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Debatte

Jenseits eines binären Personenstandsrechts? Ein historisches Urteil und die Mühen der Ebenen

07. August 2018 Lisa Mense

Am 10. Oktober 2017 urteilte der erste Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), dass die binäre Geschlechterordnung im Personenstandsrecht nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sei (1 BvR 2019/16) – ein wichtiger Bezugspunkt für den Kampf intergeschlechtlicher Menschen um Anerkennung und Selbstbestimmung und darüber hinaus für Menschen, die sich nicht einem der beiden Geschlechter zugehörig fühlen. Im Recht spiegeln sich gesellschaftliche Verhältnisse und somit auch Geschlechterverhältnisse. Zugleich werden über die rechtlichen Regulierungen Geschlechterordnungen und Vorstellungen von Geschlecht mitgeprägt. Die Entscheidung des BVerfG zum Personenstandsrecht beinhaltet daher die Möglichkeit, die bisherige auch rechtlich fixierte binäre Geschlechterordnung aufzuweichen. Doch ist die Rolle des Rechts zugleich auch hier eine umstrittene, denn nicht nur das Recht hat eine regulierende Kraft in Bezug auf Geschlecht, sondern desgleichen Medizin, Wissenschaft, Politik, Ökonomie sowie gesellschaftliche Normen und Vorstellungen. Darüber hinaus haben soziale Bewegungen und aktivistische Akteur*innen und -gruppen zum Wandel von Geschlechterordnungen beigetragen. Welches Potenzial liegt nun in der Entscheidung des BVerfG, die bislang wirkmächtigen binären Geschlechternormen aufzubrechen? Und was bedeutet eine Erweiterung von Geschlechterkategorien für Gleichstellungspolitiken von Frauen und Männern?

Das Recht als Konstrukteur einer binären Geschlechterordnung

In ihrer Dissertation „Geschlecht als Erwartung“ hat Laura Adamietz (2011) darauf hingewiesen, das sich im Recht keine Definition des Begriffs Geschlecht befinde. Diese Unbestimmtheit begünstige enge Interpretationen, die ein binäres und heteronormatives Verständnis von Geschlecht zugrunde legen. Geschlecht werde in der Regel als eine eindeutige und biologische Kategorie aufgefasst, die Menschen in genau zwei Gruppen aufteile, nämlich Frauen und Männer. Dieses Verständnis von Geschlecht findet sich sehr offensichtlich im bisherigen Personenstandsgesetz (PStG). Dieses regelt, dass bei der Geburt eines Kindes, das Geschlecht mit „weiblich“ oder „männlich“ im Geburtenregister einzutragen ist (§21 PStG). Kann das Kind keinem Geschlecht zugeordnet werden, unterbleibt eine Eintragung (§22 PStG). Umschreibungen seien nicht zulässig (Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Personenstandsgesetz - PStG-VwV – 21.4.3). Über diese Festschreibung von Geschlecht als männlich oder weiblich, hat das PStG maßgeblichen Anteil an der sozialen Konstruktion einer heteronormativen Zweigeschlechtlichkeit. Auch das Gebot der Geschlechtergleichstellung im Grundgesetz (Art. 3. 2 GG) sowie die bundes- und länderspezifischen Gleichstellungsgesetze beziehen sich ausschließlich auf zwei Geschlechter.

Eingeschränkter Diskriminierungsschutz

Während somit der nach wie vor bestehenden strukturellen Benachteiligung von Frauen gegenüber Männern entgegengetreten wird, fehlt dies für Personen, die nicht der zweigeschlechtlichen Klassifikation entsprechen. Diskriminierungsverbote aufgrund des Geschlechts nach Art. 3 Abs. 3 GG beziehen sich bislang in der Regel ebenfalls auf Frauen und Männer, dies gilt in ähnlicher Weise für das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Inter- und Transgeschlechtlichkeit werden im AGG nicht unter Geschlecht erfasst, sondern unter dem Merkmal der „sexuellen Identität“. Diskriminierungen aufgrund der sexuellen Orientierung werden sowieso ausschließlich über das AGG verboten. Insofern unterliegen die Kategorien „Geschlechtsidentität“, „geschlechtlicher Ausdruck“ und „sexuelle Orientierung“ nur diesem teilweisen Diskriminierungsschutz, dabei bilden aus der Perspektive einer de-)konstruktivistischen Geschlechterforschung Geschlechtsidentitäten und Begehren in ihrer Verwobenheit erst die zentralen Dimensionen von Geschlecht.

