Skip to main content
Headergrafik: Iven O. Schlösser/Adobe-Stock -- Leipzig, Germany - November 07, 2020: Counter-demonstrators / Left-wing demonstrators in Schiller Park

Themenwochen , Macht

Die Macht des Autoritären. Herausforderung für demokratische Geschlechterverhältnisse

24. Oktober 2022 Gabriele Wilde

Der Wahlsieg der italienischen Neofaschistin Giorgia Meloni, seit 2014 Vorsitzende der rechtsradikalen Partei Fratelli d’Italia, steht für einen weiteren Schritt hin zu einer politischen Entwicklung, die den autoritären Rechtspopulismus als weltweite Regierungsform und weitreichende Regierungsrationalität zu einem sichtbaren Bestandteil politischer Wirklichkeit werden lässt. Weniger offensichtlich sind hingegen die machtvollen Impulse, die das Autoritäre zu einem gesellschaftlichen Ereignis machen und anhand einer Verknüpfung von Narrativen zu Volk, Gender und Migration zur Umgestaltung von demokratischen Geschlechterverhältnissen beitragen.

Wie das Beispiel des Wahlprogramms der Alternative für Deutschland (AfD 2021) zeigt, wirkt eine anwachsende und stetig lauter werdende autoritär-populistische Rechte in öffentlich initiierten Kulturkämpfen auf das Denken und Handeln von Bürger*innen ein. Mit ihren Diskursen zur Familie als „Keimzelle der Gesellschaft“ (AfD 2021, 102) und zum Geschlecht als eine biologische Kategorie greifen sie demokratische Geschlechterverhältnisse an und schaffen durch den Bezug auf das Geschlecht in seiner intersektionalen Verbindung mit weiteren Differenzkategorien wie race, ethnicity und class die Möglichkeit, das Autoritäre als ein neues, geschlechtliches Machtdispositiv in der Gesellschaft zu verankern (Wilde 2021).

Familiendiskurse im Dienst einer sicheren Gesellschaft

Die Transformation von Geschlechterverhältnissen erfolgt vor allem über ein Familienmodell, das aus „Vater, Mutter und Kindern“ (AfD 2021, 102) besteht. Errichtet als „Werte- und Bezugssystem“ (ebd.) bündelt die politische Strategie der ‚Re‘-Traditionalisierung Projektionen unterschiedlichster menschlicher Sehnsüchte für „Sicherheit, Obhut, Heimat, Liebe und Glück“ (ebd.) und präsentiert sich so als Garant für Geborgenheit und Ordnung in einer zunehmend globalisierten, pluralisierten und heterogenen Welt (Wilde 2022).

Gespielt wird offen mit Anti-Gender-Frames wie etwa „Genderwahn“ (AfD 2021, 111), um sowohl rechtsextreme als auch konservative Stimmen zu gewinnen und politische Macht zu erlangen. Diese Frames dienen vor allem dazu, neue Bedeutungen von Gleichstellung und Partizipation in den öffentlichen Diskurs einzuspeisen. Nicht nur in Deutschland, sondern weltweit diffamiert der autoritäre Rechtsdiskurs das Gleichstellungsrecht als „Gender-Ideologie“ (ebd., 152) und bezeichnet Gender-Mainstreaming-Maßnahmen als Strategie, um heteronormative Geschlechterrollen abzuschaffen und damit den Menschen über die „von der Natur gesetzten Grenzen“ (ebd., 112) hinaus umzugestalten. Aus dieser Perspektive wird Gleichstellungspolitik zu einem Synonym für die kontrollierte Zerstörung traditioneller Geschlechterrollen und Familienkulturen und erscheint allenfalls im Rahmen einer „aktivierenden, also geburtenfördernden Familienpolitik“ (ebd.) als legitim. So gelingt es autoritären Populist*innen nicht nur in Deutschland, Vorstellungen einer natürlichen Geschlechterordnung in der Gesellschaft erfolgreich zu verankern und zu stabilisieren.

