04. Februar 2025 Büşra Kahraman
Weltweit gibt es circa 7 000 Sprachen. Auch in Ländern mit singulären offiziellen Landessprachen verwenden Minoritäten oder zugezogene Personen unterschiedliche Sprachen. Das Zusammentreffen von einer Vielzahl an Sprachen kann auch zu einer Vermischung dieser führen. Oft beeinflussen Sprecher_innen mit diversen Sprachkenntnissen die Varietäten von Slangs, die im Alltag zu hören sind und sich permanent aktualisieren.
Queer Language – eine Geheimsprache
Zu den weniger bekannten Slang-Varietäten gehören die sogenannten Queer Languages, also Sprachen bzw. Slangs, die von LGBTQ+ Personen gesprochen werden. Die Lavender Linguistics (oder LGBT Linguistik) erforscht diesen Bereich. Obwohl wenig Forschung und Dokumentation in diesem Bereich vorhanden sind, gilt es als sicher, dass ca. seit dem sechzehnten Jahrhundert Menschen, die als LGBTQ+ oder queer (avant la lettre) bezeichnet werden können, ihre eigenen Sprachregister geschaffen haben (Anna T. 2014). Einige Varietäten besitzen einen umfangreichen Wortschatz, sodass man ausschließlich in ihnen sprechen kann. Häufig haben sie allerdings keine ausgeprägte Grammatik oder Syntax, sodass sie nicht unbedingt als eigenständige Sprache bezeichnet werden können (Anna T. 2014).
Anna T. beschäftigt sich in ihrer Forschung mit elf solcher Slang-Varietäten. Zu diesen gehören: Polari aus Großbritannien, Kaliarnta aus Griechenland, Pajubá aus Brasilien, Swardspeak von den Philippinen, Bahasa Binan aus Indonesien, IsiNgqumo und Gayl aus Südafrika, Hijra Farsi aus Indien, Ókhchit aus Israel, Gayspeak aus der englischsprachigen Welt und Lubunca aus der Türkei. In ihrer Arbeit nutzt sie u. a. das postkoloniale Konzept der Opazität (opacity), ein von Édouard Glissant entlehnter Begriff. Glissant weist mit diesem darauf hin, dass die Kernelemente der Kreolsprache, die durch die versklavten Menschen der Karibik entstand, neben der Kommunikationsfunktion vor allem die Funktion einer Verschleierung besitzen. Die Entstehung dieser Sprache begünstigte zudem die Entwicklung von Identität und Gemeinschaft der versklavten Menschen (Anna T. 2020; Glissant 1997).
Ursprung der ältesten Queersprache
Lubunca (auch Lubunyaca) kann als Queersprache bezeichnet werden (Bilal 2024). Mit einer Geschichte von weit über vierhundert Jahren ist es gleichzeitig die älteste erfasste Slang-Varietät (Anna T. 2014). Die Ursprünge gehen bis in das Osmanische Reich zurück. Eine genaue Nachverfolgung der zeitlichen und örtlichen Entstehung ist nicht möglich, da es nicht genügend Aufzeichnungen gibt. Es konnten jedoch einige Fragmente des Wortschatzes in wenigen osmanischen Schriften gefunden werden, obwohl Lubunca damals noch nicht diesen Namen trug. Zu jener Zeit sei die Sprache u. a. von jungen männlichen Badehausangestellten verwendet worden, die mit dem Einseifen und Abstreifen der Kunden beauftragt waren und oft auch als Prostituierte arbeiteten (Kontovas 2012).
Das heute verwendete Lubunca ist wahrscheinlich um die Wende zum 20. Jahrhundert in den Straßen Istanbuls entstanden bzw. wieder aufgetaucht, weil es hier eine große Konzentration von queeren Menschen, trans* Personen und Sexarbeiter_innen gab. Es entstand wahrscheinlich in Vierteln, in denen wirtschaftlich, sexuell und rassistisch marginalisierte Bevölkerungsgruppen lebten (Kontovas 2012). Lubunca wird auch heute aufgrund seiner essenziellen Funktion der Geheimhaltung vor allem in der Sexarbeit verwendet. Aber auch außerhalb wird Lubunca in den LGBTQ+-Communities genutzt. Trotzdem bleibt Sexarbeit ein zentraler Bestandteil seiner Geschichte. Das zeigt auch die Wortbedeutung von Lubunca (Bilal 2024). Es leitet sich von dem Lubunca-Wort lubun ab, einer verkürzten Form des Wortes lubunya, das für „gay, queer, fairy“ steht, und von dem Romani-Wort lubni, das weibliche Prostituierte bedeutet (Kontovas 2012).