Geschlechtervielfalt in internationalen Menschenrechtsdebatten

Die rigide Norm der heteronormativen Zweigeschlechtlichkeit hat in den letzten Jahren zunehmend Risse erfahren, nicht zuletzt aufgrund der Aktivitäten sozialer Bewegungen, ausgehend von Interessensverbänden und einzelnen Personen zu den Themen sexuelle und geschlechtliche Vielfalt. Auch in den internationalen menschenrechtlichen Diskursen werden die Anerkennung von geschlechtlicher und sexueller Vielfalt und der Schutz vor Diskriminierung und Gewalt als wichtige Fragen diskutiert. Studien zu geschlechtsbezogenen Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen zeigen, dass Frauen allgemein wie auch inter- und transgeschlechtliche Menschen in besonderen Ausmaß hiervon betroffen sind. Vor diesem Hintergrund wird der Geschlechterbegriff z. B. in Dokumenten der UN weiter gefasst. So werden in den Staatenberichten zur Umsetzung der Frauenrechtskonvention (Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau, CEDAW) Rechtsverletzungen thematisiert, die trans- und intergeschlechtliche Menschen betreffen. Nach Interventionen von Interessensverbänden, wie vom Verein Intersexuelle Menschen e. V., war es schließlich dieser Rahmen von CEDAW, der dazu führte, dass der Deutsche Ethikrat im Jahr 2012 seine Stellungnahme zur Situation intersexueller Menschen vorlegte. Diese plädierte für ein umfassendes Verbot geschlechtszuweisender Operationen, wie es neben CEDAW ebenfalls der UN-Antifolter- und der UN-Behindertenrechtsausschuss fordern. Darüber hinaus regte der Ethikrat an, das Personenstandsgesetz dahingehend zu überprüfen, ob ein Geschlechtseintrag überhaupt notwendig sei bzw. einen dritten Eintrag zu ermöglichen.

Entwurf eines Geschlechtervielfaltsgesetzes

Dieser Empfehlung folgte das bundesdeutsche Parlament in seiner Mehrheit nicht. Stattdessen wurde das „Offenlassen“ des Geschlechtseintrags im PStG eingeführt. Auch die Anzahl der kosmetischen Genitaloperationen war nach einer Studie von Ulrike Klöppel (2016) bisher nicht rückläufig, obwohl nach den in den letzten Jahren revidierten medizinischen Leitlinien geschlechtszuweisende Operationen im Kindesalter restriktiv gehandhabt werden sollen. Vor diesem Hintergrund werden die Debatten um eine rechtliche Anerkennung geschlechtlicher Vielfalt weitergeführt. Unter Federführung des Bundesfamilienministeriums (BMFSFJ) wurde eine interministerielle Arbeitsgruppe „Intersexualität/Transsexualität“ eingerichtet und ein Rechtsgutachten durch das Deutsche Institut für Menschenrechte eingeholt. Das im Januar 2017 veröffentlichte Gutachten „Geschlechtervielfalt im Recht“ enthält einen umfassenden Entwurf eines „Geschlechtervielfaltsgesetzes“ zur Gestaltung einer insgesamt geschlechterinklusiven Rechtsordnung. Hierunter fällt unter anderem auch die Weiterentwicklung eines Gleichstellungsrechts, das inter- und transgeschlechtliche Menschen mit weiblichen Beschäftigten im Arbeitsleben gleichstellt. Das BMFSFJ hat bereits im September 2017 in einem Positionspapier „Schutz und Akzeptanz von geschlechtlicher Vielfalt“ Vorschläge des Gutachtens übernommen und für die Aufnahme einer weiteren Geschlechtskategorie im Personenstandrecht votiert.

