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Macht

Koloniale Kontinuitäten in feministischen Diskursen

28. Oktober 2022 Silvia Nwadiuto Chike

Die Exklusion bestimmter Feminismen und die Ignoranz gegenüber der Komplexität von Diskriminierungserfahrungen sorgt für Kritik am sog. Weißen Feminismus. Schon von den feministischen Errungenschaften des 19. und 20. Jahrhunderts profitierten nicht alle Frauen gleichermaßen. Auch heute werden nicht alle Frauen gleichermaßen gehört, während bestimmte Emanzipationskonzepte verabsolutiert und romantisiert werden. Die Hierarchie der Feminismen ist oft nicht zufällig, sondern folgt einer rassistischen Exklusionslogik. Dabei böten Vielfältigkeit und Inklusion die Chance, humanistische und feministische Grundwerte ernst zu nehmen.

Befreiung der Frauen, Versklavung der Frauen

Ein Zeitzeugnis der ungleichen Stellung Schwarzer und Weißer Frauen in der sog. Ersten Welle des Feminismus ist die berühmte Rede „Ain’t I A woman“. Im Jahre 1851 hielt die ehemals versklavte Abolitionistin und Feministin Sojourner Truth diese Rede auf einer Frauenrechtskonvention in Ohio. Truth spricht von der Erfahrung, dass Schwarze Frauen in Diskurse über Frauen nicht mit einbezogen werden. Sie umschreibt die sexistischen viktorianischen Weiblichkeitsideale der „true womanhood“, welche Frauen als delikat und hilfsbedürftig darstellten, dabei aber nicht für Schwarze Frauen galten (vgl. Truth 2019: 15). Als Schwarze Frau berichtet sie von ihrer Versklavung und Misshandlung, den harten körperlichen Arbeiten und dass sie ihrer Mutterrolle beraubt wurde, indem die meisten ihrer dreizehn Kinder in die Sklaverei verkauft wurden. Aus Sojourner Truths Perspektive wurde der gesellschaftliche Diskurs um Frauenrechte aber primär für Weiße Frauen geführt. Daran anknüpfend stellte sie die zentrale Frage: „Ain’t I a woman?“ (dt.: „Bin ich etwa keine Frau?“).

Unreflektierte diskriminierende Praktiken

Bis heute mangelt es oft genug an Differenziertheit im Umgang mit emanzipatorischer Geschichte und deren Idealen. Laut Denise Bergold-Caldwell adressiere etwa der Liberalismus zwar die Freiheit des Individuums, richte aber zeitgleich einen Dominanzvertrag ein, an dessen unterster Stelle Schwarze Frauen und Frauen of Colour stünden (Bergold-Caldwell 2020: 133f.). Der US-amerikanische Philosophieprofessor Charles W. Wills schrieb, dass der aufklärerische Liberalismus nicht nur komplizenhaft diskriminierende Praktiken aus der Vergangenheit, etwa bezogen auf Gender, weitergeführt, sondern zudem eine aktive Rolle bei der Installierung neuer Regime imperialer rassistischer Herrschaft eingenommen habe (Mills, 2017: xiii). Obwohl Weiße Feministinnen mit Weißen abolitionistischen Organisationen verknüpft gewesen seien, haben Personen der ersten Frauenbewegung gleichzeitig in den Kolonien Rollen der Haushaltsvorsteherinnen eingenommen und hielten dort Schwarze Menschen als Sklavinnen und Sklaven (Bergold-Caldwell 2020: 144). Auch Mitglieder des Bundes Deutscher Frauenvereine (BDF) reproduzierten die Überzeugungen Weißer Vorherrschaft. Im Jahr 1911 wurde der (nicht feministische) Frauenbund der Deutschen Kolonialgesellschaft (FDKG) Mitglied im BDF. Mitgründerin und Ehrenvorsitzende des FDKG Adda Freifrau von Liliencron war aktiver Part kolonialer Unterdrückung und schrieb in der Zeitschrift Kolonie und Heimat: „Die deutsche Frau ist das beste Vermittlungsglied zwischen den Eingeborenen und der weissen Rasse, ihr Wort und ihr Einfluss findet leichteren Eingang bei ihnen, weil sie meistens zu der weissen Frau wie zu einer Art höheren Wesen aufsehen und sich daher williger von ihr leiten lassen.“ (Walgenbach, 2005: 125 f.).