Ein Kaleidoskop an Sprachen
Lubunca besteht aus etwa 400 Wörtern (Bilal 2024). Ein wesentlicher Teil der Lexeme ist aus dem Standardtürkisch abgeleitet. Als Beispiele können hier formal unveränderte Lexeme wie yazmak genannt werden, das Schreiben bedeutet, im Lubunca jedoch wichtig/von Bedeutung heißt. Andere Wörter sind modifiziert wie gullüm, das angelehnt ist an das Türkische gülmek (lachen), in Lubunca aber für Spaß/lustige Zusammenkunft steht. Es gibt weitere Wortspiele und Modifizierungen, mit denen aus türkischen Wörtern neue Lubunca-Wörter entstanden sind. Durch die unterschiedlichen Minderheiten, die sich in Istanbul niedergelassen haben, hat sich die lexikalische Zusammensetzung durch weitere Sprachen erweitert und erzeugt somit auch eine multilinguale Komponente. Andere Wortgeberinnen (meist in modifizierter Form) sind die folgenden Sprachen: Romani, Französisch, Griechisch, Englisch, Armenisch, Ladino, Arabisch, Italienisch, Bulgarisch, Kurmanji, Spanisch und Russisch. Die Wurzeln einiger Wörter bleiben jedoch weiterhin unbekannt (Kontovas 2012).
Sprache als sicherer Hafen
Lubunca ist eine konstruierte, geheime Sprache, die ursprünglich geschaffen wurde, um die Identität ihrer Nutzer_innen zu verbergen. Ihre zentrale Funktion ist also der Schutz der Sprecher_innen durch Geheimhaltung. Sie fungiert als „linguistic concealer“ und bietet einen „safe haven“, in dem nur ihre Sprecher_innen kommunizieren können (Çakar 2023). Diesen sicheren Hafen nutzen nicht ausschließlich, aber insbesondere Sexarbeiter_innen, bei denen es häufig zu Begegnungen mit den Strafverfolgungsbehörden kommt. Aber auch außerhalb der Sexarbeit schützt Lubunca Mitglieder der LGBTQ+-Gemeinschaft in der Türkei. Betroffene berichten von Begegnungen, in denen Lubunca eine schützende Funktion hatte. Zum Beispiel kann die Verwendung des Wortes Paparon, das in Lubunca Polizei bedeutet, um auf Ordnungskräfte hinzuweisen, das Risiko einer Auseinandersetzung mit diesen verringern (Çakar 2023). Wie andere Geheimsprachen auch agiert Lubunca also in einer Art Undurchsichtigkeit (opacity), um marginalisierten Personen einen Existenzraum und Sicherheit zu geben (Anna T. 2014). Allerdings ist Lubunca auch in der Türkei ein wenig bekanntes Phänomen. Das liegt daran, dass es eine Geheimsprache ist, die selbst unter queeren Menschen in der Türkei nur begrenzt etabliert ist (Çakar 2023). Trotz der geringen Bekanntheit dieser Slang-Varietät erhielt Lubunca 1999 mit dem Spielfilm Lola und Bilidikid Eingang in die deutsche Medienlandschaft.
Lubunca heute
Die ursprünglich zur Geheimhaltung geschaffene Sprache entwickelte sich heute auch zu einem Symbol des LGBTQ+-Aktivismus der Türkei und wird als Zeichen der Sichtbarkeit und Akzeptanz gefeiert. Durch das Schreiben in Lubunca (z. B. auf Protestplakaten) machen Aktivist_innen Lubunca im öffentlichen Diskurs in der Türkei sichtbarer. Lubunca dient nicht mehr nur der Verschleierung von Kommunikation, sondern ist entscheidend bei der Identitäts- und Gemeinschaftsbildung. In dieser Funktion wird es auch von den einflussreichsten LGBTQ+-Organisationen der Türkei wie KAOS GL und Pembe Hayat genutzt. Die identitätsstiftende Funktion wird auch dadurch deutlich, dass einige Sprecher_innen sich als Lubunya bezeichnen. Mit diesem Wort wurden zuvor „effeminate gay male“ in Lubunca bezeichnet, heute besitzt es aber die Bedeutung von queer (Çakar 2023). Diese Selbstidentifikation als Lubunya verstärkt die Bedeutung von Lubunca als Mittel zum Ausdruck der queeren Identität (Çakar 2023).
