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Wenn „Die jüngste Tochter“ erzählt – ein autofiktionaler Roman von Fatima Daas

26. April 2022 Büşra Kahraman

Unter dem Pseudonym Fatima Daas erzählt die Autorin in ihrem Debütroman Die jüngste Tochter vom Leben der gleichnamigen Protagonistin. Als Ich-Erzählerin berichtet diese nicht chronologisch und nicht linear, sondern asynchron, fragmentarisch und unabgeschlossen von ihrer Familie, ihrer Schulzeit, ihren Liebesbeziehungen, ihrem Glauben. Die Kapitel beginnen mit einer Eingangsformel: „Ich heiße Fatima“ oder „Ich heiße Fatima Daas“. Diese vergewissernde Benennung ihrer selbst macht den Kern dieses Romans aus, denn ausgehend von der Namensnennung entwickelt Fatima in der Erzählung von Leben und Lieben zugleich die Suche nach ihrer Identität in einem von Zerrissenheit geprägten Leben.

Ein algerisch-französisches Aufwachsen

Die Protagonistin Fatima ist als jüngste Tochter in eine in Frankreich lebende Familie algerischer Herkunft hineingeboren. Sie ist nicht nur die jüngste, sondern auch die einzige Tochter, die nach der Umsiedlung nach Frankreich und nicht in Algerien geboren wurde. Wir erfahren, wie die Erzählerin ihre Familienmitglieder wahrnimmt. Dabei stellt sie nie eine vollständige Beschreibung oder Charakterisierung zur Verfügung, sondern lässt Lücken in den Geschichten über ihre Eltern und ihre Schwestern. Eines macht sie jedoch deutlich: Ihre Familie ist geprägt und bestimmt durch vorgeschriebene Rollenverhältnisse. Dabei kontrastiert sie insbesondere die „Mutterrolle“ mit der „Vaterrolle“. Die Mutter Kamar, die auf der Straße zu Boden blickt (S. 28), kennt ihre Wajeb, ihre Mutterrolle, und versucht, diese in erster Linie in ihrem „Reich“, in der Küche, zu erfüllen. Ihrem Mann Ahmed kann sie nichts entgegensetzen, auch dann nicht, wenn er seine Töchter schlägt. Ahmed ist der, der mit „erhobenem Kopf und geschwellter Brust“ (S. 28) auf der Straße läuft. Er ist derjenige, der sein Wajeb, seine Rolle, nicht erfüllt. Ihn möchte Fatima Abi, mein Vater, nennen, doch sie schafft es nicht immer.

Frage nach Zugehörigkeit und Fremdheit

In Fatimas Leben spielen Frauen eine zentrale Rolle, ihre Lehrerinnen, Ärztinnen, Psychologinnen und Freundinnen. Vater Ahmed ist einer der wenigen männlichen Figuren dieses Romans und zugleich eine prägende Person in Fatimas Leben. Er nennt sie Wlidi, mein kleiner Sohn, obwohl er sie Benti, meine Tochter, nennen sollte (S. 15). Fatima erzählt die Ambivalenzen in der Beziehung zum Vater, so auch davon, wie er ihr als Kind vorgesungen und ihr bis zu ihrer Pubertät Geschichten erzählt hat. Zugleich wirft sie ihm vor, „ein Monster“ (S. 59) zu sein, und redet nicht mehr mit ihm. Fatima selbst sucht nach einer Geschlechtszugehörigkeit, so, wenn sie erzählt, dass sie bereits in jungen Jahren mit dem Wunsch hadert, nicht Mädchen sein zu wollen und kein Junge zu sein.

Als sie zum ersten Mal menstruiert, wird ihr klar, dass sie ein Mädchen ist, und sie erinnert sich daran, wie sie darüber weint. Diese Divergenz versucht insbesondere die Mutter, wieder zusammenzuführen, indem sie alles tut, damit sich Fatima als Mädchen „wiederfindet“ und „erkennt“ (S. 124). Die Frage nach Zugehörigkeit und Fremdheit pointiert die Autorin über die Geschlechterordnung. Sie beschreibt sie zudem über Sprache und Kultur: Wenn Fatima ihre Familie in Algerien besucht, wird ihr Algerisch nicht verstanden und die Mutter wird gefragt, was die Tochter denn meine. Für Fatima tut sich erneut eine Uneindeutigkeit auf, sie will nicht, dass ihre Mutter als Vermittlerin zwischen ihrer Familie und ihr steht. Sie will nicht, dass sie sie ihnen übersetzt. Sie will keine Fremde sein.

