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Interview

Von Khartum nach Kamen: Stella Gaitano schreibt für die Menschenrechte

10. Dezember 2024 Stella Gaitano Rita Schäfer

Im Sudan zerstört ein Krieg derzeit die Lebensgrundlagen zahlloser Bürger*innen, auch im Südsudan eskalieren Machtkonflikte immer wieder gewaltsam. Die damit verbundenen Menschenrechtsverbrechen werden in Deutschland kaum wahrgenommen. Umso wichtiger sind die Stimmen von Autor*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen wie Stella Gaitano, die seit 2022 in Nordrhein-Westfalen im Exil lebt. Rita Schäfer sprach mit der Autorin im Rahmen eines Austauschs über Frauen- und Menschenrechte.

Bitte erläutern Sie Länderspezifika, die für Ihr Schreiben und Ihr Leben wichtig sind.

Bis zum Jahr 2011 war der Sudan der größte Flächenstaat auf dem afrikanischen Kontinent. Prägend ist die landschaftliche Vielfalt: Wüstenregionen der Sahara, Savannengebiete und tropischer Regenwald. Hinzu kommt die gesellschaftliche, kulturelle und religiöse Vielfalt. Es gibt über 120 verschiedene Sprachen; offizielle Nationalsprache im Sudan ist Arabisch und im Südsudan Englisch, dort kommen mindestens 64 Lokalsprachen hinzu. Der Sudan wurde von den Briten kolonisiert und erhielt 1956 seine politische Unabhängigkeit. Der Südsudan wurde 2011 ein eigenständiger Staat.
Viele Probleme, die zu gewaltsamen Konflikten führten, haben koloniale Ursachen. Denn die Briten konnten nicht mit der Vielfalt umgehen. Nach der politischen Unabhängigkeit wurde die afrikanische Bevölkerung mit traditioneller oder christlicher Religion von der islamischen und arabischen Zentralregierung in Khartum benachteiligt. Die Spannungen eskalierten und führten zu einem Bürgerkrieg zwischen 1983 und 2005. Weitere Konflikte führten zur Abtrennung des Südsudan sowie dortigen gewaltsamen Eskalationen, u.a. aufgrund von Machtmissbrauch, Korruption und ethnischer Differenzen. Das alles griff unsere Koexistenz als Sudanes*innen und Südsudanes*innen an.

Wie beeinflussen diese Konflikte Ihr Schreiben und Ihre Menschenrechtsarbeit?

Meine Familie kommt aus dem Südsudan, sie floh wegen der Gewalt in den Norden. Ich wurde in Khartum geboren und ging dort zur Schule. Wie zahllose südsudanesische Familien sollten wir 2011 ganz plötzlich den Sudan verlassen. Diese Deportationen verursachten viele Probleme, auf die alle Betroffenen neue Antworten finden mussten. Das habe ich literarisch verarbeitet. Ich verstehe meine Kurzgeschichten und Romane als Beiträge, um ein Bewusstsein über Unrecht, Diskriminierung und Menschenrechte zu schaffen. Obwohl ich nicht über die Machthaber schreibe, sondern über gewöhnliche Menschen, die mehrheitlich keine Stimme haben, nahm die Regierung im Sudan das als zu kritisch wahr. Gleichzeitig warf mir die Regierung im Südsudan vor, ich würde nicht die Unabhängigkeit unterstützen. Dennoch sehe ich es als meine Aufgabe an, das Leiden vor allem der Vertriebenen aufzuzeigen und am Wandel, also an Verbesserungen, mitzuwirken.

Sie haben Büchereien in peripheren Krisenregionen des Sudan aufgebaut. Was hat Sie dazu motiviert?

Wie andere, die im Kulturbereich tätig waren, wollte ich an Einstellungsveränderungen junger Leute mitarbeiten. Viele waren traumatisiert und hatten nur Gewalt als Mittel der Problemlösung erlebt. Deshalb waren Bücher so wichtig, um andere Formen der Konfliktbewältigung kennenzulernen. Etliche tausend Bücher sammelte ich auf Spendenbasis und schickte sie in Kleinstädte in Kriegsregionen, wie Darfur. Die dortige Bevölkerung entschied selbst, wo eine Bücherei eingerichtet werden sollte, etwa in einer Schule oder in einem Jugendzentrum. Ich schlug vor, Frauen in die Selbstverwaltung einzubeziehen. Sie organisierten den Buchverleih und motivierten andere Frauen zum Lesen oder zur Teilnahme an Alphabetisierungsprogrammen. Mütter förderten ihre Kinder und schickten sie zu Lesekursen.

Was bedeutet die Förderung von Frauen für Sie?

Frauen sind wichtige Geschichtenerzählerinnen. Im Zusammenhang mit den Büchereien veranstaltete ich Kurse im kreativen Schreiben. Wegen der Geschlechterhierarchien kamen dazu mancherorts vor allem Männer, obwohl ihre Schwestern viel kreativer waren. Wir sprachen dann darüber, wie sie als Brüder deren Talente unterstützen und gemeinsam an den Workshops teilnehmen konnten. Es ging also nicht nur um das Schreiben, sondern darum, über lokale Probleme und Einstellungsveränderungen nachzudenken. Meine Vision war, die Lesenden über ihre Menschenrechte zu informieren. Das gefiel den Machthabern gar nicht.

