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Interview

Krieg als Lebensrealität – der Blick feministischer Friedens- und Konfliktforschung

30. August 2022 Victoria Scheyer Sandra Beaufaÿs

Der Angriff Russlands auf die Ukraine hält Europa in Atem und löst viele Fragen und Lagerkonflikte zwischen weiteren Ländern und auch innerhalb einzelner Staaten aus. Zum Anti-Kriegstag am 1. September haben wir die Friedens- und Konfliktforscherin Victoria Scheyer gefragt, welche Perspektiven der feministischen Forschung es auf das Thema gibt, und dabei auch Friedensfähigkeit und Konfliktlösungsmöglichkeiten angesprochen.

Womit beschäftigt sich die feministische Friedens- und Konfliktforschung?

Wir beschäftigen uns mit Geschlechterverhältnissen in Konflikten, in Kriegen, aber auch in der Friedensförderung und Konfliktprävention, dabei geht es nicht nur um bewaffnete Konflikte. Ganz konkret stehen auch die Auswirkungen von Gewalt im Mittelpunkt, verschiedene Gewaltformen wie geschlechtsbezogene Gewalt, sexualisierte Gewalt, aber auch strukturelle Gewalt. Gerade in Bezug auf Letzteres sind postkoloniale Theorien und Ansätze für die feministische Friedens- und Konfliktforschung essenziell. Wir können nicht nur im westlich-weißen Kontext denken, sondern müssen auch überlappende Diskriminierungsformen einbeziehen. Und wenn wir von emanzipatorischen Bewegungen sprechen, können wir das nicht ohne antikoloniale Kämpfe sehen. In Konfliktanalysen geht es nie allein um die Geschlechterperspektive, sondern auch um andere Machtformen wie race, Sexualität, Klasse. Aber generell fragen wir natürlich, wie bestimmte Konfliktdynamiken mit Geschlechterrollen zusammenhängen.

Sind die Geschlechter unterschiedlich von Konflikten betroffen?

Ja, auf jeden Fall. Ganz klassisch sehen wir, dass Menschen, die kämpfen, eher Männer sind. Und Frauen übernehmen meist alles andere und halten die soziale Infrastruktur aufrecht, übernehmen die Sorgearbeit. Gerade in Kriegs- oder Konfliktsituationen werden die Geschlechterverhältnisse und -rollen, die in einer nicht konfliktgeladenen Situation und Gesellschaft vorherrschen, noch verstärkt. Gleichzeitig versuchen wir, sichtbar zu machen, dass es eben nicht nur diese klassischen Verteilungen von Rollen in Konflikten gibt, sondern es auch Frauen gibt, die kämpfen, und Männer, die Opfer von sexualisierter Gewalt werden, und dass außerdem nichtbinäre Personen und trans Personen spezifischen Gewaltformen ausgesetzt sind.

Gibt es da aktuelle Beispiele?

Aktuell sehen wir in der Ukraine, dass die Mehrheit der kämpfenden Menschen Männer sind, wir sehen aber auch Frauen, die kämpfen oder die kämpferischen Handlungen in anderer Form unterstützen. Der Krieg gegen die Ukraine zeigt auch, dass es Männern nicht erlaubt ist, zu flüchten und sich nicht am Kriegsgeschehen zu beteiligen. Trans Frauen dürfen nicht flüchten, da in ihren Pässen ein anderes Geschlecht eingetragen ist als das, mit dem sie sich eigentlich identifizieren. Es ist also wichtig, sichtbar zu machen, dass es nicht nur diese verhärteten oder binären Rollen gibt.

Geht es nicht dennoch manchmal um die Hervorbringung von Männlichkeit in Konflikten, gerade auf Staatsebene?

Wenn ich aus einer machtkritischen Perspektive auf die Konflikthaftigkeit unserer Weltordnung schaue, dann zeigt sich, dass bereits die Prinzipien, auf denen wir internationale Zusammenarbeit aufbauen, männlich assoziiert sind: Souveränität, Konkurrenz, Stärke, Dominanz, es geht um die militärische Verteidigung staatlicher Existenz. Und da sehe ich aus einer Konfliktlösungsperspektive große Herausforderungen, dass solche als männlich assoziierte Prinzipien überwunden werden können. Aus einer Forschungsperspektive ist es aber ganz wichtig, den Krieg nicht nur auf einer Makroebene mit Staaten als einzigen Akteuren zu betrachten. Was die Geschlechterforschung hier auszeichnet, ist, dass sie spezifisch darauf schaut, welche Menschen wie von Konflikten betroffen sind und welche Gewaltformen es gibt. Es wird ganz nah an der Lebensrealität der Menschen geforscht, die von gewaltsamen Konflikten betroffen sind, aber diesen auch begegnen. Leider ist es oft immer noch so, dass diese Perspektive zu wenig Aufmerksamkeit bekommt. Zum Beispiel der Blick darauf, wie Menschen ganz aktiv mit der Gewalt umgehen müssen in ihrem Alltag, wie Mediation oder auch Friedensprozesse zwischen gesellschaftlichen Gruppen oder Individuen verlaufen, wie sich das auf verschiedene Geschlechtsidentitäten auswirkt. Das ist auf jeden Fall eine Perspektivenerweiterung im Vergleich zur klassischen Friedens- und Konfliktforschung.

