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Headergrafik: Barricade de la Place Blanche, défendue par des femmes pendant la semaine sanglante - Lithographie, Musée Carnavalet (gemeinfrei).

Forschung

Die Zeit der Kirschen. Louise Michel und die Pariser Commune

16. März 2021 Florence Hervé

Vom 18. März bis zum 28. Mai 1871 dauerte die Pariser Commune, deren 150. Jahrestag wir in diesem Jahr begehen. Eine Symbolfigur dieser revolutionären Pariser Stadtregierung ist die Lehrerin und Freiheitskämpferin Louise Michel (1830–1905). Der Volksdichter und Mitstreiter Jean-Baptiste Clément (1836–1903) widmete den Frauen auf den Barrikaden von Paris das Lied „Die Zeit der Kirschen“ (Le temps des cerises), das heute zum französischen Kulturerbe gehört. Die Pariser Commune sollte 72 Tage dauern, so wie die Zeit der Kirschen: eine kurze, spektakuläre Blütezeit, doch keine Reifezeit für ein sozialistisches Experiment.

In ihrer Geschichte der proletarischen Frauenbewegung schrieb Clara Zetkin über die Pariser Commune: „Zum ersten Male riß in einem Lande das Proletariat mit kühnem Sinn und starker Faust die Staatsmacht an sich. Dem gewaltigen Ereignis fehlte nicht der typische Wesenszug jeder elementaren Revolution: die Beteiligung breiter Frauenmassen" (Zetkin 1928/1958). Die besondere Rolle der Pariser Frauen ist heute inzwischen anerkannt (Schrupp 1999). Was haben sie erreicht?

Frauenfeindliche Verhältnisse

Frankreich 1870. Das Land befindet sich in einer tiefen politischen und ökonomischen Krise. Es ist es eine Zeit der Ausbeutung, des sozialen Elends und der Armut. Frauen arbeiten oft 13 Stunden täglich, verdienen aber nur die Hälfte des Männerlohns. Um zu überleben, müssen viele Arbeiterinnen sich prostituieren – man nennt es „das fünfte Viertel des Tages“. Hinzu kommen die elendigen Wohnverhältnisse. Viele Männer sind Alkoholiker und gewalttätig: „Sklave ist der Proletarier, Sklave aller Sklaven ist die Frau des Proletariers“, schreibt die Kommunardin Louise Michel in ihren Memoiren (Michel 1886/2017, 92). Frauenfeindlichkeit und Sexismus sind weit verbreitet und gesellschaftlich akzeptiert. So gibt es für den bekannten Anarchisten Pierre-Joseph Proudhon (1809–1865) nur zwei Rollen für die Frau: „Hausfrau oder Kurtisane!“

Frankreich steht zudem in einem verlustreichen Krieg mit dem Norddeutschen Bund unter Führung Preußens. Die Ereignisse überstürzen sich: Niederlage in Sedan (2. September 1870), Sturz des französischen Kaiserreichs, Besetzung Frankreichs durch die preußische Armee. Paris ist umzingelt, friert und hat Hunger. Am 26. Februar 1871 wird der so genannte „Vorfrieden“ in Versailles mit dem Abtreten von Elsass und Lothringen und der Auferlegung einer enormen Schuldenlast geschlossen. Paris ist empört.

Als die Truppen der nach dem Waffenstillstand gewählten neuen französischen Regierung unter Leitung des konservativen Rechtsanwalts Thiers die Waffen der Nationalgarde (die diese während des deutsch-französischen Kriegs behalten hatte) in Montmartre zurückholen wollen, schlagen die Frauen Alarm. Sie treten den Regierungssoldaten entgegen und zwingen sie zum fluchtartigen Rückzug aus Paris nach Versailles, dem Sitz der neuen Regierung: Paris ist in den Händen des Volkes. Ende März finden in Paris erstmals demokratische Wahlen statt, es konstituiert sich der revolutionäre Rat der Commune.

„Schluss mit der alten Welt! Wir wollen frei sein!"