Zwischen Überzeugung und Indoktrination

Auch die Religion ist ein Feld ihrer Identitätssuche und zugleich die Ursache für ihre Zerrissenheit. Ihre Einstellung zur Religion ist zum Teil diffus. Wenn sie sagt: „Ich bin arabisch, also Muslimin. Meine Mutter ist Muslimin. Mein Vater ist Muslim. Meine Schwestern Dounia und Hanane sind Muslime [sic]. Wir sind eine arabisch-muslimische Familie“ (S. 22), wirkt ihr Glaubensbekenntnis distanziert, wie eine Zuschreibung, Familiengeschichte, Herkunftsbezeichnung oder eine Ableitung. Nach ihrem ersten Kuss als Jugendliche mit einem Mädchen glaubt sie, eine Sünde begangen zu haben. So führt nicht nur ihre Geschlechtsidentität („Gott hat Mann und Frau geschaffen. Gott gefällt es nicht, wenn ein Mädchen wie ein Junge aussehen will“ (S. 84)) zu einem Konflikt mit ihrem Glauben, sondern auch ihr Begehren. In der Grundschule gibt sie vor, in einen Jungen verliebt zu sein. Sie glaubt, ein Doppelleben zu führen, da sie selbst als Erwachsene nicht mit ihrer besten Freundin offen über ihre Homosexualität sprechen kann. Ihre Sexualität hält sie geheim, sogar vor ihrer Familie, und versucht, durch homophobe Witze von jeglichem Verdacht abzulenken (S. 133). Entscheidend hierbei ist, dass Fatimas Mutter ihr sagt, dass Homosexuelle keine Muslime seien (S. 141). Durch diese Aussage befindet sich Fatima in einem Konflikt, der zwei Aspekte ihrer Identität betreffen: ihre Sexualität und ihren Glauben.

„Ich heiße Fatima“

Indem sie feststellt: „Fatima ist die jüngste Tochter des letzten Propheten, Mohammed“ (S. 13), öffnet sie den Vergleich zwischen sich und der Tochter des Propheten und lädt ihren Namen und sich selbst mit einer größtmöglichen religiösen wie kulturellen Bedeutung auf. Für ihre Sexualität scheint es in ihrer Religion keinen Ort zu geben. So sucht sie nach einer Lösung, einer Annäherung. Unter dem Vorwand, für eine Freundin zu fragen, hofft sie auf Rat in der Moschee. Ihr wird dort nicht geholfen, doch das Setting gibt der Autorin Gelegenheit, sehr persönliche und subjektive Gedanken Fatimas zum Islam zu exponieren: „Ich bin gern auf meinem Gebetsteppich, mit der Stirn am Boden, ich mag es, wie ich mich Gott ergeben verneige, Ihn anbete, mich winzig fühle angesichts Seiner Größe, Seiner Liebe, Seiner Allgegenwärtigkeit“ (S. 23). In dieser Krise, in der sie sich befindet, scheint die Religion, die gleichzeitig ein Auslöser des Konflikts ist, ein Rettungsanker zu sein. So führen die Zerrissenheit und der Kampf mit ihrem Glauben nicht zu einer Abkehr. Im Gegenteil gibt sie sich immer wieder dem Gebet hin und bekennt: „Ich schätze diesen Austausch mit Allah. Gott braucht es nicht, dass ich für Ihn bete. Ich bin diejenige, die es braucht“ (S. 42).

Die Suche nach Zuflucht, die Fatima trotz alledem in ihrem Glauben zu finden hofft, wird nicht nur inhaltlich vermittelt, sondern auch formal: In der Eingangsformel eines jeden Kapitels vergewissert sich die Ich-Erzählerin nicht nur ihrer selbst, sie erinnert auch an die Basmala vor den Suren des Korans. Diese wiederkehrende Formel gibt somit auch den Leser_innen Halt angesichts der nonlinearen Erzählweise.