Wie findet diese Perspektive denn Eingang in die klassische Friedensforschung?

Ich glaube, dass es immer noch als Randthema gesehen wird. Seit mindestens den 1970er-Jahren gibt es feministische Forschung in diesem Bereich. Forschende haben seither das Feld der feministischen Perspektive auf Frieden und Sicherheit etabliert und wir kämpfen heute weiter darum, dass feministische Theorien und Forschungsmethoden Anwendung finden. Gender wird aber eher selten als Querschnittsthema gesehen, und Gender als Analysekategorie gilt weiterhin eher als add on.

Daneben gibt es ja auch noch das Gebiet der Konfliktprävention.

Ja, und für Präventionsarbeit gilt, dass die wichtigste Prävention in Friedenszeiten stattfindet. Wir kommen ganz oft auf Studien (Hudson et al. 2009; Hudson et al. 2020; Institute for Economics and Peace 2011) zurück, die besagen, dass, je geschlechtergerechter eine Gesellschaft gestaltet ist, desto weniger anfällig ist sie auch für Konflikte. Soziale Gerechtigkeit, inklusive Geschlechtergerechtigkeit ist eine Vorstufe für gerechte Partizipation in Entscheidungspositionen, sodass verschiedene politische Perspektiven gehört werden. Je weiter das Feld diversifiziert ist, desto größere Methodenvielfalt kann auch entstehen, um Konflikte zu lösen oder zu verhindern. Je mehr Frauen oder auch verschiedene gesellschaftliche Gruppen an Friedensverhandlungen teilnehmen, desto länger halten die Friedensverträge (Nilsson 2012; Krause/Krause/Bränfors 2018). Und je mehr Perspektiven an Friedensverhandlungen beteiligt sind, desto mehr gesellschaftliche Gruppen fühlen sich auch vertreten. In den letzten 20 Jahren waren aber nur sechs Prozent aller Mediator*innen in Friedensverhandlungen und nur 13 Prozent aller Verhandlungsführer*innen und sechs Prozent aller Unterzeichner*innen Frauen.

Wie verlaufen Friedensprozesse?

Friedensprozesse sind vielschichtig. Friedensverhandlungen unter Regierungsvertreter*innen und beteiligten Gruppen sind nur das eine. Waffenruhe ist noch kein „positiver Frieden“, wenn weiterhin Konflikte zwischen bestimmten Gruppen oder Ungerechtigkeiten unbearbeitet bestehen. Deshalb ist in Friedensprozessen ganz wichtig, was eigentlich mit den Menschen passiert, die gekämpft haben, und mit solchen, die von den Folgen der Kämpfe betroffen sind. Es müssen Reintegrationsprozesse angestoßen werden, die Soldat*innen vom Militär in das Arbeitsleben begleiten. Familien, die keinen Familienernährer mehr haben, Frauen, die keine Landrechte und damit keine Existenzgrundlage mehr haben, sollten spezifisch berücksichtigt werden. Es geht also darum, dafür zu sorgen, dass ein gesellschaftliches Leben wieder möglich wird. Wichtig wird es dann auch, in Postkonfliktsituationen zu überlegen, welche Verfassung und welche Gesetzgebung benötigt wird, um Geschlechtergerechtigkeit herzustellen – letztlich, um Friedensprozesse nachhaltiger zu machen.  

In Friedensprozessen steckt also bereits der Keim zu einer friedlicheren, gerechteren (Nachkriegs-)Gesellschaft?

Ja, deshalb ist es auch ein Teil von Konfliktprävention, Geschlechtergerechtigkeit in einem Land in Friedenszeiten herzustellen. In Kriegssituationen spitzen sich Rollenzuschreibungen und Normen zu, Gewalt ist ein Kontinuum. Natürlich gab es auch schon vor einem Konflikt geschlechtsbasierte Gewaltverhältnisse, diese werden in einem Krieg verstärkt. Dann ist die wichtige Frage, ob in der neuen Verfassung oder im Friedensvertrag Geschlechtergerechtigkeit verankert ist oder ob es wieder zurückgeht auf das, was vorher bereits war. Das heißt dann für viele Frauen, dass es weiterhin Gewalt gibt, aber in einer anderen Form.

