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Headergrafik: Susanne Rottenbacher, Raumzeichnungen, DA, Kunsthaus Kloster Gravenhorst 2019/2020, © Uta C. Schmidt

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Theologisches Neuland oder: der religiöse Horizont des Butler‘schen Denkens

16. August 2022 Claudia Willms

Während der Frankfurter Adorno-Vorlesungen im Jahr 2002 konnte ich, eine Studentin im dritten Semester, der Philosophin Judith Butler im Rahmen eines Arbeitskreises eine brennende Frage stellen: Warum ihre Texte nicht stärker darauf angelegt seien, verstanden zu werden. Butler wendete sich in ihrer Antwort ernsthaft interessiert an mich und erklärte, dass ihre Texte tatsächlich nicht selbsterklärend sind – weil sie es nicht sein sollen! Denn es sei ihre Intention, dass diese in der Tradition der jüdischen Exegese erst durch Interpretation und Debatte wahrlich zum Leben erweckt würden.

Butler'sche Philosophie und deutsche Theologie

Seitdem beschäftigt mich ihre Antwort. Die Besprechung des Buches Judith Butler und die Theologie, das 2020 von Bernhard Grümme, Professor für Religionspädagogik, und Gunda Werner, Professorin für Dogmatik, herausgegeben wurde, gehört zu dieser Befassung. Der Sammelband ruft dazu auf, die theologischen Rezeptionsmöglichkeiten und -grenzen der Butler’schen Philosophie innerhalb der deutschen Theologie auszuloten. Als Kultur- und Sozialwissenschaftlerin sollte ich mich im Laufe meines weiteren wissenschaftlichen Lebensweges mit jüdischer Geschichte, jüdischen Praktiken und Traditionen ausführlicher beschäftigen. Mit dem Lesen des Sammelbands wollte ich nun nicht nur Butlers exegetischer Tradition auf den Grund gehen, sondern mit der Lektüre war die Hoffnung verbunden, im Rahmen des transdisziplinären Projekts zu „Religiösen Positionierungen“ meine Mitstreiter*innen aus den theologischen Fächern besser verstehen zu lernen.

Die Beitragenden des Sammelbands kommen aus den verschiedenen Fachrichtungen, sie vertreten die Religionspädagogik, die Liturgiewissenschaft, das Kirchenrecht, die Religionsphilosophie, die Interkulturelle Theologie, die Moraltheologie oder die Kirchengeschichte. Bernhard Grümme und Gunda Werner haben sich bei ihrer Herausgabe für eine Aufteilung des Buches in fünf Unterkapitel entschieden: Sie beginnen mit „Praktisch-Theologischen Erkundungen“, setzen mit „Biblischen Perspektiven“ fort, schließen daran die „Systematisch-Theologischen Zugänge“ und die „Religionsphilosophischen und Interkulturellen Perspektiven“ an und schließen mit „Theologiegeschichtlichen Perspektiven“ ab. Der Sammelband ist demnach in fünf verschiedene Perspektiven und Zugänge unterteilt, denen die Vertreter*innen der  theologischen Teildisziplinen zugeordnet werden.

Theologisches Neuland

Die Herausgeberin und der Herausgeber kündigen in ihrer Einleitung an, dass sie mit ihrem Band „theologisches Neuland“ (S. 10) betreten würden. Die Beitragenden des Bandes würden die „produktive Irritation“ (S. 10) durch Butlers Gedanken und Theorien schätzen und anhand der fünf Problemfelder Ethik, Subjekt, Macht, Gender und Vulnerabilität zahlreiche Anknüpfungspunkte für die Theologie/n aufzeigen. Und so finden sich viele Beiträge, die dafür argumentieren, dass Judith Butlers Gedanken theologisch gewendet und bedeutsam gemacht werden können und sollten. Andere Beiträge kritisieren die Ignoranz bisheriger kirchlicher Traditionen und das hier vorzufindende Verkennen weit verbreiteter sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse. Und einige setzen Butlers Gedanken in Beziehung zur theologischen Ethik und zu christlichen Theoretiker*innen bzw. Konzepten und erweitern somit den Rahmen des Butler‘schen Universums u. a. in Bezug auf Vulnerabilität, Gnade, Betrauerbarkeit, oder die „Kraft der Lücke“ (Beitrag Werner, S. 201ff.).

