08. Dezember 2020 Hermann Strasser
Die immer wieder angefachte Diskussion um das Kopftuchverbot in deutschen und österreichischen Schulen kreist um die Frage, ob das Verbot eine Bevormundung, eine Einschränkung der Freiheit darstelle, weil es nicht nur das Grundrecht der Religionsfreiheit, sondern auch das Erziehungsrecht der Eltern berühre. Es geht darum, dass Mädchen aus islamischen Familien zu selbständigen Bürgerinnen heranwachsen und als Frauen die freie Wahl der Religion für sich in Anspruch nehmen können. Stehen sich etwa Toleranz und Unterdrückung als alternative Vorgehensweisen gegenüber?
Auch die Diskussionen um das Kopftuchverbot für Lehrerinnen oder Richterinnen und die Ausbildung der Imame in der Türkei sind unter den verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen nur schwer zu vereinbaren, auch weil damit immer wieder eine Einschränkung der Religionsfreiheit ins Spiel gebracht wird. Das Problem fängt schon im Kindergarten und in der Schule an. In vielen deutschen und österreichischen Schulen hat etwa ein Drittel der Schüler und Schülerinnen in den Klassen der Grundschulen und der ersten Sekundarschulstufe einen Migrationshintergrund. Allerdings sind kaum Lehrer und Lehrerinnen vorhanden, die über die Grenzen ihrer Kultur hinaus verstehen können und bereit sind, dies in ihrem Denken und Handeln zu berücksichtigen. Und so bleiben viele Menschen Fremde im eigenen Land – nicht nur wegen der Bezeichnung des „Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl“ (BFA) in Österreich.
Kulturelle Grenzziehungen: Kopftuchrecht und Kopftuchzwang
Die Erfahrungen und Lebensweisen vieler Muslime und Muslimas in Europa zeigen, dass Frömmigkeit und aufgeklärtes Denken kein Widerspruch sein müssen. Schon eher spiegelt sich darin die Aufgabe, die verschiedenen Traditionen des Islam auf einen Nenner und mit der Ausbildung der Imame in Einklang zu bringen. Ich erinnere mich noch gut an das Kopftuch meiner Oma, meiner Mutter und der Frauen in der Zeit meiner Kindheit und Jugendzeit. Das Tragen des Kopftuches verband meine Mutter vor allem mit dem Wetter, dem Einkaufen im Ort und dem Besuch der Kirche. Es hatte mit Schutz, Mode und Glaubensritual zu tun (Deutscher Bundestag 2017).
Das Kopftuch, die Burka oder ein verweigertes Händeschütteln von muslimischen Frauen oder Männern gegenüber dem anderen Geschlecht muss deshalb noch nicht eine Frage des politischen Islams sein. Strenggläubige Muslime beziehen sich oft auf die Koransure 17, Vers 32, dass eine Berührung nicht miteinander verheirateter Männer und Frauen nicht erlaubt sei. Auch ultraorthodoxe Juden legen die Thora auf ähnliche Weise aus. Für gläubige Muslime ist es eine Frage der Religion, des Glaubens, die auch die kulturellen Grenzen zwischen islamischen und westlichen Gesellschaften deutlich macht.
Für politische Fanatiker wie die AfD-Abgeordnete Alice Weidel im Deutschen Bundestag wird hingegen das Kopftuch zur Drohgebärde, wenn sie von „Kopftuchmädchen und Messermännern“ spricht. Der AfD-Landeschef von Sachsen-Anhalt, André Poggenburg, sprach sogar von „Unterwerfung“, als die SPD-Staatssekretärin und Integrationsbeauftragte des Landes, Susi Möbbeck, bei einem offiziellen Besuch in einer Moschee aus Respekt und Höflichkeit, wie sie sagte, ihr Halstuch zum Kopftuch machte. Der jetzige Klubobmann der FPÖ und frühere österreichische Innenminister Herbert Kickl sieht im Kopftuch der Lehrerinnen sogar eine „Flagge des Islamismus auf ihrem Kopf“.