Koloniale Kontinuität: Der Überlegenheitsgedanke

Werden nationale Geschichte und deren internationalen gesellschaftlichen Konsequenzen nicht mehrperspektivisch reflektiert, wird ein eurozentrisches Weltbild gefördert. Die Handlungsfähigkeit rassifizierter Menschen wird ignoriert und der Abbau kolonial-rassistischer Denkmuster wird verhindert. Entsprechende Geisteshaltungen haben heute eine moderne Form. Der Begriff „White Saviorism“ (dt.: „Weißer Rettungskomplex“) kritisiert insbesondere missionarische Projekte. Ein plakatives Beispiel hierfür ist der Fall Renee Bach, in welchem eine unqualifizierte, Weiße US-Amerikanerin im ländlichen Teil Ugandas gezielt den Eindruck erweckte, eine Ärztin zu sein und so Kinder behandelte und operierte, von denen mindestens 105 Kinder starben (Levy, 2020). Vertreten durch die Menschenrechtsanwältin Primah Kwagala verklagten zwei der betroffenen Mütter, Gimbo Zubeda und Kakai Annet, Renee Bach im Jahr 2020, nachdem ihre Söhne Twalali Kifabi und Elijah Kabagambe kurz nach der Behandlung im von Bach gegründeten missionarischen Gesundheitszentrum verstarben. Der Prozess endete mit Zahlungen in Höhe von nur je 9.500 US-Dollar an die beiden Mütter (Aizenman 2020).

Dieses Beispiel legt das immer noch existente, wenn auch modernisierte Bild der kolonialisierenden Frau offen. Diese tritt nicht als Angreiferin auf, aber als Überlegene und aktiv Handelnde, in Abgrenzung zu einem passiven Gegenpart. Das Denken weißer Überlegenheit prägt noch immer machtvoll den gesellschaftlichen Kontext und Diskurs. Dagegen ist auch der feministische Diskurs nicht immun.

Dominanz im Feminismus am Beispiel der Kopftuchdebatten

Das beschriebene Machtungleichgewicht findet sich z.B. in Teilen der deutschen öffentlichen Debatte um muslimische Kopftücher, die von zumeist rassifizierten Muslimas getragen werden. Ein besonders prominentes Beispiel ist der offene Brief „Stichwort: Becklash“ (Becklash 2003), der von Helke Sander, Halina Bendkowski und Günter Langer initiiert, 2004 veröffentlicht und u.a. von der renommierten Organisation „Terre des Femmes“ unterschrieben wurde. Im Brief wurde der Hijab pauschal mit Zwang und Gewalt in Verbindung gebracht und daraus ein Hijab-Verbot abgeleitet, sowie eine diffuse Forderung nach aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen gestellt. In einem darauffolgenden Interview wurde Bendkowski dafür kritisiert, muslimische Frauen als Gruppe zu homogenisieren und islamisch geprägte Feminismen unsichtbar zu machen (Berghahn et al. 2009: 479 f.). Sie quittierte dies mit dem Hinweis, dass es ihr lediglich um Gewaltopfer ginge, nicht um andere Kopftuchträgerinnen und sie feministische Theologie „absurd“ fände (ebd.: 482). Wo absolute Deutungshoheit reklamiert wird, isoliert sich der Weiße Feminismus jedoch selbst. Halina Bendkowski spricht pauschal über alle Hijab-Trägerinnen und ignoriert die antwortende Kritik islamischer Feministinnen, die zum Teil auch aus religiösen Kontexten heraus selbstbewusst sprechen und sich deshalb als Hijab-Trägerinnen nicht als machtlose Opfergruppe subsumieren lassen. Die vermeintlich universalistische Aufklärung wird gegen den als unzivilisiert vorgestellten Rest der Welt aufgestellt.

Paternalismus statt Feminismus?