Anerkennungstheorie und Subjektphilosophie

Ich möchte zwei Beiträge herausgreifen, um die Stärken und Schwächen des Bandes zu verdeutlichen. Im Beitrag „Halbierte Rezeption. Judith Butler und die Religionspädagogik“ widmet sich Bernhard Grümme der Frage, weshalb die Gendertheorie Butlers in der theologischen Frauenforschung ihren Platz gefunden hat, ihre Arbeiten zur Anerkennungstheorie und Subjektphilosophie jedoch bislang kaum rezipiert werden. So würde sich die Religionspädagogik derzeit intensiv mit Identitätsfragen beschäftigen, dabei allerdings die damit notwendigerweise verbundenen Fragen von Ungleichheit und Macht ausklammern. Grümme verweist auf die Bedeutsamkeit der Butler‘schen Subjekttheorie einerseits und das Phänomen der Übersetzung andererseits, die Erkenntnismöglichkeiten beider seien noch lange nicht ausgeschöpft. So könne das emphatische Subjektverständnis der Religionspädagogik durch den Einbezug vorreflexiver, diskursiver Machtverhältnisse (und darauf sich stützender Anerkennungs- bzw. Ausgrenzungsmechanismen) erweitert werden und in der pädagogischen Praxis Momente kritischer Selbstreflexivität eröffnen. Auch Butlers Wissen darum, dass Übersetzung ein „Feld der Macht“ (S. 40) darstellt, könne den Religionsunterricht reflexiv bereichern: Zum einen würde dadurch der Unterricht als Ort diskursiver Übersetzungspraxis offenkundig, zum anderen könnten sich durch den Impuls der Unterbrechung (Überlieferung ist stets Übersetzung und somit Transformation) ungeahnte Perspektiven eröffnen. Grümme schließt mit der Hoffnung auf eine von Butler inspirierte „heterogenitätsfähige Religionspädagogik“ (S. 41).

Religiöse und nichtreligiöse Selbst- und Weltdeutung

Der Beitrag der Religionsphilosophin Saskia Wendel „Das gefährdete Leben und sein Hoffnungsversprechen auf Erlösung. Judith Butler religionsphilosophisch gelesen“ beschäftigt sich mit den Unterschieden religiöser und nichtreligiöser Selbst- und Weltdeutung in Bezug auf die Frage der Hoffnung bzw. der Erlösung. Wendel verweist im ersten Abschnitt des Artikels auf Judith Butlers Prägung „durch ihre jüdische Herkunft und dementsprechend jüdische Traditionen in Philosophie und Ethik“ (S. 219). Sie stehe demnach, gerade was die Theodizeefrage und das Gottesverständnis anbelangt, in der „Tradition einer Philosophie und Theologie ‚nach Auschwitz‘“ (S. 220). Im zweiten Abschnitt ihrer Ausführungen verweist die Autorin auf Butlers zentrales Motiv – auf den Gedanken der universalen Verwundbarkeit bzw. deren „Bestimmung des Daseins als ‚gefährdetes Leben‘ und als in seiner Verwundbarkeit von anderen abhängig“ (S. 223).

Körperlichkeit

In der sich daran anschließenden Auseinandersetzung mit dem Aspekt der Körperlichkeit lässt sich die bislang zumeist im englischsprachigen Wissenschaftsraum geführte Debatte um gelebte Religion (living religion) erahnen: Religion sei Praxis, Religion sei Vollzug, Religion entstehe durch Akte der Performanz (S. 224ff.). Im Folgenden differenziert Wendel den Subjektbegriff der Sozialwissenschaften von einem theologischen Subjektbegriff: einerseits das stets werdende und in Machtstrukturen eingewebte Selbst, andererseits „die Erste-Person-Perspektive und die damit verbundene Singularität, die ‚Jemeinigkeit‘ des Selbstvollzuges“ (S. 227). Im dritten und letzten Abschnitt ihrer Ausführungen plädiert die Autorin allerdings für die weitere Trennung religiöser und nichtreligiöser Deutungen, da religiöse Selbst- und Weltdeutungen einen „Bezug auf Unbedingtes“ (S. 231) hätten und damit einen „Glauben an ein Heilsversprechen“ (S. 233) teilten. Wendel meint dabei ein Heilsversprechen fern von Jenseitsvertröstung, fern von der teleologischen Vorstellung der Erlösung, und spricht stattdessen vom „performative[n] Akt der Unterbrechung“, vom „Hier und Jetzt“, der „Versammlung“ bzw. „pluralen Form von Performativität“ (S. 234). Die Unterscheidung in säkular und religiös spiele somit zwar auf der Ebene der Handlungsmotivation eine Rolle, nicht aber auf der politischen Handlungsebene, die sich in der „leibliche[n] Forderung nach lebenswerteren wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Bedingungen“ (S. 235) zum Ausdruck bringe. „Ist also das Hoffnungsversprechen auf Erlösung zwar ein spezifisch Religiöses, so sprengt die von Butler entworfene ‚Performativität der Versammlung der Körper‘ den Unterschied zwischen religiöser und nichtreligiöser Selbst- und Weltdeutung auf“ (S. 235).