Nur bleibt es nicht beim Wort, wie der Islamforscher Ozan Zakariya Keskinkılıç in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung zu Recht bemerkt: „Mit den Grenzen des Sagbaren über die eine Minderheit verschieben sich auch die Grenzen des Machbaren mit einer Minderheit" (Keskinkılıç 2019).
Sexualität
Auch wenn der säkulare Staat für sich in Anspruch nimmt, die kulturelle Vielfalt und damit auch die individuelle Religionsfreiheit zu verteidigen, wird es den Disput zwischen Schleierbefürworter_innen, die sich auf die Religionsfreiheit berufen, und Schleiergegner_innen, die das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung in den Vordergrund rücken, weiterhin geben.
Über das eigentliche Problem gibt es allerdings kaum eine Diskussion: „Die tiefste Kluft zwischen der muslimischen und westlichen Welt“ sei die Sexualität, so die Berliner Anwältin Seyran Ates (Ates 2009). In der christlichen Tradition gilt Sexualität als sündig. Juden und Muslime nehmen dagegen keine Trennung von Geist und Körper vor, sondern wollen die Sexualität in die Bahnen von Ehe und Familie lenken. So wird die sittsame Kleidung als Befreiung verstanden, weil sie dem Eheleben angeblich mehr Genuss verschaffe. Der Schleier gehört sozusagen zur Unverletzlichkeit der eigenen vier Wände. In der westlichen Vorstellung von Multikultur werden aber Schleier und Kopftuch zu Symbolen der Unterdrückung, hinter denen man nicht selten die Leitkultur der am weiblichen Körper befestigten Fahne der Salafisten vermutet.
Zusammengefasst bleibt es beim Pro für den Schleier und das Kopftuch als subtile Instrumente der Verführung und beim Contra als Symbole für die Unterdrückung von Individualität und Sexualität, auf dass weiterhin ideologische Schlachten über den Frauenkörper geführt werden. Sind also Schleier und Kopftuch eine Frage der freien Entscheidung? Deshalb fragt auch die amerikanische Feministin Naomi Wolf, ob sie zwangsläufig als Unterdrückung gesehen werden müssten (Wolf/Manji 2008).
Kopfbedeckungen
Im Judentum, Christentum und Islam hat es für die Kopfbedeckung seit jeher strenge Vorschriften für Frauen gegeben. Das, was der Mensch auf dem Kopf und am Körper trägt, hat ihn immer auch geprägt. Dies illustrieren nicht nur das Kopftuch, sondern auch die Hüte. Sie schützten nicht nur gegen Sonne und Staub, sondern waren auch Ausdruck sozialer Zugehörigkeit, ständischen Bewusstseins, einer politischen Haltung und religiöser Ausrichtung. Für den Papst und die Royals, die Uni-Absolventen und Burschenschaften sind sie es noch heute. Auch für die SS und im KZ waren Hüte Ausdruck der Macht. Seit Foucault sprechen wir von der politischen Besetzung des Körpers (Foucault 1976).
Verschleierung
Einmal abgesehen vom Kopftuch sind die meisten Menschen in Deutschland und Österreich gegen die Burka. Auch wenn in diesen Ländern nur wenige Frauen Burka tragen, kann man nicht darüber hinwegsehen, dass sich die Burkaträgerin der sozialen Kommunikation entzieht und damit menschliche Beziehungen, auf denen die Gesellschaft basiert, verhindert. Ganz abgesehen davon, dass sie auch die Sicherheit im öffentlichen Raum in Frage stellt. Das kann Toleranz nicht ausgleichen.
In Frankreich ist die Mehrheit der muslimischen Frauen gegen das Kopftuch in staatlichen Schulen, vor allem wegen der Einschüchterungen durch die Männer. Es sei nach wie vor diese Angst vor den Männern und der Stigmatisierung, die muslimische Frauen und Mädchen nicht mit einer Stimme sprechen lasse, beklagt Irshad Manji, die aus Uganda flüchtete und jetzt an der New York University das „Moral Courage Project“ leitet (Wolf/Manji 2008).
