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Debatte

Die Kategorie ‚Frau‘ ist noch lange nicht erschöpft

29. März 2022 Sandra Beaufaÿs

Was bedeutet es eigentlich, wenn ich es anderen immer recht machen möchte, den kompletten Alltag meiner Familie organisiere, dabei gleichzeitig sexuell attraktiv und möglichst auch ökonomisch unabhängig sein sollte, allerdings trotz mehr Arbeit weniger Geld verdiene und meine Arbeit auch noch entwertet ist? Ganz einfach: Es bedeutet vermutlich, dass ich als ‚Frau‘ in dieser Gesellschaft lebe.

Diesen multiplen Missstand bringt Franziska Schutzbach in ihrem Buch Die Erschöpfung der Frauen als These auf den Punkt. Es geht ihr dabei nicht um die individuelle Erschöpfung von Frauen, sondern darum, „dass die Erschöpfung Kern eines destruktiven ökonomischen Systems ist, das Sorge und Beziehungen zur ausbeutbaren Ressource degradiert hat“ (S. 270). Damit schließt das Buch auch an die Debatte um Care-Ökonomie an (vgl. bspw. Winker 2015, 2021).

Diagnose „Erschöpfung“

Soziologische Gesellschaftsdiagnosen sind dafür bekannt und berüchtigt, anhand eines möglichst griffigen Prinzips (Risiko, Beschleunigung, Singularitäten etc.) die gesamten Leiden und Wehen unseres gegenwärtigen Zustands zusammen zu zurren. „Erschöpfung“ als Phänomen ist dabei nicht neu (vgl. Ehrenberg 2004), auf Geschlechterverhältnisse wird in den üblichen Diagnosen jedoch nicht eingegangen, auch Kapitalismuskritik war bis vor Kurzem völlig out.

An Franziska Schutzbachs vorgelegter Diagnose lässt sich dagegen ablesen, wie feministische Theorie, Geschlechterforschung, Post Colonial Studies, Kapitalismuskritik und das wieder erwachte ökologische Bewusstsein einer neuen Generation inzwischen zu einem aktivistischen Ganzen verschmolzen sind. Bevölkerungsgruppen, die von der patriarchalen Dividende allenfalls sekundär profitieren, werden dabei als eine Kategorie verstanden: FINTA, wie sie auch die Autorin an einigen Stellen benennt und mit „Frauen, non-binäre, trans und agender Menschen“ (S. 16) übersetzt, und alle, die aus welchem Grund auch immer in die ‚Frauenecke‘ gestellt wurden oder zufällig dort hineingeraten sind (z.B. im Pflege- und Dienstleistungssektor), werden von Schutzbach als die erschöpfte menschliche Ressource im Kapitalismus beschrieben. Und sie werden gleichzeitig als das entscheidende politische Subjekt benannt, das Revolution machen wird.

Strukturelle Grundlagen der Erschöpfung

Die These der Erschöpfung wird gründlich durchbuchstabiert: Sexuelle Verfügbarkeit (Kap. 1), systematische menschliche Entwertung (Kap. 2), Frauenhass (Kap. 3), Body Shaming (Kap. 4), Mutterschaft und Kleinfamilie (Kap. 5), emotionale und mentale Verausgabung sowohl im Beruf (Kap. 6) als auch in der Familie und in sonstigen Beziehungen (Kap. 7) – die Liste der Zumutungen ist lang. Das Problem daran – und dies benennt auch Schutzbach – ist die strukturelle und damit völlig selbstverständlich gewordene Grundlage dieses Ausbeutungsverhältnisses: eine Geschlechterordnung, die alle, die sich der damit verbundenen Anrufung beugen, zu willigen Erfüllungsgehilf*innen macht. Was mit denen passiert, die sich dagegen wehren, macht Schutzbach ebenfalls klar: „Wann immer Frauenbewegungen stark sind, entwickeln sich organisierte Gegenbewegungen“ (S. 114). Aber kommen wir zunächst zu den strukturellen Ursachen der Erschöpfung.