Antimigrationsdiskurse im Dienst einer ‚sauberen‘ Gesellschaft

Diskursive Praktiken der Normalisierung verschränken die Geschlechterdifferenz über die enge Bindung an die Familie hinaus mit anderen Differenzkategorien wie race, ethnicity und class, um Anti-Migrationspolitiken zu legitimieren, wie etwa die Vorgänge in der Silvesternacht gezeigt haben (Dietze 2016). Verknüpfungen der kulturellen Identität mit einer geburtenfördernden Familienpolitik und der Forderung einer identitätswahrenden Migrationspolitik in den Narrativen des Autoritären begünstigen nicht nur das Aufkommen von Verschwörungserzählungen und Ausbrüchen des Irrationalen im Sinne von Triebneigungen und Affekten (Mishra 2017), sondern offenbaren das eigentlich demokratiegefährdende Grundmotiv des autoritären Populismus: die ‚Säuberung‘ der Gesellschaft von aller Differenz.

Die damit einhergehende neue binäre Codierung zwischen dem Eigenen und vermeintlich Fremden, die derzeit nicht nur in der bundesrepublikanischen Gesellschaft, sondern in allen liberalen Demokratien westlicher Prägung zu beobachten ist, gelingt anhand von autoritären Diskursen, die Emotionen wie Angst und Unsicherheit hervorrufen und vor allem diejenigen Bürger*innen, die keine Komplexität aushalten, manipulierbar machen (Applebaum 2021, 23). So führt der Bezug auf das Geschlecht nicht nur zu neuen diskursiven Umdeutungen von Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit, sondern dient zur Legitimation von Rassismus und Heterosexismus.

Identitätsdiskurse im Dienst einer geschlossenen Gesellschaft

Im Zuge der Anti-Corona-Proteste konnten auch zivilgesellschaftliche Gruppen, Medien und Akteur*innen zunehmend davon überzeugt werden, in ihren Diskursen verstärkt (Hetero-)Sexismus, Rassismus und Antisemitismus als „Diskriminierungsoperatoren“ (Dietze 2016, 94) einzusetzen, um politischen Hass zu organisieren, Fremdenfeindlichkeit zu schüren und gegen Geschlechtergleichstellung zu agitieren.

Aussagen zur Antidiskriminierung verbinden sich mit einer radikalen Staatskritik, die auf die Entmachtung des Rechtsstaates zielt und mit Verschwörungsnarrativen verwoben ist. Damit einhergehend lässt sich eine „Dekultivierung der Mittelschicht“ (Speit 2021) beobachten, indem die immer lauter werdenden Corona-Protestbewegungen unterschiedlichste Milieus und Gruppen wie etwa Impfgegner*innen, Esoteriker*innen, Menschen, die sich der politischen Linken zugehörig fühlen und Reichsbürger*innen zusammenbringen und ein zunehmend aggressives und unziviles Verhalten fördern (Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat 2021). Autoritäre Organisationen und Bewegungen setzen immer mehr „antiliberale und antidemokratische Positionen in Gesellschaft und Politik“ (ebd., 74ff.) durch, radikalisieren gesellschaftliche Debatten insbesondere über soziale Medien wie Facebook, Instagram, Twitter und Telegram und forcieren auf diese Weise den Abbau ideologischer Tabuzonen.

Das Autoritäre als geschlechtliches Machtdispositiv – ein Fazit

Das Autoritäre wirkt auf gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse durch ein politisches Handeln ein, das in Form einer „Verkettung“ (Foucault 2001, 44) diskursiver Praxen auf unterschiedlichen Ebenen und in Netzwerken der Zivilgesellschaft, der politischen Öffentlichkeit und familialen Privatheit zirkuliert. Etabliert wird damit ein neues geschlechtliches Machtdispositiv, das mit der Betonung auf Familie und der Verknüpfung mit Migration die Bedeutungen von Partizipation, Repräsentation und Gleichstellung entscheidend verschiebt.

Die Anschlussfähigkeit vieler zivilgesellschaftlicher Organisationen an die autoritäre Rechte verdeutlicht, dass sich antifeministische Diskurse und Haltungen etabliert haben und in Form von Hassreden, Morddrohungen und zunehmender Gewalt gegen Frauen*, BIPoC, Queers und alle, die nicht zur Gruppe weißer deutscher Männer gehören, erheblichen und bleibenden Einfluss auf die demokratischen Grundlagen der Gesellschaft nehmen (vgl. Land Nordrhein-Westfalen 2021).