Beharrungstendenzen der Zweigeschlechter-Ordnung

Das Urteil des BVerfG fiel daher nicht in ein diskursives Vakuum, sondern ist im Zuge dieser, auch internationalen, menschenrechtlichen Debatten und Abkommen zu verorten. Die Entscheidung des BVerfG wurde bei seiner Veröffentlichung im November 2017 als Ausgangspunkt für eine rechtliche Neuordnung, die über die binäre Verfasstheit von Geschlecht herausreicht, begrüßt (s. hierzu die Debatten im Verfassungsblog unter dem Titel „Nicht Mann. Nicht Frau. Nicht Nichts“), auch wenn in der Urteilsfindung zentrale Forderungen von Interessensverbänden und Inter*-Personen, wie ein Verbot geschlechtszuweisender Operationen an Babys und Kindern, nicht berücksichtigt werden konnten. Das BVerfG hat mit seiner Entscheidung einen Raum eröffnet, um die Rechtsordnungen geschlechterinklusiver zu gestalten. An der Legislative, also an der Politik, ist es nun, diesen Raum zu gestalten. Bis zum 31.12.2018 muss ein Gesetz vorliegen, dass die Entscheidung des BVerfG umsetzt.

Der im Juni 2018 vorgelegte Gesetzesentwurf aus dem Innenministerium zur Änderung des Personenstandsrechts hat diese Möglichkeit jedoch nicht nur nicht ergriffen, sondern hält nach wie vor an einer möglichst umfassenden Zweigeschlechter-Ordnung fest. So soll die Pflicht zum Geschlechtseintrag im Geburtenregister beibehalten werden und als dritte Geschlechtsangabe ist „weiteres“ vorgesehen. Noch dazu wird dieser Geschlechtseintrag an ein ärztliches Gutachten gekoppelt, das eine vorliegende „Variante der Geschlechtsentwicklung“ bescheinigt. Intergeschlechtliche Menschen wären nach wie vor nicht vor körperlichen Eingriffen geschützt und ihre Pathologisierung würde fortgeführt (vgl. hierzu auch Krämer & Sabisch 2017).

Literatur

Adamietz, Laura (2011). Geschlecht als Erwartung. Das Geschlechtsdiskriminierungsverbot als Recht gegen Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität. Baden-Baden: Nomos.

Klöppel, Ulrike (2016). Zur Aktualität kosmetischer Operationen „uneindeutiger“ Genitalien im Kindesalter. Bulletin, Text 42. Zentrum für Transdisziplinäre Geschlechterstudien: Humboldt-Universität zu Berlin.

Krämer, Annike & Sabisch, Katja (2017). Intersexualität in NRW: Eine qualitative Untersuchung der Gesundheitsversorgung von zwischengeschlechtlichen Kindern in Nordrhein-Westfalen. Projektbericht. Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW (Hrsg.), Studie Nr. 28, Universität Duisburg-Essen. Zugriff am 13.03.2019 unter https://www.netzwerk-fgf.nrw.de/fileadmin/media/media-fgf/download/publikationen/netzwerk_fgf_studie_nr_28_f_web.pdf.

Zitation: Lisa Mense: Jenseits eines binären Personenstandsrechts? Ein historisches Urteil und die Mühen der Ebenen, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 07.08.2018, www.gender-blog.de/beitrag/jenseits-eines-binaeren-personenstandsrechts-ein-historisches-urteil-und-die-muehen-der-ebenen/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20180807

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Dr. Lisa Mense

Dr. Lisa Mense ist stellvertretende Koordinatorin und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Koordinations- und Forschungsstelle des Netzwerks Frauen- und Geschlechterforschung NRW. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Hochschul- und Gleichstellungsforschung, Geschlechter- und diversitätskompetente Lehre, Gender Studies und Queer Theory.

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