Es ist daher wichtig, aktiv Beteiligte und Betroffene, die nicht in Machtpositionen sitzen, in Entscheidungen einzubinden. Zum Beispiel die Frauen, die in der Ukraine schon lange Friedensarbeit zwischen Ost- und Westukraine geleistet haben. Oder auch die feministische Zivilgesellschaft in Afghanistan, die gerade so viel Bildungsarbeit und so viel Öffentlichkeitsarbeit über die aktuelle Situation leistet. Das sind Akteur*innen, die gehört werden müssen und die nicht die Makroperspektive – Staat gegen Staat –, sondern die der Menschen und vulnerablen Gruppen einnehmen.

Deshalb müssen wir vor allem in Friedenszeiten auf Geschlechtergerechtigkeit hinwirken und Netzwerke aufbauen zwischen friedensaktivistischen Gruppen. Um dann, wenn es einen Konfliktfall gibt, zu wissen, es gibt diese Netzwerke bereits, hier können wir Mediationsprozesse starten. Wenn diese Kontakte im Konfliktfall erst hergestellt werden müssen, fehlt das notwendige Vertrauen.

Wie können wir hier in Deutschland zu einer friedlichen Gesellschaft beitragen?

Wir können infrage stellen, wie politische Prozesse, Konfliktlösung, Militarismus mit Geschlechtergerechtigkeit zusammenhängen. Wie militarisiert denken wir eigentlich, wie ist es einzuschätzen, dass die Bundeswehr in Serien und in der Werbung als ganz normale Organisation erscheint, und was hat das mit Geschlechterverhältnissen zu tun? Wir müssen sehen, dass Russland die Identifikation mit dem Militär durch Propaganda selbst geschaffen hat, das gilt auch für die USA, wo Veteranen als Helden dargestellt werden. Das mag in Deutschland nicht ganz so ausgeprägt sein, dennoch ist es merklich da und trägt dazu bei, dass Kampfhandlungen als etwas Normales in der Konfliktlösung erscheinen. Es gibt aber sehr viele alternative Formen, Konflikte zu lösen. Es gibt zum Beispiel zivile Konfliktbearbeitung als Schwerpunkt der deutschen Bundesregierung. Die feministische Außenpolitik wäre ein Hoffnungsschimmer, um Alternativen einzufordern. Das setzt voraus, dass sie jetzt nicht nur den liberalen Ansatz hat, mehr Frauen in patriarchale außenpolitische Systeme zu integrieren. Sondern wirklich die Frage stellt, was sind die Ursachen des Konflikts, wer sind die Akteur*innen, wer sind die Betroffenen, was sind mögliche Partner*innen – das ist schon eine Chance, Konflikte anders zu beleuchten.

Literatur

Hudson, Valerie M.; Caprioli, Mary; Ballif-Spanvill, Bonnie; McDermott, Rose & Emmett, Chad F. (2009). The Heart of the Matter: The Security of Women and the Security of States. International Security, 33(3), 7–45. https://doi.org/10.1162/isec.2009.33.3.7

Hudson, Valerie M.; Lee Bowen, Donna & Nielsen, Perpetua Lynne (2020). The First Political Order How Sex Shapes Governance and National Security Worldwide. New York: Columbia University Press. https://doi.org/10.7312/huds19466

Institute for Economics and Peace (2011). Structures of Peace. Identifying what leads to peaceful societies. Sydney. Zugriff am 29.08.2022 unter https://www.files.ethz.ch/isn/136294/Structures-of-Peace.pdf.

Krause, Jana; Krause, Werner & Bränfors, Piia (2018). Women’s Participation in Peace Negotiations and the Durability of Peace. International Interactions, 44(6), 985–1016, https://doi.org/10.1080/03050629.2018.1492386

Nilsson, Desirée (2012). Anchoring the Peace: Civil Society Actors in Peace Accords and Durable Peace. International Interactions, 38(2), 243–266. https://doi.org/10.1080/03050629.2012.659139

Zitation: Victoria Scheyer im Interview mit Sandra Beaufaÿs: Krieg als Lebensrealität – der Blick feministischer Friedens- und Konfliktforschung, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 30.08.2022, www.gender-blog.de/beitrag/krieg-feministische-forschung/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20220830

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Victoria Scheyer

Victoria Scheyer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am HSFK (Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung) in Frankfurt am Main und Doktorandin am Gender, Peace and Security Institute, Monash University, Melbourne, Australien.

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Dr. Sandra Beaufaÿs

Sandra Beaufaÿs ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Koordinations- und Forschungsstelle des Netzwerks Frauen- und Geschlechterforschung NRW an der Universität Duisburg-Essen. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Wissenstransfer sowie bei den Themen Geschlechterverhältnisse in Wissenschaft, Professionen und Arbeitsorganisationen.

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