Frauen haben entscheidenden Anteil an dieser ersten Arbeiterregierung der Welt (Rey/ Limoge-Gayat/ Pépino 2018). Sie debattieren in Frauen- und gemischten Klubs (das Rederecht haben sie sich erkämpft). Sie organisieren selbstverwaltete Werkstätten, übernehmen die Neugestaltung des Erziehungswesens, sind aktiv in den Wachsamkeitskomitees und in der Frauenunion zur Verteidigung von Paris und zur Pflege der Verwundeten. In ihrem Appell Anfang April 1871 heißt es: „Schluss mit der alten Welt! Wir wollen frei sein!“ In allen Arrondissements von Paris bilden sich revolutionäre Frauenkomitees. „Die Frauen fragten sich nicht, ob etwas möglich, sondern ob es nützlich wäre, dann gelang die Durchführung,“ schreibt Louise Michel zum politischen Handeln der Frauen in der Pariser Commune (Michel 1898/2020, 131). Sie stehen schließlich auf den Barrikaden, trotz männlicher Proteste.

Mitgewirkt haben mehrheitlich Arbeiterfrauen, Wäscherinnen, Marketenderinnen, Sanitäterinnen. Die meisten Anführerinnen aber waren Lehrerinnen und Journalistinnen, unter ihnen Russinnen und Polinnen. Eines verband sie: der Wunsch nach einer geschlechtergerechten Gesellschaft und die Liebe zur Freiheit und zur Revolution.

Louise Michel

Die bis heute bekannteste Kommunardin ist die Lehrerin und Schriftstellerin Louise Michel (Hervé 2021). Ihr widmeten Dichter wie Victor Hugo (1802–1885) und Paul Verlaine (1844–1896) Verse, Maler wie Jules Girardet (1856–1938), Félix Vallotton (1865–1925) und Théophile Steinlen (1859–1923) Bilder (vgl. Rétat 2019).

1830 als außereheliches Kind eines Dienstmädchens und eines Schlossherren geboren, engagiert sie sich früh für Frauenrechte und stieg 1871 auf die Barrikaden der Pariser Commune. Nach der gewaltsamen Niederschlagung der Commune wird Louise Michel mit anderen Kommunardinnen angeklagt und zusammen mit Nathalie Le Mel zehn Jahre in die französische Strafkolonie Neukaledonien im Westpazifik verbannt. Dort lernt sie die Sprache der polynesischen Bevölkerung, die sich Kanaken nennt, schreibt ihre Legenden auf, arbeitet an einem kanakischen Wörterbuch und steht 1878 auf Seiten der Kanaken bei ihrem Aufstand gegen die französische Kolonialmacht (Geber 2018).

1880 wird Louise Michel amnestiert und kehrt nach Frankreich zurück. Sie mischt sich als Anarchistin wieder in die Politik ein, schreibt Prosa und Gedichte. Sie wird mehrmals verhaftet. Bis zu ihrem Tod setzt sie sich für die Unterdrückten ein. Louise Michel stirbt am 9. Januar 1905 in Marseille. 120.000 Menschen kamen zu ihrer Beerdigung.

Trotz unterschiedlicher Auffassungen, u. a. in der Bewertung von Frauen- und Klassenfragen, waren sich die Kommunardinnen bezüglich der Strategie der notwendigen gemeinsamen und zugleich autonomen Kämpfe einig – sie entwickelten sozusagen einen frühen intersektionalen Ansatz.

Errungenschaften

In den 72 Tagen der Commune werden rund 250 Dekrete verkündet. Sie regeln u. a. die Trennung von Staat und Kirche und die Staatsbürgerschaft von Ausländer*innen. Frauen erhalten das Recht auf Schulausbildung, die Zulassung zum Studium, die Möglichkeit, als Lehrerinnen an Schulen berufen zu werden. Die erste Lehrwerkstatt für Mädchen ab zwölf Jahren wird eröffnet. Genossenschaften werden gebildet und übernehmen die von ihren Besitzern verlassenen Werkstätten. Die Nachtarbeit wird für einzelne Berufsgruppen verboten, der Zehn-Stunden-Arbeitstag eingeführt.

Ehe und Lebensgemeinschaft werden rechtlich gleichgestellt, ebenso außereheliche und eheliche Kinder. Neunzehn Bordelle werden geschlossen, der Menschenhandel soll bekämpft werden.