Wer spricht zum Kopftuch?
Nicht nur in Frankreich fehlt in öffentlichen Debatten immer noch die Stimme der Frauen mit Kopftuch. Viele muslimische Frauen sind integriert und tragen selbstbewusst ihr Kopftuch, auch in Deutschland und Österreich. Die Verhüllung durch Kopftuch bis Burka kann ebenso eine Geste der Unterwerfung als auch der Selbstbehauptung sein. Zum Ausdruck der Selbstbehauptung wird sie in einer Gesellschaft, in der muslimische Frauen gegen das Urteil der Mehrheit aufbegehren. Die Bedeutung der Verhüllung in der einen oder anderen Form verläuft zwischen Identität und Identifikation einer gesellschaftlichen Gruppe einerseits und zwischen Abgrenzung und Ausgrenzung andererseits.
Würde das Kopftuch sichtbarer, bekäme es zweifellos eine neue, vielfältigere Bedeutung. Die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen, lässt sich nie unabhängig von der Frage beantworten, in welcher Gesellschaft wir leben. Es reicht aber nicht, politische Stellvertreterdebatten über „den“ Islam zu führen und bei jeder Gelegenheit die „Abendlandklauseln“ aus dem Ärmel zu zaubern, wie Lara Fritzsche kritisierte (Fritzsche 2018).
Ins Offene der gemeinsamen Zivilgesellschaft
Die Begegnung von Kulturen ist in der beschleunigten und globalen Gesellschaft von heute Alltag. In ihr müssen Zumutungen zumutbar sein, für Mehrheiten ebenso wie für Minderheiten, wenn wir überleben wollen. Es gibt keine demokratische Gesellschaft ohne Widersprüche, wie auch das Spannungsfeld zwischen Ablegen und Aufsetzen des Kopftuchs, zwischen Aufbegehren und Unterwerfen demonstriert. Der Austausch und die Auseinandersetzung mit Migranten und Migrantinnen können den sozialen Zusammenhalt in Frage stellen, aber auch befördern. Daher können Konflikte nicht nur Folge gescheiterter, sondern auch gelungener Integration sein. Was uns zusammenhält, ist ohnehin das Trennende.
Insofern kann ich auch der Einschätzung von Jürgen Habermas zustimmen:
„Der liberale Staat ist […] mit religiösem Fundamentalismus unvereinbar. In diesem Konflikt tritt eine Gestalt der Moderne einer anderen, als Reaktion auf entwurzelnde Modernisierungsprozesse entstandenen Gestalt der Moderne entgegen. Der liberale Staat kann seinen Bürgern gleiche Religionsfreiheiten – und ganz allgemein gleiche kulturelle Rechte – nur unter der Bedingung garantieren, dass diese gewissermaßen aus den integralen Lebenswelten ihrer Religionsgemeinschaften und Subkulturen ins Offene der gemeinsamen Zivilgesellschaft heraustreten“(Habermas 2012).
Nicht zuletzt haben wir es mit einem unausweichlichen Entwicklungsproblem zu tun, nämlich mit der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, auch im eigenen Land.
Literatur
Ates, Seyran (2009), Der Islam braucht eine sexuelle Revolution. Eine Streitschrift. Berlin: Ullstein Verlag.
Foucault, Michel (1976), Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag.
Fritzsche, Lara (2018), „Auf Tuchfühlung“. In: Süddeutsche Zeitung Magazin Nr. 19 vom 11. Mai 2018, S. 10-19. Online unter https://sz-magazin.sueddeutsche.de/glaube-und-religion/auf-tuchfuehlung-85927?reduced=true [Zugriff 21.11.2020].
Habermas, Jürgen (2012), „Wie viel Religion verträgt der liberale Staat?“ In: Neue Zürcher Zeitung vom 6. August 2012, www.nzz.ch/wie-viel-religion-vertraegt-der-liberale-staat-1.17432314 [Zugriff 21.11.2020].
