01. Februar 2022 Andrea Reichenberger
2019 veröffentlichte Springer Nature das erste maschinengenerierte Buch über Lithium-Ionen-Batterien. Anstelle des Namens einer Autorin/eines Autors ziert das Buchcover der Name eines Algorithmus: Beta Writer. Wie Springer Nature schreibt, bietet der „Buchprototyp einen Überblick über die neueste Forschung auf dem schnell wachsenden Gebiet der Lithium-Ionen-Batterien“. Er solle den Forschenden helfen, „die Informationsflut in diesem Fachgebiet effizient zu bewältigen“ (Springer Nature).
Was in der Öffentlichkeit als Sensation gefeiert wurde, ist keineswegs überraschend. Es ist schon lange bekannt, dass KI-Software Bücher schreiben kann, und zwar billiger als menschliche Wissenschaftler*innen. Die entscheidende Frage ist jedoch, ob dies ein Weg ist, Wissen und Verständnis zu fördern und kritisches Denken zu üben oder ob es sich lediglich um ein mechanisches Verpackungs- und Vertriebssystem handelt, einen Versuch, Informationen automatisch zu katalogisieren und neu zu ordnen.
Logikerinnen im Fokus: warum und wozu?
Ein Forschungsteam von der FernUniversität in Hagen (Andrea Reichenberger, Jens Lemanski, Claudia Anger) nahm den UNESCO-Welttag der Logik zum Anlass, um in einem Workshop für einen sehr viel kritischeren Umgang mit von Algorithmen reproduzierten Informationen einzutreten und gleichsam ein Gegengewicht zu setzen, nämlich einen Fokus auf den herausragenden Beitrag von Frauen zur intellektuellen Geschichte, der konzeptionellen Bedeutung und den praktischen Implikationen der Logik als Mutter und Grundlage für die heutige digitale Welt. Kurz gesagt: Es war das erklärte Ziel des Workshops „Female Logicians: Their Impact on Modern Logic“, der am 14. Januar 2022 virtuell an der FernUniversität in Hagen stattgefunden hat, die Rolle von Frauen in der Logik als Akteurinnen des Wandels und der Innovation zu würdigen. Organisiert wurde der Workshop von Jens Lemanski und Andrea Reichenberger, zusammen mit Claudia Anger, die im Bereich Logik promoviert. Auf dem Programm standen Vorträge von Wissenschaftler*innen aus Deutschland, den USA und Großbritannien, die sich kritisch mit der außerordentlichen Rolle von Logikerinnen in der Geschichte und mit der Philosophie der Logik auseinandersetzen.
Gemeinschaftsleistung statt Geniekult
„Die Einbindung von Frauen in die Geschichte der Logik ist ein wichtiger Beitrag zur Gendersensibilität und Vielfalt in Forschung und Lehre“, erklärte Dr. Andrea Reichenberger in ihrer Begrüßungsrede. „Der Beitrag von Logikerinnen wurde im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert systematisch marginalisiert und ignoriert. Viele Ergebnisse von Logikerinnen blieben unveröffentlicht, wurden erst Jahre später veröffentlicht oder als Leistungen ihrer männlichen Kollegen dargestellt.“ Der Workshop sollte deshalb für eine neue Perspektive werben: „Es geht nicht darum, einem männlichen Geniekult einen weiblichen entgegenzusetzen, sondern um ein neues Verständnis dessen, was Logik war und ist: ein kollektives Unternehmen“, so Reichenberger. „Und es geht darum, die Beiträge von Frauen als Teil von Wissenskulturen und wissenschaftlichen Gemeinschaften in der Logik und ihrer Geschichte zu untersuchen.“ Die Vergangenheit neu zu schreiben, davon ist Reichenberger überzeugt, hilft, eine gleichberechtigtere Zukunft zu gestalten.