Das Schreiben

Die Erzählung ist nicht linear aufgebaut und setzt sich aus Textfragmenten zusammen, die an Tagebucheintragungen erinnern. Den Leser_innen offenbart Fatima ausgewählte und verdichtete Szenen aus ihrem Leben, die ihre Suche nach Zugehörigkeit und den Prozess der Identitätsfindung forderten und in Gang setzten. In diesen zum Teil traumatischen Szenen lässt Fatima Daas die Leser_innen insbesondere die Kränkungen einer Heranwachsenden spüren. Sie erfährt in ihrer Familie und in der Gesellschaft, in der sie lebt, nicht nur Diskriminierung aufgrund ihrer Sexualität und ihrer Geschlechtsidentität. Hinzu kommen Sprachbarrieren, Glaubensunterschiede und Alltagsrassismen, die typische Erfahrungen migrantisch gelesener Menschen sein können.

In die primäre Identitätssuche reihen sich vor allem Erlebnisse ein, die Fatima geprägt und erst in eine Identitätskrise hineingezogen haben. So wird ihr, einer migrantisch gelesenen Person, einer Vorstädterin, in Paris an der École normale supérieure die Eigenständigkeit ihres Textes abgesprochen. Fatima erfährt so, welchen Platz der Lehrer ihr in der Gesellschaft mit diesem Akt zuschreibt, und sie analysiert diese Erfahrung wie folgt: „dass die anderen Schüler, die drinnen im Warmen sitzen, nichts beweisen, darlegen, rechtfertigen müssen. Keiner von ihnen muss zehn Minuten lang im T-Shirt in der Kälte stehen, um zu beweisen, dass er eine Eins verdient hat“ (S. 77). Auch wird der Bildungskanon kritisiert, da immer noch nur Texte gelesen werden, „die ausschließlich von weißen heterosexuellen Cis-Männern geschrieben wurden“ (S. 75).

Eine Suche, die nicht aufgegeben wird

Diskriminierende Erfahrungen bringen Fatima zum Schreiben, zur Reflexion, zur Selbstautorisierung. So kreiert die Autorin eine Art poétesse maudite des 21. Jahrhunderts: Aufgrund verschiedener Faktoren an den Rand der Gesellschaft gedrängt, lebt sie in und durch ihre Literatur weiter. Vor diesem Hintergrund bekommt das Ende des Romans eine besondere Bedeutung im Sinne einer mise en abyme: Die Figur Fatima erzählt ihrer Mutter von dem Thema ihres Romans und fasst so auch das Kernthema von Die jüngste Tochter zusammen:

„Er erzählt die Geschichte eines Mädchens, das kein richtiges Mädchen ist, das weder algerisch noch französisch ist, weder Vorstädterin noch Pariserin, eine Muslimin, glaube ich, aber keine gute Muslimin, eine Lesbe mit anerzogener Homophobie“ (S. 190).

Fatima ist auf der Suche nach etwas – nach einer Identität, die nicht einfach zu greifen ist, vor allem dann nicht, wenn sie auf unterschiedlichen Ebenen gegen vorherrschende Normen verstößt –, gibt ihre Suche aber nicht auf und begründet sie folgendermaßen: „Ich suche Stabilität. Denn es ist schwer, immer abseits zu sein, abseits der anderen, nie bei ihnen, abseits des Lebens, immer daneben“ (S. 151).

Die jüngste Tochter von Fatima Daas in der Übersetzung von Sina de Malafosse ist 2021 bei Claassen erschienen.

Zitation: Büşra Kahraman: Wenn „Die jüngste Tochter“ erzählt – ein autofiktionaler Roman von Fatima Daas, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 26.04.2022, www.gender-blog.de/beitrag/juengste-tochter-roman-fatima-daas/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20220426

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Büşra Kahraman

Büşra Kahraman ist wissenschaftliche Hilfskraft in der Koordinations- und Forschungsstelle des Netzwerks Frauen- und Geschlechterforschung NRW. Sie studiert Germanistik und Französisch an der Universität Duisburg-Essen und ist Absolventin des Bachelorstudiengangs Angewandte Kognitions- und Medienwissenschaften.

 

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