Wie haben Sie das zu spüren bekommen?

Bereits während meiner Schulzeit, als ich in einem Copyshop mitarbeitete, um etwas Geld für mein späteres Studium zu verdienen, wurde ich von staatlichen Sicherheitskräften grundlos beschuldigt, kommunistische Propaganda zu verbreiten und südsudanesische Rebellen zu unterstützen. Durch diese Erfahrung begann ich, Widerstand zu leisten. Meine Mitarbeit in Studierendengruppen und in der regimekritischen Vereinigung sudanesischer Autorinnen gab mir Kraft. Doch im Laufe der Jahre wurde ich immer mehr bedroht und meine Situation wurde gefährlicher. 2016, als ich am Literaturfestival in Berlin mitwirken sollte, wurde ich am Flughafen im Sudan festgenommen. Andere sudanesische Schriftsteller, die schon im Exil waren, setzten sich für mich ein, dass ich am PEN Writers in Exile-Programme teilnehmen konnte. So kam ich nach Nordrhein-Westfalen.

Anlässlich des Weltmenschenrechtstags 2023 waren Sie Gast der Landesregierung in Düsseldorf. Worum ging es denn?

Die Landesregierung Nordrhein-Westfalen hat mich und einige andere Schriftsteller aus dem Iran und Irak während der Woche der Menschenrechte im Dezember 2023 nach Düsseldorf eingeladen, um über die Menschenrechtssituation in unseren Ländern zu sprechen. Wir betonten die Wichtigkeit der internationalen Menschenrechte und erläuterten die Menschenrechtsverbrechen in diktatorischen und korrupten Regimen. Wir sind hier nun Flüchtlinge; die Regierenden können die Migrationspolitik verbessern, wenn sie uns zuhören, denn wir analysieren die Situation in unseren Ländern sehr genau. Niemand flieht freiwillig aus seinem Heimatland. Doch es sind die Gewalt, die Korruption und die mangelnde Sicherheit, die Menschen zur Flucht zwingen. Die Regierungsvertreter*innen hörten uns zu, aber wir wissen nicht, was sie mit unseren Informationen machen. Die meisten Schriftsteller*innen sind gleichzeitig Aktivist*innen; beides ist ihnen wichtig, deshalb werden sie verfolgt. Auch Journalist*innen sammeln viele Informationen und Belege über schwere Menschenrechtsverstöße; das ist gefährlich, dennoch gibt es keine Gerechtigkeit.

Während der diesjährigen internationalen Buchmesse in Frankfurt am Main organisierten die Vereinten Nationen (UN) das Panel „Geschichten erzählen ist ein Menschenrecht“. Was bedeutete der Austausch mit Autoren aus diktatorischen Regimen für Sie?

Das war für mich die wichtigste Diskussion in Frankfurt, denn viele Schriftsteller*innen thematisierten Menschenrechtsverbrechen. Wir sind sehr besorgt über die weltweiten Entwicklungen, etwa in Russland, Armenien und in China. Ich wählte einen Text aus meinen Kurzgeschichtensammlungen, „Hurra, ich bin tot“, und bezog ihn auf den Menschenrechtsartikel 3 zum Recht auf Leben. Die anderen Autoren lasen zu ähnlichen Themen; uns verbindet die Überzeugung, dass Geschichtenerzählen wichtig ist für die Wahrheit. Und die UN spielt eine entscheidende Rolle, wenn die eigenen Regierungen angesichts schwerer Menschenrechtsverstöße und Genozide versagen. Dann muss die UN gegen die Gräueltaten vorgehen.

Sie schreiben auf Arabisch. Haben Sie sich bewusst dafür entschieden?

Das war keine freiwillige Entscheidung, denn ich wurde im Sudan geboren und dort ist Arabisch die offizielle Sprache. Menschen im Sudan wissen aber wenig über den Südsudan, über dortige Probleme und Perspektiven der Schriftsteller. Frühere Generationen südsudanesischer Autoren schrieben auf Englisch, das war im Sudan kaum verbreitet. Das Schreiben auf Arabisch baut solche Barrieren ab.

Warum wählen sie Protagonistinnen in ihren Kurzgeschichten und Romanen?

Ich schreibe über weibliche Figuren, die keineswegs nur Opfer von Vergewaltigungen in Kriegen sind, sondern auch Überlebende. Sie kämpfen ums Überleben und sorgen in harten Zeiten für ihre Familien. Frauen waren in bewaffneten revolutionären Bewegungen und auch in der demokratischen Revolution ab Dezember 2018 ganz wichtige Aktivistinnen. Sie wurden mächtig. Viele ergeben sich nicht der häuslichen Gewalt oder einer zugewiesenen Opferrolle. Und etliche akzeptieren nicht mehr die Zwangsverheiratung nach Kriegen – als eine traditionelle Form der Versöhnung, weil beispielsweise einer ihrer Brüder jemanden aus einer anderen Familie getötet hat. Auch bei den Vertreibungen aus dem Sudan in den Südsudan leisteten Frauen Widerstand. Manchmal schreibe ich über Männer als Opfer, über Zwangsrekrutierte in der Armee und über allgemein menschliche Fragen und Probleme. Darüber denke ich als Feministin nach, denn mir geht es um Gerechtigkeit und Menschlichkeit.