Keskinkılıç, Ozan Zakariya (2019), „Alltäglicher Hass“. In: Süddeutsche Zeitung vom 29. Juni 2019, www.sueddeutsche.de/politik/gastkommentar-alltaeglicher-hass-1.4503788 [Zugriff 21.11.2020].
Deutscher Bundestag (2017), Zur Kulturgeschichte des Kopftuches. Wissenschaftliche Dienste, WD 1-3000-020/17, https://www.bundestag.de/resource/blob/543582/5ae376c30ac98b4e2bdc37d97cb0fefb/WD-1-020-17-pdf-data.pdf [Zugriff 21.11.2020].
Wolf, Naomi und Manji, Irshad (2008), „Die Sache mit den Reizen“. In: Welt Online vom 09. September 2008, www.welt.de/welt_print/article2416918/Die-Sache-mit-den-Reizen.html [Zugriff 24.11.2020].
Zitation: Hermann Strasser: Das Kopftuch – mehr als ein Spielball der Gesellschaftspolitik in Deutschland und Österreich?, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 08.12.2020, www.gender-blog.de/beitrag/kopftuch-spielball-der-gesellschaftspolitik/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20201208
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Kommentare
Dr. Elke Timm | 09.12.2020
Ich vermisse den schlichten Gedanken, dass in einer säkularen Gesellschaft die Religion Privatsache ist und als solche geschützt und geachtet sein muss. Aber eben im Privaten. Und daraus ergibt sich zwangsläufig, dass alles Religiöse im Staatlichen nichts zu tun hat. Das gilt für das Kreuz im Klassenzimmer wie auch für das Kopftuch an Universität und Schule. Nur dann ist das selbstbestimmte Privatleben auch möglich. Dekliniert man das Problem immer feiner, so bleibt zum Schluß aber dennoch als Resultat, dass wir in unserer Gesellschaft Werte verkörpern, die wir nicht aufgeben wollen und sollten. Dazu gehört die Transparenz und Offenheit, die eine Burka verhindert. Dazu gehört unser Grundgesetz, das Männer und Frauen als gleichberechtigt betrachtet. Dazu gehört ein Rechtssystem, das Paralleljustiz ablehnt. Für mich ergibt sich fern einer Debatte um Sexualität schlicht, dass die Burka verboten sein sollte und das Kopftuch nicht in staatlichen Einrichtungen von deren Vertreterinnen getragen werden sollte. Ansonsten kann es aus modischen oder religiösen Motiven getragen werden. Schon kleinen Mädchen wird damit auch deutlich gemacht, dass das Kopftuch keine Zwangseinrichtung der Eltern sein darf.
Hermann Strasser | 11.12.2020
Ich stimme dem Hinweis von Frau Dr. Timm natürlich zu, dass „in einer säkularen Gesellschaft die Religion Privatsache“ sei und im Privaten auch geschützt und geachtet werden müsse. Nur die Trennung zwischen privater und öffentlicher Sphäre ist nicht so einfach, wie auch der bayerische Schlossherr Markus Söder mit seinem Verlangen nach dem christlichen Symbol des Kreuzes in öffentlichen Ämtern demonstrierte. Dass er es zum Erkennungszeichen einer bajuwarischen Stammesreligion machen wollte, machte das Kreuz aber nicht verfassungskonform.
Zweifellos verhindert die Burka Transparenz und erschwert vor allem Kommunikation, was wiederum einer offenen Gesellschaft entgegensteht. Das Tragen einer Burka ist vor allem eine Geste der Unterwerfung und nur in Ausnahmefällen eine Geste der Selbstbehauptung. Die freie Gesellschaft und der säkulare Staat müssen den Wert der kulturellen Vielfalt und damit der Religionsfreiheit hochhalten. Zugleich müssen sie den Konflikt zwischen Schleiergegner_innen und Schleierbefürworter_innen aushalten und den damit einhergehenden Wandel gestalten. Kultur als Lebensweise ist diesem Wandel schon immer unterworfen, auch jenseits europäischer Grenzen. Ganz abgesehen davon, braucht Sinn Zeit. Nur so kann der Wandel Sinn stiften und auch das Schleierhafte des Kopftuchs verändern.