Lohngleichheit und Kinderkrippen

Die Zeit reicht allerdings nicht aus, um Forderungen nach Lohngleichheit und Kinderkrippen durchzusetzen. Im politischen Bereich wird eine kommunale Basisdemokratie eingeführt. Frauen sind in allen wichtigen Kommissionen aktiv. Aber der Rat der Commune bleibt ein Rat der Männer: Unter den 90 Mitgliedern befindet sich keine einzige Frau. Frauen erkämpften sich zwar das Recht auf politische und bürgerrechtliche Aktion, vom allgemeinen, gleichen Wahlrecht und den politischen Gremien bleiben sie jedoch ausgeschlossen. Erst um die Jahrhundertwende sollte der Kampf um das Frauenwahlrecht wieder im Vordergrund der Frauenbewegungen stehen.

Louise Michel setzt sich in ihrem Buch „Die Commune“ auch kritisch mit den Fehlern auseinander: „Die Commune hätte triumphiert, wenn sie es gewagt hätte, sich der Schätze, die allen gehörten, zu bedienen, um sie für die Allgemeinheit einzusetzen“ (Michel 1898/2020, 148).

Erbe

Die Pariser Commune wirkte und wirkt nachhaltig auf revolutionäre Ereignisse der Geschichte und der Gegenwart, gerade in Sachen Frauenrechte- und Kämpfe. Angefangen von der Oktoberrevolution in Russland (1917) und den Arbeiter- und Soldatenräten während der Novemberrevolution in Deutschland (1918/19), über die Barrikaden der französischen Résistance gegen die deutsche Besetzung 1944 bis hin zur Selbstverwaltung der Region Chiapas (Mexiko) und der International Commune of Rojava in Kurdistan (Syrien). Die Pariser Commune zeigt, dass der Kampf um eine andere, gerechte Gesellschaft international und zugleich ein Kampf um Frauenrechte ist. Es ging und geht um die Suche nach Alternativen zum kapitalistischen und patriarchalischen System.

Mehr zu Louise Michel und zur Pariser Commune im soeben erschienenen Band von Florence Hervé (Hg.), Louise Michel oder: die Liebe zur Revolution, Berlin: Dietz 2021.

Literatur

Hervé, Florence (2021), Louise Michel oder: die Liebe zur Revolution“, Berlin: Dietz.

Geber, Eva (2018), Louise Michel. Die Anarchistin und die Menschenfresser, Wien: bahohe books.

Michel, Louise (2017), Memoiren. Erinnerungen einer Kommunardin, Münster: unrast.

Michel, Louise (2019), Texte und Gedichte, hg. von Eva Geber, Wien: bahohe books.

Michel, Louise (2019), La Révolution en contant. Histoires, contes et légendes. Edition et présentation par Claude Rétat, Saint-Pourçain-sur-Sioule: Bleu autour.

Michel, Louise (2020), Die Pariser Commune, Wien: Mandelbaum Verlag Michael Baiculescu.

Rétat, Claude (2019), Art vaincra! Louise Michel, l'artiste en révolution et le dégout du politique, Saint-Pourçain-sur-Sioule: Bleu autour.

Schrupp, Antje (1999), Nicht Marxistin und auch nicht Anarchistin. Frauen in der Ersten Internationale, Königstein im Taunus: Ulrike Helmer.

Rey, Claudine/ Limoge-Gayat, Annie/Pépino, Sylvie (2018), Petit dictionnaire des femmes de la Commune de Paris, 1871: les oubliées de l'histoire, Editions Le bruit des autres: Limoges.

Thomas, Edith (1963), Les "petroleuses", Paris: Edition Gallimard.

Zitation: Florence Hervé: Die Zeit der Kirschen. Louise Michel und die Pariser Commune, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 16.03.2021, www.gender-blog.de/beitrag/louise-michel-pariser-commune/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20210316

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© Headergrafik: Barricade de la Place Blanche, défendue par des femmes pendant la semaine sanglante - Lithographie, Musée Carnavalet (gemeinfrei).

Dr. Florence Hervé

Dr. Florence Hervé studierte Sprachen in Bonn und Heidelberg sowie Germanistik an den Universitäten Paris VIII (Vincennes) und Paris X (Nanterre). Als Journalistin, Autorin und Dozentin tätig, seit 1979 Herausgeberin des Kalenders "wir frauen". Seit über 50 Jahren in der Frauenbewegung aktiv - u.a. im Arbeitskreis Emanzipation Bonn, Mitgründerin der Demokratischen Fraueninitiative und der Zeitschrift wir frauen, sowie in der Internationalen Demokratischen Frauenföderation.

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