21. Januar 2025 Anne Rauber
Mädchen müssen viel Zeit, Geld und mentale Arbeit aufbringen, um sich um ihre Verhütung zu kümmern. Durch diese Verhütungsarbeit sind Mädchen bereits in ihrer Jugend in das Verteilungssystem von Ressourcen und damit in Care-Ökonomien eingebunden. Dies ist das zentrale Ergebnis meiner empirischen Studie Caring Girlhood: Verhütung als Sorgearbeit von Mädchen (Rauber 2024), in die ich im Folgenden einen Einblick gebe.
Zur vergessenen Kategorie des Jugendalters im Kontext der Sorge
Wenn aus einer geschlechtersoziologischen Perspektive über Arbeitsteilung geschrieben und geforscht wird, wird in der Regel die von Frauen selbst ausgeübte oder an andere Frauen delegierte Sorgearbeit zentral behandelt (Riegraf 2019; Klinger 2014; Becker-Schmidt 1987; 2003; Beer 1990). Junge Menschen – Kinder und Jugendliche – werden dabei allenfalls als Adressat*innen und Empfänger*innen, nicht jedoch als Ausübende von Sorgearbeit verstanden (Becker-Schmidt 1987).
Werden junge Menschen mitgedacht, handelt es sich oftmals um die Mit- und Zuarbeit im Haushalt oder um die Versorgung von Geschwistern. Diese Arbeit delegieren Frauen überwiegend an ihre Töchter, während Jungen nicht in gleicher Weise in alltägliche Care-Tätigkeiten eingebunden werden (World Vision 2022: 29). Die Erkenntnis ist nicht zuletzt auch durch die Corona-Pandemie verstärkt diskutiert worden. Inwiefern Mädchen durch ihre Verhütungsarbeit bereits in ihrer Jugend in die geschlechtliche Arbeitsteilung der kapitalistischen Gegenwartsgesellschaft eingebunden sind, ist Gegenstand meiner Studie.
Die Verschreibung von Verhütungsmitteln kostet viel Zeit, Geld und mentale Arbeit
Der Zugang zu wirksamen, erschwinglichen und akzeptablen Methoden der Schwangerschaftsverhütung der persönlichen Wahl, gehört zu dem durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definierten Recht auf reproduktive und sexuelle Selbstbestimmung (Böhm/Voß 2023: 87; Helfferich 2013: 192). Dass diese persönliche Wahl in Deutschland eingeschränkt ist, unter anderem, weil Verhütungsmittel nicht kostenfrei verfügbar sind und die persönliche Wahl damit eher vom Portemonnaie als von persönlichen Präferenzen abhängt, wird immer wieder diskutiert und problematisiert (Richarz 2022: 49; Helfferich 2015: 10).
Ausgenommen von diesem Problem scheinen jedoch oftmals Mädchen und junge Frauen bis zum 22. Lebensjahr zu sein, denn bis zu diesem Alter übernehmen eigentlich die Krankenkassen die Kosten für Verhütungsmittel. Allerdings stellt es für Mädchen eine große Herausforderung dar, auch wirklich das präferierte Verhütungsmittel verschrieben oder finanziert zu bekommen, insbesondere, wenn es ein anderes Verhütungsmittel als die Pille sein soll.
Vorbereitungs- und Beziehungsarbeit
Für meine Studie habe ich problemzentrierte Gruppendiskussionen mit Mädchen und jungen Frauen im Alter von 14 bis 22 Jahren durchgeführt und mit der Grounded-Theory-Methodologie ausgewertet und analysiert.
Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass Mädchen mit Zugangsbarrieren konfrontiert sind, wenn sie Alternativen zur Pille wie etwa die Kupferkette oder die Hormonspirale verwenden wollen. Sie müssen ihren Wunsch, etwas anderes als die Pille zu verwenden, bei ihrem Arzt oder ihrer Ärztin zuerst durchsetzen. Mädchen bereiten sich dafür intensiv auf ein Beratungsgespräch vor. Sie sammeln Argumente, wägen ab, recherchieren, diskutieren vor Ort, beratschlagen sich mit ihren Freundinnen, holen sich Rat bei Erfahrenen oder nehmen teilweise auch einen Wechsel ihrer Ärztin oder ihres Arztes in Kauf, um ihren Wunsch durchzusetzen. Das alles kostet nicht nur viel Zeit, sondern vor allem mentale Arbeit, Vorbereitungs- und Beziehungsarbeit, die Mädchen im Verschreibungsprozess von Verhütungsmitteln investieren müssen.
Wiederkehrende Termine und finanzielle Abhängigkeiten
Für Mädchen bedeutet das auch, dass die Pille oftmals das für sie zugänglichste Verhütungsmittel ist, sie jedoch viel Zeit aufbringen müssen, um die Pille kontinuierlich verschrieben zu bekommen: Wiederkehrende Arzttermine, das Warten, Planen, Sprechen vor Ort: Der Verschreibungsprozess der Pille ist ein zeitaufwendiges Unterfangen. Des Weiteren investieren Mädchen viel Geld – auch wenn Verhütungsmittel für Mädchen und junge Frauen bis zum 22. Lebensjahre eigentlich von den Krankenkassen finanziert werden sollten, trifft das nicht immer zu.
Die Finanzierung von Verhütungsmitteln hängt vom Leistungskatalog der jeweiligen Krankenkasse ab. Insbesondere wenn Mädchen ein anderes Verhütungsmittel als die Pille verwenden wollen, können dadurch je nach Krankenkasse hohe Kosten anfallen. Zum Beispiel müssen 300 bis 500 Euro für eine Spirale aufgebracht werden – woher sollen junge Menschen dieses Geld nehmen? Dies führt dazu, dass Mädchen entweder auf die finanzielle Unterstützung ihrer Eltern angewiesen sind, sofern diese es sich überhaupt leisten können, oder für ein Verhütungsmittel wie die Spirale sparen müssen.