Literatur

Glawion, Tim: Südsudan, Dossier, Kriege und Konflikte, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, 25.09.2024. https://www.bpb.de/themen/kriege-konflikte/dossier-kriege-konflikte/228561/suedsudan/ (letzter Zugriff: 26.11.2024).

Khalaf Allah, Sarnah and Doleeb, Afaf: Sudan's turmoil: Revolution, power struggles, and the quest for stability, CMI Blog Post, 2023 https://www.cmi.no/publications/8772-sudans-turmoil-revolution-power-struggles-and-the-quest-for-stability (letzter Zugriff 26.11.2024).

Kurtz, Gerrit: Machtbeziehungen in Sudan nach dem Fall Bashirs, SWP Studie, S10/2024, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin, 20.03.2024. https://www.swp-berlin.org/10.18449/2024S10/ (letzter Zugriff: 26.11.2024).

Öhm, Manfred: Sudan, Dossier, Kriege und Konflikte, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, 12.11.2024. https://www.bpb.de/themen/kriege-konflikte/dossier-kriege-konflikte/54699/sudan/ (letzter Zugriff: 26.11.2024).

Prunier, Gérard: Sudan, vom Krieg zerrissen, in: Le Monde Diplomatique, 07.03.2024. https://monde-diplomatique.de/artikel/!5987031 (letzter Zugriff: 26.11.2024).

Tønnessen, Liv: Sudanese women's revolution for freedom, dignity and justice continues, CMI Blog Post, 2020 https://www.cmi.no/publications/7355-sudanese-womens-revolution-for-freedom-dignity-and-justice-continues (letzter Zugriff 26.11.2024).

Wegerhoff, Cornelia: Kämpfen? Lesen!, in: Amnesty Journal, 30.06.2023. https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-journal/sudan-bildung-meinungsfreiheit-autorin-aktivistin-stella-gaitano-make-a-difference-kaempfen-lesen (letzter Zugriff: 26.11.2024).

Wegerhoff, Cornelia: Wärme im Elend, in: Amnesty Journal, 11.10.2024. https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-journal/sudan-suedsudan-stella-gaitano-buch-endlose-tage-am-point-zero-waerme-im-elend (letzter Zugriff: 26.11.2024).

Weitere Literatur:

Qualey, Marcia Lynx: Kurzgeschichten von Stella Gaitano, Kartographie einer verborgenen Welt, in: Quatara, 09.11.2018 https://qantara.de/artikel/kurzgeschichten-withered-flowers-von-stella-gitano-kartographie-einer-verborgenen-welt (letzter Zugriff: 26.11.2024).

Qualey, Marcia Lynx: Patt zwischen Leben und Tod, in: Quatara, 07.02.2024. https://qantara.de/artikel/literatur-aus-dem-sudan-ein-patt-zwischen-leben-und-tod (letzter Zugriff: 26.11.2024).

Hartl, Sonja: Die Regierung fand, ich wollte nur Ärger machen, aktuelle Literatur aus dem Sudan, Reportage, in: SWR Kultur, lesenswert Magazin, SWR 12.05.2024. https://www.swr.de/swrkultur/literatur/neue-literatur-aus-dem-sudan-100.html (letzter Zugriff: 26.11.2024).

Zitation: Stella Gaitano im Interview mit Rita Schäfer: Von Khartum nach Kamen: Stella Gaitano schreibt für die Menschenrechte, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 10.12.2024, www.gender-blog.de/beitrag/khartum-kamen-stella-gaitano/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20241210

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Stella Gaitano

Stella Gaitano wurde 1979 in Khartum geboren, sie studierte Pharmazie (BA 2006) und Public Health (MA 2018) im Sudan. Seit Juli 2022 lebt sie als Stipendiatin des PEN Writers-in-Exile-Programmes in Nordrhein-Westfalen. Zu ihren mit Literaturpreisen ausgezeichneten Werken zählen "Withered Flowers" (2004), "The Return" (2015) und "Edo’s Souls" (2018). Auf Deutsch erschien "Endlose Tage am Point Zero" (2024).

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Dr. Rita Schäfer

Rita Schäfer ist freiberufliche Afrika-Wissenschaftlerin, Dozentin und Gutachterin für Entwicklungsorganisationen. Ihr regionaler Schwerpunkt ist das südliche Afrika. Sie forscht über Frauenrechtsorganisationen, geschlechtsspezifische Gewalt, Maskulinitäten in Post-Konfliktgesellschaften und LSBTIQ. Buchpublikation u. a.: Migration und Neuanfang in Südafrika (2019). Webprojekt: gender-africa.org

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