverhältnis zwischen intersektional und postkolonial strukturierten Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnissen einerseits und individueller und kollektiver Handlungsmacht andererseits wird, wie Christine Löw aufzeigt, auch im Feld der Klima- und Ernährungspolitik sichtbar, in dem sich etwa subalterne Frauen in Indien für ihre Ernährungssouveränität einsetzen. Es existiert aber ebenso in Bezug auf biomedizinische Forschung und die Frage des Zugangs Schwarzer Frauen und BIPoC zu einer adäquaten Gesundheitsversorgung, wie Helene Gerhards mit der historischen Genealogie der HeLa-Zelle aufarbeitet. Es beeinflusst auch die Stellung indigener Frauen im Straf- und Justizsystem, das zeigt Sonja John anhand des Konzepts der Eigensinnigkeit.

Solche Verflechtungen zwischen verschiedenen historischen und gegenwärtigen Genealogien von Rassismus, Sexismus und Klassenverhältnissen betreffen jedoch nicht allein marginalisierte Subjektpositionen. Sie finden sich auch in den Politiken rechtsextremer Akteur*innen gegenüber dem Islam wieder, wie Christopher Fritzsche argumentiert: Erscheint dieser in rechtspopulistischen und rechtsextremen Diskursen zumeist als Feind ‚abendländischer Werte‘ und als ‚Bedrohung‘, werden konservativ-islamische Strömungen im Kampf insbesondere christlich-fundamentalistischer Akteur*innen zugleich als potenzielle Bündnispartner*innen adressiert.

Leerstellen und Modifikationen

Intersektionale und postkoloniale Perspektiven ermöglichen zudem eine kritische Reflexion der eigenen Positionen und der damit verbundenen Auslassungen. Laura Mohr fragt nach den Leerstellen in intersektionalen Konzepten und Queer Theory und bietet eine beziehungstheoretische Schließung dieser an, die queer-intersektionale, solidarische Beziehungsweisen als Gegenentwürfe zu gesellschaftlich-kapitalistischen Verhältnissen versteht. Ebenso kann gefragt werden, wie postkolonial-feministische Theorien die Kategorie der ‚Religion‘ thematisieren und inwiefern diese Formen dem Gegenstand (un)angemessen sind. Zubair Ahmad geht dieser Frage anhand der Thematisierung von Religion als Machttechnologie nach. Nicht zuletzt aufgrund der jüngsten ‚Islamdebatten‘ stellt sich Floris Biskamp die Frage, ob und wie es gelingen kann, in einer nicht-rassistischen Form über das ‚Patriarchat der Anderen‘ zu sprechen und welche Kriterien mit einem postkolonial-feministischen Framework hierfür entwickelt werden können. In all diesen Beiträgen steht zur Debatte, wie sich das geografische, aber auch das (inter)disziplinäre ‚Reisen‘ von Theorien auf die Wissensproduktion auswirkt: Inwiefern sind diese Migrationsprozesse durch Entfremdungsprozesse gekennzeichnet? Wann sind theoretische Modifizierungen notwendig und wie können diese kontextsensibel umgesetzt werden?

Verstrickungen und Reflexionsmöglichkeiten in der Akademie

Letzteres verweist bereits auf die Verstrickung von Epistemologie und Macht(-Politik) und schlägt die Brücke zu den wissens- und hochschulpolitischen Interventions- und Reflexionsmöglichkeiten, die mit Postkolonialität und Intersektionalität verbunden sind: Welche Subjekte erlangen im wissenschaftlichen System Anerkennung, wer wird gelesen und zitiert? Wer erlangt als Produzent*in von akademischem Wissen Autorität und damit auch Handlungsmacht? Am Beispiel der südafrikanischen Studierendenbewegung, die sich für Dekolonialität und eine intersektionale Öffnung der Hochschulen einsetzt, zeigt Antje Daniel, dass emanzipatorische Politiken sich immer wieder selbst hinsichtlich ihrer Herrschaftsförmigkeit befragen (lassen) müssen. In ihrem Austausch legen Nikita Dhawan und Birgit Sauer offen, wie um emanzipatorische und transformative Politiken innerhalb des institutionellen Gefüges von Wissenschaft gerungen werden muss. Die feministischen Politikwissenschaftlerinnen machen deutlich, dass gleichstellungspolitische Erfolge nicht nur abgesichert, sondern zugleich intersektional und postkolonial gewendet und weiterentwickelt werden müssen.

Angebot zum (kritischen) Dialog

Indem sie sedimentierte Ungleichheiten aufdecken und emanzipatorische Wissenspraktiken schaffen, dienen Postkolonialität und Intersektionalität gleichermaßen als Horizont und Orientierungsrahmen. Wir sehen den Sammelband „Intersektionalität und Postkolonialität“ als ein Angebot, um den Dialog zwischen beiden Perspektiven zu intensivieren und sich kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen. Dabei laden wir auch dazu ein, unsere eigene Perspektive als weiße Nachwuchswissenschaftler*innen, die für eine normativ orientierte und theoretisch fundierte Auseinandersetzung mit Intersektionalität und Postkolonialität als Paradoxien von Differenz und Gleichheit plädieren, in Frage zu stellen. Das Gespräch ist eröffnet – und ein lebendiger Austausch erwünscht.

Das Buch „Intersektionalität und Postkolonialität. Kritische feministische Perspektiven auf Politik und Macht“, herausgegeben von Heike Mauer und Johanna Leinius, ist im Dezember 2020 im Verlag Barbara Budrich erschienen und als Open-Access-Version frei zugänglich.

Zitation: Johanna Leinius, Heike Mauer: Intersektionale und postkoloniale Kritik an Wissenschaft und Politik, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 19.01.2021, www.gender-blog.de/beitrag/intersektionale-postkoloniale-kritik/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20210119

Beitrag (ohne Headergrafik) lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz Creative Commons Lizenzvertrag

© Headergrafik: Sybille Hassinger, o T., 2000. Öl/Paraffin auf Leinwand, 120 x 100 cm, Bildausschnitt.

Dr. Johanna Leinius

Johanna Leinius ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet Soziologische Theorie der Universität Kassel. Sie ist eine der Sprecher*innen der Sektion 'Politik und Geschlecht' in der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft (DVPW) sowie des AK Poststrukturalistische Perspektiven auf Soziale Bewegungen des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung. Ihre Forschungsinteressen sind postkolonial-feministische und dekoloniale Theorie, Postextraktivismus und Politische Ontologie.

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Dr. Heike Mauer

ist Politikwissenschaftlerin und forscht an der Koordinations- und Forschungsstelle des Netzwerks Frauen- und Geschlechterforschung NRW an der Universität Duisburg-Essen zu Hochschule und Gleichstellung. Von 2016 bis 2021 war sie Mitglied im Sprecher*innenrat der Sektion Politik und Geschlecht. Für ihre Forschungen zu Intersektionalität, Rechtspopulismus und Antifeminismus ist ihr 2019 der Preis für exzellente Genderforschung des Landes NRW verliehen worden.

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