Perspektivenvielfalt stärken
Ziel des Workshops war es, Herausforderungen und Perspektiven für eine bessere Integration von Frauen in die Geschichte und Philosophie der Logik zu thematisieren und zu diskutieren. Dabei bot der Workshop insbesondere Nachwuchswissenschaftler*innen die Chance, ihre Arbeit international renommierten Expert*innen vorzustellen. Die Auswahl der Themen und Inhalte der Vorträge war bewusst breit angelegt. Der Workshop begann mit zwei Vorträgen von Jasmin Özel (Leipzig) und Claudia Anger (Hagen) über Christine Ladd-Franklins Algebra of Logic aus dem Jahr 1883, eine Arbeit, die lange Zeit im Schatten von Charles Sanders Peirce, George Boole, William Stanley Jevons, Ernst Schröder u. a. stand. Heute wird die amerikanische Philosophin, Mathematikerin und Feministin Christine Ladd-Franklin wiederentdeckt. Ein weiteres Beispiel aus einer anderen Zeit und einem anderen Fachgebiet sind Margaret Mastermans frühe Arbeiten zu Logik, Sprache und maschineller Übersetzung, über die Siobhan Chapman (Liverpool) vortrug. Frederique Janssen-Lauret (Manchester) stellte Ruth Barcan Marcus’ Arbeiten zur Modallogik vor und John David Loner (Cambridge) setzte sich mit Alice Ambroses Rolle in der US-amerikanischen Frauenbildung der Nachkriegszeit auseinander. Und schließlich richtete Elena Ficara (Paderborn) einen provokativen Blick auf Logik und Diskriminierung anhand von Val Plumwoods Beiträgen zur parakonsistenten Logik.
Gleichstellung in der digitalen Transformation?
Es ist verlockend, sich vorzustellen, was passieren würde, wenn wir Beta Writer benutzen würden, um einen Text über die Philosophie und Geschichte der Logik zu schreiben. Warum? Weil die Philosophie allgemeine und grundlegende Fragen stellt und diskutiert, wie die nach der Existenz, der Vernunft, dem Wissen, den Werten, dem Körper und dem Geist, dem Denken und der Sprache? Oder weil die Philosophie alle Wissensgebiete und alle Bereiche der Wissenschaft umfasst, zumindest aus historischer Sicht? Nun, keineswegs. Das wäre keine große Herausforderung für Beta Writer. Die eigentliche Herausforderung für Beta Writer wäre es, eine Einführung in die Philosophie und Geschichte der Logik in einer geschlechtersensiblen und antidiskriminierenden Weise zu schreiben. Dies ist eine Aufgabe, mit der auch Wissenschaftler*innen und akademische Autor*innen ständig konfrontiert sind. Algorithmen reproduzieren Geschlechterstereotype und kanonisierte Lesarten, für die wir, die wissenschaftlichen Gemeinschaften, verantwortlich sind. Wie könnte und sollte eine geschlechtersensible Philosophie und Geschichte der Logik aussehen und praktiziert werden? Wie können digitale Werkzeuge genutzt werden, um Logikerinnen in Geschichte und Gegenwart besser sichtbar zu machen? Diese u. a. Fragen wurden zum Abschluss in einer Podiumsdiskussion mit Francine F. Abeles (Kean University, USA), Carolin Antos-Kuby (Konstanz) und Ursula Martin (Edinburgh, Oxford) diskutiert.
Ausblick
In den letzten Jahrzehnten wurden große Anstrengungen unternommen, um Frauen und Mädchen für die Wissenschaft zu begeistern und zu gewinnen. Dennoch sind Frauen und Mädchen nach wie vor von einer umfassenden Beteiligung an der Wissenschaft ausgeschlossen. Auf allen Ebenen der MINT-Disziplinen (Wissenschaft, Technologie, Ingenieurwesen und Mathematik) besteht nach wie vor ein erhebliches Geschlechtergefälle. Um die Gleichstellung der Geschlechter und die Stärkung der Rolle von Frauen in der Wissenschaft zu fördern, hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen 2015 den 11. Februar zum Internationalen Tag der Frauen und Mädchen in der Wissenschaft erklärt. Und am 14. Januar begeht die UNESCO jährlich den Welttag der Logik. Dieser soll zur Förderung einer Kultur des Friedens, des Dialogs und des gegenseitigen Verständnisses im Schnittfeld von Wissenschaft und Bildung beitragen. Ziel des Hagener Workshops „Female Logicians: Their Impact on Modern Logic“ war es, beide Leitlinien miteinander zu verbinden und für eine gendersensitive Kultur des Dialogs in der Logik zu werben.
Zitation: Andrea Reichenberger: Geschichte schreiben – Zukunft ändern. Logikerinnen und ihr Einfluss, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 01.02.2022, www.gender-blog.de/beitrag/logikerinnen-und-ihr-einfluss/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20220201
Beitrag (ohne Headergrafik) lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz
Kommentare
Dr. Elke Timm | 01.02.2022
Vielen Dank für diesen anregenden und neugierig machenden Artikel. Nur eine kleine Korrektur: MINT ist die Abkürzung für Mathematik-Informatik-Naturwissenschaft-Technik. Die verwendeten Begriffe in der Klammer sind m.E. nicht deckungsgleich.