(Selbst-)Wahrnehmung und ihre Verunsicherung

„Wenn Frauen ihren eigenen Interessen und Gefühlsregungen folgen, verheißt das nichts Gutes – weder für sie selbst noch für die Welt“ (S. 43). Die alte männliche Angst, die weibliche Verfügbarkeit könnte ein Ende haben und die eigene Abhängigkeit und Bedürftigkeit könnte sichtbar werden, lässt sich nicht nur aus antiken Texten ablesen. Es gibt daher eine vermutlich seit Jahrtausenden wirksame Waffe gegen die weibliche Selbstbestimmtheit: Verunsicherung des Selbstgefühls. Schutzbachs erste These lautet, „dass weibliche Erschöpfung zu einem nicht geringen Anteil durch […] Wahrnehmungsunsicherheiten entsteht“ (S. 46).

Wie die Selbstwahrnehmung von Frauen systematisch verunsichert wird, zeigt die Autorin am Beispiel sexualisierter Objektivierung. Denn „unabhängig von konkreten Belästigungserlebnissen oder Gewalt bekommen Frauen bis heute kontinuierlich vermittelt, weniger respektiert, weniger ernst genommen, weniger anerkannt und häufiger objektiviert zu werden“ (S. 55). Der öffentliche Raum, inklusive Internet, ist dabei ein Ort der Erschöpfung – allerdings auch des Widerstands.

Menschheitsgeschichte als Männergeschichte

Eine weitere These wird im zweiten Kapitel „Zu den Ursachen des schlechten Selbstvertrauens“ ausgerollt. So stellt die Autorin fest, „der historische Ausschluss der Frauen (und anderer) aus den modernen Konzepten des Subjekts [sei] zentral für das Thema der Erschöpfung“ (S. 74), da dieser Ausschluss dazu führe, immer aufs Neue beweisen zu müssen, dass auch Frauen Relevantes beizutragen und Anerkennung dafür verdient haben. Die Geschichte der Menschheit werde noch immer überwiegend als Männergeschichte erzählt: „Frauen werden abgetrennt von der Geschichte und damit auch von ihrem ‚Wert‘ und ihrem Beitrag zur Welt“ (S. 75). Deshalb sei es für Frauen auch in der aktuellen Gegenwart schwieriger, ein Gefühl von Geltung und Selbstwert zu entwickeln. Zudem bringe die Geschichtsvergessenheit mit sich, „dass jede Generation von Frauen immer wieder ähnliche Schritte gehen muss, die andere vor ihnen bereits gegangen sind“ (S. 90).

Aber nicht nur die Geschichtswissenschaft, auch die Philosophie sei dafür verantwortlich, dass Frauen der Subjektstatus abgesprochen wurde. Hier schafft die Autorin (nicht das einzige Mal) einen Link zu Kolonialismus und Rassismus und insbesondere zu deren Verknüpfung mit „Frauenfeindlichkeit im Zeitalter der Aufklärung“ (S. 78; vgl. dazu auch Kerner 2021 und Hartmann 2021): „Das souveräne Subjekt verstand sich als souverän und rational, indem es eine hierarchische Grenze zu Frauen, ‚Wilden‘, ‚Primitiven‘, ‚Afrikanern‘ usw. zog“ (S. 79). 

Die radikale Pausenlosigkeit der Mutterschaft

Das Potenzial eines weiblichen Körpers, zu gebären – oder aber auch Kinder zu verweigern, ist, ähnlich wie die Macht der sexuellen Verweigerung, ein Grund, ihn gesellschaftlich zu disziplinieren. Hierin liege allerdings auch seine emanzipatorische Kraft, so Schutzbach: „Ob feministische, antirassistische, queere, trans oder Behindertenbewegungen: Die aktuellen Kämpfe gehen vom Körper […] aus“ (S. 165).

Mutterschaft wird aber auch als Praxis thematisiert, die neues Erschöpfungspotenzial bereithält. Hier geht die Autorin so weit zu verdeutlichen, dass „die unmittelbare elterliche Notwendigkeit, Dinge tun zu müssen, weil sonst ein anderer Mensch stirbt oder etwas grundlegend nicht mehr funktioniert“ (S. 169), als Anforderung an Eltern von Kleinstkindern unmittelbar im Raum steht, sobald diese geboren sind. Die Radikalität von Elternschaft in ihrer Irreversibilität und „Pausenlosigkeit“ (Kap. 5) wird in unserer Gesellschaft noch immer gerne allein Frauen, wenn nicht überhaupt der romantisierten und idealisierten Mutter übertragen.