Neujustierung der Religionswissenschaft

Wendels Argumentation ist an manchen Stellen schwer greifbar und kann (und soll wohl auch) nicht an einem synthetischen Punkt anlangen, sondern verbleibt notwendigerweise ringend und unabgeschlossen. Genau diese Momente veranschaulichen jedoch meines Erachtens die erkenntnisreichen Momente der Verunsicherung und des Umbruchs, die durch den Einbezug von Butlers Gedanken in theologisches Denken und somit durch das Neujustieren der Religionswissenschaft auf der Grundlage der praxeologischen Sicht auf Religion und Spiritualität erst ermöglicht werden. Deswegen sehe ich die Stärke des Buches gerade in diesen Zwischentönen, dort, wo sich Anschlussmöglichkeiten, Überschneidungen, neue Denkansätze finden.

Grümmes Artikel steht dagegen für ein strebsam-braves Herantasten der Theologie an die Komplexität des Butler‘schen Denkens. Dies zeigt sich auch in den zum Teil sehr spezialisierten Beiträgen aus den Liturgiewissenschaften oder dem Kirchenrecht. Grümme und einige andere Autor*innen scheinen eher mühsam nach Anschlussmöglichkeiten zu suchen, indem einzelne Theoriebestandteile referiert und übersetzt werden. Die Schwäche des Sammelbands ist folglich die wiederholende Darstellung und Deutung von (in den Sozialwissenschaften längst gängigen) Konzepten wie jenes der Subjektivierung, des Doing Gender und der Performativität. Da es jedoch erklärtes Anliegen des Bandes ist, sich Butlers Werk vonseiten der Theologie erstmals umfassend anzunähern, ist das wiederholte „Durcharbeiten“ der grundlegenden Begriffe, Konzepte und Theorien wohl unvermeidlich. Der Band setzt darum, und das ist wiederum ein Pluspunkt, kein umfängliches Wissen der Leser*innen über die im Zentrum stehende Philosophin und ihre Theorie voraus.

Bei dem Sammelband von Grümme und Werner handelt es sich folglich um das engagierte und unterstützenswerte Projekt, die (nicht nur) Gendertheoretikerin und Poststrukturalistin Judith Butler in die Debatten des breiten Faches der theologischen Wissenschaften zu integrieren.

Judith Butler und die Theologie: Herausforderung und Rezeption ist 2020 im Bielefelder transcript Verlag erschienen.

Literatur

Grümme, Bernhard & Werner, Gunda (Hrsg.). (2020). Judith Butler und die Theologie: Herausforderung und Rezeption. Bielefeld: transcript Verlag.

Zitation: Claudia Willms: Theologisches Neuland oder: der religiöse Horizont des Butler‘schen Denkens, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 16.08.2022, www.gender-blog.de/beitrag/judith-butler-und-die-theologie/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20220816

Beitrag (ohne Headergrafik) lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz Creative Commons Lizenzvertrag

© Headergrafik: Susanne Rottenbacher, Raumzeichnungen, DA, Kunsthaus Kloster Gravenhorst 2019/2020, © Uta C. Schmidt

Dr. Claudia Willms

Dr. phil., Kulturwissenschaftlerin und Soziologin, binationale Promotion an den Universitäten Frankfurt am Main und Basel; arbeitet derzeit an ihrer Habilitation zum Thema „Religiöser Antikapitalismus?“ Zuletzt erschienen: „Franz Oppenheimer (1864-1943): Liberaler Sozialist, Zionist, Utopist“ (Köln, Böhlau 2018); Forschungsschwerpunkte: Jugend- und Subkulturen, Auto/Biografik, selbstreflexive Gesellschaftskritik, „living religion“ und Praktiken des Antikapitalismus.

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