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Interview

Das Living Handbook „Politik und Geschlecht“: Eine Intervention in den Fachdiskurs

18. Juni 2024 Franziska Martinsen Heike Mauer Inga Nüthen Sandra Beaufaÿs

Als damaligen Sprecher:innen der Sektion Politik und Geschlecht der DVPW wurde ihnen 2020 vom Verlag Barbara Budrich eine Idee unterbreitet: Zusammen mit der TH Köln plante der Verlag ein Open Access Living Handbook, das schließlich vom BMBF eine Förderzusage erhielt. Christine M. Klapeer, Johanna Leinius, Franziska Martinsen, Heike Mauer und Inga Nüthen ergriffen die Chance, hierfür Beiträge einzuwerben, die den aktuellen Diskurs feministischer Politikwissenschaft widerspiegeln. Sandra Beaufaÿs sprach mit drei der Herausgeberinnen über das attraktive Publikationsprojekt.

Was steht hinter eurem Projekt eines „Living Handbook“ für Politik und Geschlecht?

Heike Mauer: Die Problematik, dass das Politische und Politik als hochgradig vergeschlechtlichte gesellschaftliche Bereiche begriffen werden müssen, ist bis heute aktuell und von Beginn an zentraler Gegenstand feministischer Politikwissenschaft. Ideengeschichtlich lässt sich bis in die Antike nachweisen, dass das Politische ganz stark mit Männlichkeit bzw. einer spezifischen Konstruktion von Männlichkeit verknüpft wurde. Gleichzeitig – das ist allerdings eher ein moderneres Phänomen – wurde dieser Androzentrismus, der in dieser Konzeption von Politik und des Politischen liegt, verschleiert. Daran knüpfen auch weitere Formen der Kritik an Politikbegriffen an, bspw. in Bezug auf Eurozentrismus. Ich will nicht sagen, dass dies immer genau gleich funktioniert, aber es gibt bestimmte Ähnlichkeiten in der Struktur, wie Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit, Einschluss und Ausschluss innerhalb der Disziplin erzeugt wird.

Inga Nüthen: Uns ist es ein Anliegen, politikwissenschaftliche Geschlechterforschung zu stärken. Das geht auch mit dem Plädoyer einher, diese Forschungsperspektive selbstbewusst als politisch geprägte zu verstehen, in der Theorie und Praxis nicht scharf voneinander zu trennen sind. In so einer Tradition, würde ich sagen, steht das Handbuch. Das Fach Politikwissenschaft zeigt sich auf eine Art sehr resistent gegenüber Geschlechterforschungsperspektiven und auch anderen wesentlich marginalisierteren Forschungsperspektiven, weshalb wir es auch als eine Intervention in das Fach sehen, um damit auch ein Statement zu setzen: „Das ist ein Kerngebiet der Politikwissenschaft“.

Das scheint kein allgemeiner Konsens zu sein.

Franziska Martinsen: Das ist ein bisschen besonders, ja, ironisch zu betrachten, dass ausgerechnet in einem Fach, in dem es um Machtverhältnisse und Herrschaftsstrukturen geht, nach wie vor deren Vergeschlechtlichung entweder nicht wahrgenommen oder vielleicht sogar aktiv ausgeblendet wird. Wir finden zum Beispiel sehr wenig geschlechtertheoretische Literatur für die Lehre und feministische Einführungs- und Überblicksliteratur vor, die spezifisch politikwissenschaftlich ist. Bislang mussten wir vielfach auf Publikationen aus den Gender Studies zurückgreifen.

Wie werden denn politikwissenschaftliche Fragen in den Gender Studies aufgegriffen?

IN: Unsere Beobachtung ist, dass politikwissenschaftliche Fragestellungen innerhalb der Geschlechterforschung nicht unbedingt zentral verhandelt werden. Fragen wie etwa „Was ist der Staat?“, „Wie werden Geschlechterverhältnisse über Konzepte wie Staatsbürgerschaft oder Politik konstituiert?“ oder „Was ist Demokratie und welche Bedeutung haben Geschlechterverhältnisse für sie?“ werden in der Geschlechterforschung bisweilen zwar durchaus gestellt, aber zumeist eben nicht mit einem politikwissenschaftlichen Instrumentarium bearbeitet. Ein solches ist unserer Meinung nach aber auch deshalb unabdingbar, weil es so viele verschiedene – und konfligierende – normative Perspektiven und Konzeptionen von so zentralen Begriffen wie „Macht“, „Politik“, „Demokratie“, „Staat“ oder „Herrschaft“ gibt. Mit dem Handbuch wollen wir dazu beitragen, diese Perspektiven zu bündeln und sichtbarer zu machen.

HM: Ich glaube, dass es auch aus einer strategischen Überlegung von Fachpolitik wichtig ist, ein politikwissenschaftliches Handbuch zu haben, um ernst genommen zu werden innerhalb der Disziplin. Die Ausschlüsse sind ja manchmal auch subtil. Um zu sagen „Wir gehören zum Fach“, ist es wichtig, eine fachwissenschaftliche Publikation zu Geschlechterfragen zu haben.