Denn letztendlich zerstören rechtsautoritäre Diskurse in Verbindung mit Gender-Narrativen die politische Öffentlichkeit als einen „konfliktreichen Raum“ (Rancière 2019, 15), aus dem die Pluralität kultureller und geschlechtlicher Identitäten zunehmend verdrängt und die Politisierung geschlechtlicher Differenz- und Machtverhältnisse verhindert wird. Die Schließung des Öffentlichkeitsraumes, die Instrumentalisierung der Zivilgesellschaft und die Verbannung des Geschlechterdiskurses in die familiale Privatheit sind die Folgen autoritärer Diskurse und Praxen, mittels derer die Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft angegriffen und nachhaltig beschädigt werden – das haben nicht nur die Tumulte vor dem Berliner Reichstag am 30. August 2020 und der Angriff auf das US-amerikanische Kapitol am 6. Januar 2021 nachdrücklich gezeigt.

Literatur

AfD (2021): Deutschland. Aber normal. Programm der Alternative für Deutschland für die Wahl zum 20. Bundestag.

Applebaum, Anne (2021): Die Verlockung des Autoritären. Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist. München.

Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (2021): Verfassungsschutzbericht 2020. Berlin.

Dietze, Gabriele (2016): Ethnosexismus. Sex-Mob-Narrative um die Kölner Silvesternacht. In: movements. Journal für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung, 2(1), 177–185.

Land Nordrhein-Westfalen (2021): Verfassungsschutzbericht 2020.

Foucault, Michel (2001): In Verteidigung der Gesellschaft. Berlin.

Mishra, Pankaj (2017): Politik im Zeitalter des Zorns. Das dunkle Erbe der Aufklärung. In: Heinrich Geiselberger (Hg.): Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Berlin, S. 175–196.

Rancière, Jacques (2019): An den Rändern des Politischen. Wien.

Speit, Andreas (2021): Verqueres Denken: Gefährliche Weltbilder in alternativen Milieus. Berlin.

Wilde, Gabriele (2021): Die Macht der Gesellschaft. Das Autoritäre im Kontext von (Geschlechter-)Differenz und Konfliktualität. In: Manon Westphal (Hg.): Agonale Demokratie und Staat. Baden-Baden, S. 253–275.

Wilde, Gabriele (2022): Mit allen Folgen für die demokratische Gesellschaft: Gender-Narrative im AfD-Wahlprogramm 2021. In: Femina Politica. Zeitschrift für Feministische Politikwissenschaft, 1/2022, 119–123. https://doi.org/10.3224/feminapolitica.v31i1.12

Zitation: Gabriele Wilde: Die Macht des Autoritären. Herausforderung für demokratische Geschlechterverhältnisse, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 24.10.2022, www.gender-blog.de/beitrag/macht-des-autoritaeren/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20221024

Beitrag (ohne Headergrafik) lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz Creative Commons Lizenzvertrag

© Headergrafik: Iven O. Schlösser/Adobe-Stock -- Leipzig, Germany - November 07, 2020: Counter-demonstrators / Left-wing demonstrators in Schiller Park

Prof. Dr. Gabriele Wilde

Gabriele Wilde ist Professorin für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Theorie und Politik der Geschlechterverhältnisse an der Universität Münster. Zudem ist sie Gründerin und Herausgeberin der Femina Politica, Sprecherin des interdisziplinären Zentrums für Europäische Geschlechterstudien (ZEUGS) und Leiterin der Forschungsgruppe „Zum Konzept der Gouvernementalität“ der Graduiertenschule am Institut für Politikwissenschaft (GraSP).

Zeige alle Beiträge
Netzwerk-Profil Prof. Dr. Gabriele Wilde

Schreibe einen Kommentar (max. 2000 Zeichen)

Es sind max. 2000 Zeichen erlaubt.
Die E-Mailadresse wird nicht veröffentlicht.
Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Kommentare werden von der Redaktion geprüft und freigegeben.