Ein weiteres Beispiel lieferte die Autorin und das bekannteste Gesicht des westdeutschen Feminismus Alice Schwarzer, welche etwa 2019 in einem Artikel in knappen Sätzen behauptete, der Hijab sei nicht religiös und ein Kopftuchverbot somit folgerichtig (vgl. Schwarzer 2019). Dabei wird die Prämisse gesetzt, dass Neutralität der Kleidung erreichbar sei, obwohl jedes Kleidungsstück stets eine Projektion der Weltanschauung darstellt und einen regionalen, kulturellen, persönlichen oder religiösen Ausdruck vermitteln kann. Diejenigen, die eine staatliche Regulierung der Kleidung von Mädchen und Frauen fordern, folgen damit einer Vorstellung vom bevormundenden Staat, der Kleidungsvorschriften erlassen kann. Sie fordern von ihm, westliche Kleidung durchzusetzen. Damit reproduzieren sie zugleich den „Paternalismus der Idee einer Leitkultur“ (Ekardt 2016: 69).

Der historische Hintergrund formt den gesellschaftlichen Kontext, in welchem die heutigen Diskurse stattfinden. Das Benennen von Mehrfachdiskriminierung ist Voraussetzung für Problemanalysen und feministische Lösungsansätze.

Die Benennung von Mehrfachdiskriminierung

Die US-amerikanische Philosophieprofessorin Elizabeth Spelman schrieb bereits in den 1980er Jahren, dass die Aufteilung der Unterdrückung Schwarzer Frauen in eine sexistische und in eine rassistische Unterdrückung nicht die Perspektive Betroffener widerspiegele. Eine solche Zweiteilung der „struggles“ wird nur nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass Schwarze Frauen sich gegenüber einer von Männern dominierten Bürgerrechtsbewegung, sowie gegenüber einer von Weißen Frauen dominierten feministischen Bewegung zu erklären versuchten (vgl. Spelman 1988: 124). Die US-amerikanische Professorin für Kommunikationswissenschaften Moya Bailey entwickelte im Jahre 2008 den Begriff „Misogynoir“. Die Wortneuschöpfung verbindet die Begriffe „misogyny“ (dt.: Frauenfeindlichkeit) und „noir“ (dt.: schwarz) und dient dazu, die Unterdrückung Schwarzer Frauen zu benennen. Der Wortteil „noir“ ist zudem dem „film noir“ entlehnt, da ursprünglich die mediale und visuelle Reproduktion von rassistischer Frauenfeindlichkeit im Fokus stehen sollte. Mittlerweile wird er jedoch zur Beschreibung des globalen Problems der speziellen Mehrfachdiskriminierung verwendet (vgl. Bailey 2021: 1). 

Intersektionen

Die US-amerikanische Juristin und Professorin Kimberlé Crenshaw prägte den Begriff der Intersektionalität als eine „analytische Sensibilität, eine Möglichkeit, über Identität und ihr Verhältnis zu Macht nachzudenken“ (Crenshaw, 2019: 14). Auch dieser Begriff bezog sich ursprünglich auf die Diskriminierung Schwarzer Frauen, also auf die Intersektion zwischen Geschlecht und Rassifizierung. Darauf aufbauend wurde er genutzt, um weitere Intersektionen zu benennen: „Mädchen of Color im Kampf gegen die School-Prison-­Pipeline; Frauen* innerhalb der Einwanderungsbewegungen; Transfrauen innerhalb der feministischen Bewegungen; und Menschen mit Behinderungen im Kampf gegen Polizeimisshandlung – sie alle sind verwundbar an den Schnittstellen von Rassismus, Sexismus, Klassenunterdrückung, Transphobie oder Behindertendiskriminierung“ (ebd.: 15).

Das Ziel ist Gleichstellung

Um Machtasymmetrien im öffentlichen Diskurs auszugleichen, ist es unabdingbar in einem ersten Schritt die eigene Position zu reflektieren. Erst indem die Interdependenz zwischen Identität und Macht anerkannt wird, lässt sich das Misstrauen zwischen den verschiedenen Denkströmungen des Feminismus abbauen. So können gemeinsame Werte ernsthaft verkörpert und Partizipationsziele effektiv verfolgt werden. Und gerade dann, wenn ein echter inhaltlicher Konflikt auftritt, muss eine Diskussion unter Gleichen stattfinden können. Die Befragung der eigenen Position und eine wissenschaftliche Herangehensweise sind die wichtigsten Werkzeuge zur Entflechtung der Machtverwobenheit von Diskursen.