Wenn diese Dimension bislang komplett fehlt, dürfte euer Buch ja auch dazu beitragen, die Wissensproduktion im Fach grundsätzlich zu kritisieren, oder geht das zu weit?

IN: Nein, genau darum geht es. Schon Eva Kreisky und Birgit Sauer haben prominent formuliert, dass die Politikwissenschaft Teilbereiche ihres Gegenstandes verheimlicht, indem sie die Geschlechterverhältnisse ausblendet. Klassisches Beispiel: Wenn ich Bereiche, die als ‚privat‘ gelten, aus dem Politischen bzw. aus dem, was in der Politikwissenschaft als ‚Politik‘ untersucht wird, ausgrenze, dann ignoriere ich Teile meines Gegenstandsbereiches. Obwohl in diesen Bereichen zentrale gesellschaftliche Arbeit stattfindet und diese konstitutiv für Ungleichheitsverhältnisse sind, erscheinen sie als ‚unpolitisch‘ bzw. politikwissenschaftlich nicht relevant. Das ist erst einmal eine erkenntnistheoretische Kritik. Der Staat ist z.B. Gegenstand der Politikwissenschaft, aber wenn die männliche bzw. heteronormative Konstruktion dieser Idee nicht hinterfragt wird, dann werden Teile von Macht- und Herrschaftsverhältnissen nicht zur Sprache gebracht, die es politikwissenschaftlich zu analysieren gilt.

Die werden dann, wie ihr in eurer Einleitung schreibt, „verheimlicht“?

FM: Die Frage ist: warum bleibt es „geheim“? Wenn feministische, erkenntnistheoretisch versierte Forscher:innen an diese Frage herangehen, wird sichtbar: Nicht durch Zufall ist dieses Wissen geheim, sondern es sind weibliche* und feministische Akteur:innen in der Geschichte marginalisiert worden – und zwar zum Teil tatsächlich persönlich und nicht nur durch allgemeine, abstrakte Strukturen. Das ist ein innerhalb der feministischen und kritischen Politikwissenschaft durchaus breit erforschtes Phänomen, das aber von den meisten Teilbereichen der Politikwissenschaft nicht stark wahrgenommen wird. Es ist immer die Frage: Um wessen Wissen geht es hier und wer bestimmt darüber, welches politikwissenschaftliche Wissen in die Lexika, Handbücher und Forschungsdesigns einzieht? Und es ist immer noch eine aktuelle Aufgabe, diese Zusammenhänge kritisch zu reflektieren. Unser Handbuch hat den Anspruch, Einblicke in eine feministische Politikwissenschaft zu ermöglichen, die vielfältige queere_, post/dekoloniale, rassismus- und ableismuskritische sowie intersektionale Perspektiven umfasst. Wir hoffen, dass der Begriff „Feminismus“ sich so breit und heterogen wie möglich in dem Living Handbook wiederfindet. Dabei sind wir uns bewusst, dass unser Projekt „auf den Schultern“ der Geschlechterforschung vorausgehender Jahrzehnte steht. Auf der Basis ihrer Vorarbeiten verstehen wir Feminismus und Geschlechtertheorie heute breiter und diverser.

Wie spiegelt sich das in den Inhalten des Handbuchs?

FM:  Hierbei ist wichtig zu betonen, dass sich das aktuelle Inhaltsverzeichnis auf die Printversion bezieht. Und die Printversion ist weder erschöpfend noch so differenziert, wie wir uns das auf lange Sicht wünschen. Sie ist erst der Anfang des langfristig angelegten Living Handbook auf der digitalen Plattform, die jetzt eröffnet wird. Hier wird es zukünftig laufend neue und das Feld feministischer Politikwissenschaft immer wieder erweiternde Beiträge geben. Allgemein ist uns wichtig, dass wir bestehende Einteilungen der Politikwissenschaft nicht einfach reproduzieren, sondern ausdrücklich zeigen, inwiefern sich die feministische, kritische und auch selbstkritische wissenschaftliche Auseinandersetzung immer wieder diesen Fragen stellen muss: Von welchem Standpunkt aus, von welcher Perspektive aus wird etwas betrachtet und was genau bedeutet das für diese Verortung?

Ihr versucht also auch, die eigene Verstrickung in Machtverhältnisse einzubeziehen.

HM: Ja, wir haben versucht, dem Rechnung zu tragen, auf verschiedene Weise. Auf einer ganz pragmatischen Ebene ist dem etwa die Entscheidung geschuldet, dass wir die Printausgabe nicht Handbuch nennen, weil uns bewusst war, dass so viele Aspekte noch fehlen. Wir Herausgeber:innen sind bspw. alle weiß, wir haben versucht hier explizit dagegen zu arbeiten, indem wir gezielt Beiträge angefragt haben von Forschenden of Color. Zugleich sehen wir aber auch, dass aufgrund von Marginalisierung bestimmte Personen besonders überlastet sind. Ich würde auch konkret sagen: Marginalisierungen gehen nicht dadurch weg, indem man bewusst versucht, Leute anzusprechen oder zu sagen „Wir wollen bestimmte marginalisierte Perspektiven sichtbar machen“. Es ist eben auch nachwievor eine strukturelle Frage bzw. eine Machtfrage, wer und welche Themen in der Politikwissenschaft ‚anerkannt‘ und karrieretauglich sind.