Slang-Varietäten ermöglichen nicht nur einen sicheren Sprechraum für Marginalisierte, sondern auch eine Sprache, die eine Nähe zwischen den Sprecher_innen herstellt und humorvolle Momente erzeugen kann (Anna T. 2014). Neben diesen Funktionen kann Lubunca auch strategisch eingesetzt werden, um sich dominanten Machtstrukturen zu widersetzen und gesellschaftliche Normen und somit Heteronormativität in Bezug auf Geschlecht und Sexualität infrage zu stellen. Sprecher_innen können sich somit der Macht und Kontrolle der türkischen Mehrheitsgesellschaft widersetzen (Çakar 2023).
Neue Medien – neue (Verbreitungs-)Räume
In letzter Zeit hat sich Lubunca vor allem durch die sozialen Medien verbreitet, wodurch auch das Fortbestehen des Slangs gefördert wurde. Es findet zwar durch die sozialen Medien Eingang in den Mainstream, sodass immer häufiger Wörter wie madi/madilik (schlecht, verpfuscht, Fälschung etc.) in der Alltagssprache von türkischsprechenden Personen zu hören sind, oft bleibt aber der Ursprung dieser Wörter, Lubunca selbst und die Entstehungsgeschichte auch in der Türkei weitgehend unbekannt. Der unreflektierte Gebrauch von Lubunca, der die Geschichte und Funktion dieser Sprechweise ignoriert und es als reines Unterhaltungsmedium sieht, wird deshalb auch kritisiert. Gizem Bilal weist darauf hin, dass so das Symbol des Widerstandes Gefahr läuft, zu einem bloßen Mittel der Unterhaltung zu werden. Die entpolitisierte Ausbreitung des Lubunca würde dann die sicheren Sprachräume der Sexarbeiter_innen gefährden.
Literatur
Bilal, Gizem (2024): Parler le Lubunca. Une ethnographie des pratiques langagières des travailleuses du sexe trans’ en Turquie. Varia, 16. https://doi.org/10.4000/120h5
Glissant, Édouard (1997): The Poetics of Relation. Herausgegeben von Betsy Wing. University of Michigan Press.
Friederici, Angela D. & Poeppel, David: Sprache. Verfügbar unter: https://www.mpg.de/sprache (letzter Zugriff: 10.01.2025).
Çakar, Burak Alp (2023): Lubunca in Social Transition: A Sociolinguistic Analysis of the Secret Queer Language. M.A. thesis. Vytautas Magnus University, Kaunas. Verfügbar unter: https://hdl.handle.net/20.500.12259/254142 (letzter Zugriff: 10.01.2025).
Kontovas, Nicholas (2012): Lubunca: The Historical Development of Istanbul’s Queer Slang and a Social-Functional Approach to Diachronic Processes in Language. M.A. thesis. Indiana University, Bloomington.
T., Anna (2014): The Opacity of Queer Languages. E-flux journal, 60. Verfügbar unter: https://www.e-flux.com/journal/60/61064/the-opacity-of-queer-languages/ (letzter Zugriff: 10.01.2025).
T., Anna (2020): Opacity – Minority – Improvisation. An Exploration of the Closet Through Queer Slangs and Postcolonial Theory. Transcript Verlag. https://doi.org/10.14361/9783839451335
Zitation: Büşra Kahraman: Lubunca: Sprache zwischen Geheimhaltung und Identitätsstiftung, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 04.02.2025, www.gender-blog.de/beitrag/lubunca/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20250204
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Kommentare
Katharina Tolle | 05.02.2025
Danke für diesen super-spannenden Beitrag! Ich habe viel gelernt!