Literatur

Aizenman, Nurith (2020): U.S. Missionary With No Medical Training Settles Suit Over Child Deaths At Her Center, in: NPR.org, 31.07.2020, https://www.npr.org/sections/goatsandsoda/2020/07/31/897773274/u-s-missionary-with-no-medical-training-settles-suit-over-child-deaths-at-her-ce [abgerufen am 08.09.2022].

Bailey, Moya (2021): Misogynoir Transformed: Black Women’s Digital Resistance (Intersections, 18), NYU Press, DOI:10.18574/9781479803392.

Becklash (2003): http://www.isioma.net/sds06203.html [abgerufen am 08.09.2022].

Berghahn, Sabine/Rostock/Nöhring (2009): Der Stoff, aus dem Konflikte sind: Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Bielefeld: Transcript Verlag, DOI:10.14361/9783839409596-017, S. 473 – 493.

Bergold-Caldwell, Denise (2020): Schwarze Weiblich*keiten: Intersektionale Perspektiven auf Bildungs- und Subjektivierungsprozesse, Bielefeld: Transcript Verlag, DOI:10.14361/9783839451960.

Crenshaw, Kimberlé (2019): Warum Intersektionalität nicht warten kann, in: „Reach Everyone on the Planet...: Kimberlé Crenshaw und die Intersektionalität“, Gunda-Werner-Institut in der Heinrich-Böll-Stiftung und das Center for Intersectional Justice, Berlin, Deutschland.

Ekardt, Felix (2016): Gerechtigkeit und gutes Leben in der Kopftuchdebatte, in: Zeitschrift für Recht & Islam Jahrgang 8, 69-83.

Levy, Ariel (2020): A Missionary on Trial, in: The New Yorker, 06.04.2020, https://www.newyorker.com/magazine/2020/04/13/a-missionary-on-trial [abgerufen am 08.09.2022].

Mills, Charles W. (2017): Black Rights/white Wrongs, Oxford, Vereinigtes Königreich: Oxford University Press, DOI:10.1093/acprof:oso/9780190245412.001.0001.

Schwarzer, Alice (2019): Kopftuchkritik an deutscher Uni, in: Emma, 09.05.2019, https://www.emma.de/artikel/kopftuchkritik-deutscher-uni-336789 [abgerufen am 08.09.2022].

Spelman, Elizabeth V. (1988): Inessential Woman: Problems Of exclusion In feminist thought, Boston/Massachusetts: Beacon Books.

Truth, Sojourner (2019): Bin ich etwa keine Frau*?, in: Schwarzer Feminismus: Grundlagentexte, hg. v. Natasha A. Kelly, Münster: Unrast Verlag.

Walgenbach, Katharina (2005): „Die weisse Frau als Trägerin deutscher Kultur“: koloniale Diskurse über Geschlecht, „Rasse“ und Klasse im Kaiserreich, Frankfurt am Main: Campus Verlag.  

Zitation: Silvia Nwadiuto Chike: Koloniale Kontinuitäten in feministischen Diskursen, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 28.10.2022, www.gender-blog.de/beitrag/koloniale_kontinuitaeten_feminismus/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20221028

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Silvia Nwadiuto Chike

Silvia Nwadiuto Chike studiert Politik- und Rechtswissenschaften und ist Referentin des Autonomen BIPoC-Referats des AStA der Uni Münster. Nach einem abgeschlossenen Schwerpunkt in Kriminalwissenschaften, einer Fachspezifischen Fremdsprachenausbildung und einem Zertifikat in islamischem Recht konzentriert sie sich im Studium auf Gesellschaftspolitik. Sie war jugendliche Preisträgerin des Young Women in Public Affairs Award des Zonta Club Lippstadt und ist Alumna der Heinrich-Böll-Stiftung.

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