IN: Wir haben auch nicht nur Artikel von denen angefragt, die schon in vielen politikwissenschaftlichen Publikationen mit Schwerpunkt Geschlechterforschung repräsentiert sind, sondern auch weniger etablierte Kolleg*innen. Natürlich ist es uns damit auch nicht gelungen marginalisierter Perspektiven umfänglich einzuschließen. Ich würde auf jeden Fall sagen: Das ist ein nicht abgeschlossenes Projekt, das aber durch die Form die Möglichkeit bietet, noch einmal Korrekturen vorzunehmen oder den Gegenstand zu erweitern. Dadurch dass es sich als Living Handbook weiterentwickelt, hat es auch das Potenzial, eine politische Aushandlung über den Fachgegenstand in sich zu tragen.

„Living Handbook“ bedeutet, es gibt weiterhin die Möglichkeit, selbst beizutragen, potenzielle Autor:innen können sich an euch wenden?

HM: Im Prinzip ja. Auf jeden Fall sind wir da offen und hoffen, dass wir das ausweiten können. Welche Themenfelder fehlen, das müssen nicht nur wir uns überlegen, sondern die politikwissenschaftliche Community dürfte gerne mit uns überlegen, welche Bedarfe da noch bestehen.

 

Das Handbuch Politik und Geschlecht, herausgegeben von Christine M. Klapeer, Johanna Leinius, Franziska Martinsen, Heike Mauer und Inga Nüthen, ist auch als Living Handbook online verfügbar und wird im Rahmen des Fördervorhabens 16TOA037 mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung im Open Access bereitgestellt.

Die Printfassung erschien am 17. Juni 2024 im Verlag Barbara Budrich.

Literatur

 

Klapeer, Christine M.; Leinius, Johanna; Martinsen, Franziska; Mauer, Heike & Nüthen, Inga (2024). Politik und Geschlecht. Perspektiven der politikwissenschaftlichen Geschlechterforschung. Reihe Politik und Geschlecht (Bd. 34). Leverkusen: Verlag Barbara Budrich. https://doi.org/10.2307/jj.16063713

 

Zitation: Franziska Martinsen, Heike Mauer, Inga Nüthen im Interview mit Sandra Beaufaÿs: Das Living Handbook „Politik und Geschlecht“: Eine Intervention in den Fachdiskurs, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 18.06.2024, www.gender-blog.de/beitrag/living-handbook-politik-und-geschlecht/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20240618

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Prof. Dr. Franziska Martinsen

ist Professorin für Politische Theorie an der Universität Duisburg-Essen. An der Leibniz Universität Hannover habilitierte sie sich im Fach Politikwissenschaft. 2017 bis 2021 war sie Mitglied im Sprecher*innenrat der Sektion Politik und Geschlecht. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Politischen Theorie und Ideengeschichte, insbes. feministische, postfundamentalistische und postkoloniale Demokratie-, Gerechtigkeits- und Menschenrechtstheorien.

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Dr. Heike Mauer

ist Politikwissenschaftlerin und forscht an der Koordinations- und Forschungsstelle des Netzwerks Frauen- und Geschlechterforschung NRW an der Universität Duisburg-Essen zu Hochschule und Gleichstellung. Von 2016 bis 2021 war sie Mitglied im Sprecher*innenrat der Sektion Politik und Geschlecht. Für ihre Forschungen zu Intersektionalität, Rechtspopulismus und Antifeminismus ist ihr 2019 der Preis für exzellente Genderforschung des Landes NRW verliehen worden.

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Dr. Inga Nüthen

ist zurzeit Vertretungsprofessor*in für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Konstitution und Politik von Geschlechterverhältnissen an der Universität Münster. Sie promovierte im Fach Politikwissenschaft. 2018 bis 2022 war sie Mitglied im Sprecher*innenrat der Sektion Politik und Geschlecht. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Feld der queer_feministischen politischen Theorien, LGBTI*Q+ Studies sowie queer-feministischer Perspektiven in der historisch-politischen Bildung.

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Dr. Sandra Beaufaÿs

ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Koordinations- und Forschungsstelle des Netzwerks Frauen- und Geschlechterforschung NRW an der Universität Duisburg-Essen. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Wissenstransfer sowie bei den Themen Geschlechterverhältnisse in Wissenschaft, Professionen und Arbeitsorganisationen.

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Kommentare

Victoria | 08.07.2024

Ich finde die Anregung von Franz Jedlicka interessant, innerhalb der Gender Studies den Fokus auf die Entstehung friedlicher Männlichkeiten zu legen - gerade in Zeiten wie diesen ..!

 

LG Victoria

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