Gleichzeitig, so schreibt Schutzbach schonungslos, wird die damit zusammenhängende Arbeit als entwerteter ‚Gratisdienst‘ verstanden und Mütter werden damit oft allein gelassen. Eine Mutter, die ihre Kinder zurücklässt, verliere dagegen „ihren Status als Mensch“ (S. 180). Leider merkt die Autorin an dieser Stelle nicht an, dass gerade diese Aussage Stereotype reproduzieren kann. Auch die Anforderung, dass es „kein Scheitern geben“ (S. 181) darf, wird nicht mit dem Verweis versehen, dass Scheitern unumgänglich ist.

Ungleiche Verteilung und Bewertung von Arbeit

An der Frage der ungleichen Verteilung und Bewertung von (Sorge-)Arbeit wird sehr deutlich, worin Schutzbachs Mission insbesondere besteht, und der politische Gehalt ihrer Einlassung wird von ihr auch am besten vermittelt, wenn sie sich mit dieser Frage tiefer beschäftigt. Mit wenigen Zahlen belegt die Autorin, dass der größte Teil der anfallenden Arbeit auf diesem Planeten von Frauen verrichtet wird (S. 274), während ihre Arbeit größtenteils entwertet und unbezahlt ist, obgleich die herrschende Marktökonomie darauf aufbaut: „Die Erschöpfung der Frauen ist die Basis unserer Wirtschaft“ (S. 272, Hervorheb. im Original). Der wirklich gelungene Ausblick des Buchs führt auf die Sprengkraft zu, die sich in dem verbirgt, was als „Care-Revolution“ bezeichnet wird: Was, wenn die bislang unbezahlten ‚Liebesdienste‘ plötzlich verweigert würden oder bezahlt werden müssten?

Die Autorin schlägt vor, „Beziehungshandeln ins Zentrum“ (S. 275) der Ökonomie zu stellen. Dazu gehöre auch, Care-Arbeit zu entfeminisieren bzw. „Sorgearbeit als gesellschaftliche Praxis und Aufgabe zu verstehen und nicht als etwas, das sich […] von selbst erledigt“ (S. 175 f.). Die Erschöpfung der Ressource Frau sei eben kein Frauenthema, sondern inzwischen eine Überlebensfrage, denn eine ausbeutende Ökonomie sei unweigerlich eine Ökonomie zum Tode. Schutzbachs recht eindringlich zusammengefasste aktuelle Expertise feministischer Theorie und Forschung zu diesem Thema zeigt, dass die Erkenntniskategorie ‚Frau‘ noch lange nicht erschöpft ist, auch wenn sie sich inzwischen erweitert hat.

Die Erschöpfung der Frauen. Wider die weibliche Verfügbarkeit von Franziska Schutzbach ist 2021 bei Droemer erschienen.

Literatur

Ehrenberg, Alain (2004). Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt/Main: Campus.

Hartmann, Tina (2021). Identitätspolitik contra Aufklärung. Ein Missverständnis, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 04.05.2021. Zugriff am 10.02.2022 unter www.gender-blog.de/beitrag/identitaetspolitik-contra-aufklaerung-missverstaendnis. https://doi.org/10.17185/gender/20210504

Kerner, Ina (2021). (K)eine Apologie des Universalismus, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 14.12.2021. Zugriff am 10.02.2022 unter www.gender-blog.de/beitrag/keine-apologie-universalismus. https://doi.org/10.17185/gender/20211214

Schutzbach, Franziska (2021). Die Erschöpfung der Frauen. Wider die weibliche Verfügbarkeit. München: Droemer.

Winker, Gabriele (2015). Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft. Bielefeld: transcript. https://doi.org/10.1515/transcript.9783839430408

Winker, Gabriele (2021). Solidarische Care-Ökonomie. Revolutionäre Realpolitik für Care und Klima. Bielefeld: transcript. https://doi.org/10.1515/9783839454633

Zitation: Sandra Beaufaÿs: Die Kategorie ‚Frau‘ ist noch lange nicht erschöpft, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 29.03.2022, www.gender-blog.de/beitrag/kategorie-frau-nicht-erschoepft/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20220329

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Dr. Sandra Beaufaÿs

Sandra Beaufaÿs ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Koordinations- und Forschungsstelle des Netzwerks Frauen- und Geschlechterforschung NRW an der Universität Duisburg-Essen. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Wissenstransfer sowie bei den Themen Geschlechterverhältnisse in Wissenschaft, Professionen und Arbeitsorganisationen.

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