Strukturen der Sorge
Meine Studie zeigt, dass Mädchen durch den Verschreibungsprozess der Pille ein hohes Maß an zeitlichen Ressourcen aufbringen müssen, zudem monetäre Mittel und mentale Arbeit, um strukturelle Zugangsbarrieren zu alternativen Verhütungsmitteln zu überwinden. Die ökonomischen Ressourcen Zeit, Geld und mentale Arbeit werden in Abhängigkeit der Kategorien Jugendalter und Geschlecht asymmetrisch verteilt. Mädchen sind also durch ihre Verhütungsarbeit bereits in ihrer Jugend in das Verteilungssystem von Ressourcen und damit in Care-Ökonomien eingebunden (Meißner 2019; Bauhardt 2019; Klinger 2014; Knapp 2012).
Sie werden im Zuge dessen mit unterschiedlichen Anforderungen konfrontiert. Auf der einen Seite haben sie die Bestrebung, ein wirksames und erschwingliches Verhütungsmittel zu finden, das unter den bestehenden Strukturen oftmals die Pille ist. Die Verschreibung der Pille ist jedoch zeitintensiv und steht zudem teilweise konträr zu den Bestrebungen der Mädchen, den natürlichen Zustand ihres Körpers aufrechtzuerhalten und nicht durch Hormone in den Zyklus einzugreifen. Auf der anderen Seite werden Mädchen auf der Suche nach alternativen Verhütungsmitteln mit strukturellen Zugangsbarrieren konfrontiert, die diese Alternativen für sie entweder erschweren oder verunmöglichen. Für Mädchen bedeutet das, diese teilweise konträr verlaufenden Bestrebungen in der Waagschale zu halten und in einem Spannungsfeld zu agieren. Corinna (16 Jahre alt), beschreibt das so:
„Also ich empfind das irgendwie so n bisschen wie so n kleinen Teufelskreis? weil wie gesagt ich hab die Pille ja verschrieben bekommen weil ich extreme Menstruationsschmerzen hatte […] die Nebenwirkungen sind eigentlich mega doof für mich persönlich aber andererseits weiß ich jetzt halt auch nicht was für ne Alternative ich da halt noch offen hätte weils mir wirklich geholfen hat also das ist wirklich so n bisschen doof finde ich“ [Buntspecht-Gruppe: 437–454].
Sorgearbeit als Schattenarbeit – bereits in der Jugend von Mädchen
In einem Teufelskreis agieren und Dinge in der Schwebe halten zu müssen hat Regina Becker-Schmidt im Kontext der doppelten Vergesellschaftung von Frauen mit dem Begriff der Ambitendenz beschrieben (Becker-Schmidt 2003: 123). In Anlehnung an Becker-Schmidt ist die Sorgearbeit der Mädchen – als Vereinbarkeitsmanagement – durch entgegengesetzte Tendenzen (Ambitendenz) charakterisiert. Meine Studie zeigt, dass Mädchen Sorgearbeit als eine spezifische Form der Schattenarbeit in ihrer Geschlechtersozialisation vermittelt bekommen und sie den Modus dieser Sorgearbeit folglich weder erlernen noch einüben, sondern bereits aktiv verrichten (Hochschild 2006: 137). Das zentrale Stratifikationsphänomen der ungleich verteilten Sorgearbeit betrifft also nicht nur Frauen, sondern bereits Mädchen in ihrer Jugend.
Reproduktive Selbstbestimmung von Mädchen stärken
Die für die Studie befragten Mädchen und jungen Frauen haben viele Ideen geäußert, wie ihre reproduktive Selbstbestimmung gestärkt werden könnte. Vor allem erachten sie es als wichtig, die Zugangsbarrieren zu alternativen Verhütungsmitteln zur Pille zu minimieren. Dies gilt sowohl für die Finanzierung durch die Krankenkassen als auch für den Verschreibungsprozess durch Gynäkolog*innen. Des Weiteren ist die einseitige Auswahl an Verhütungsmitteln für Mädchen erklärungsbedürftig. Insbesondere die Nichteinführung der Pille für den Mann trägt dazu bei, dass Mädchen die Pille und ihre eigene Pilleneinnahme kritischer bewerten und unter dem Gesichtspunkt der Geschlechterungleichheit auch als Politikum verhandeln. Aus Sicht der Mädchen wäre es daher zum einen wichtig, in die Forschung über mögliche Verhütungsmittel für Jungen zu investieren und zum anderen durch mehr sexualpädagogische Projekte an Schulen darüber aufzuklären, dass die einseitige Verhütungsverantwortung ungerecht verteilt und kein ‚Mädchenproblem‘ ist.
Die Veränderungsbedarfe aus Sicht der Mädchen zeigen, dass eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Mädchenarbeit und Sexualpädagogik, (gynäkologischer) Beratung sowie Schule wichtig ist, um die reproduktive Selbstbestimmung von Mädchen zu stärken. Dabei ist es besonders relevant, die Stimmen von Mädchen zu stärken und ihre Deutungsweisen in den Mittelpunkt des (wissenschaftlichen sowie sozialarbeiterischen) Interesses zu rücken.
Die Studie von Anne Rauber Caring Girlhood – Verhütung als Sorgearbeit von Mädchen ist in der Buchreihe Geschlecht & Gesellschaft bei Springer VS erschienen.
Literatur
Bauhardt, Christine (2019): Feministische Ökonomiekritik: Arbeit, Zeit und Geld aus einer materialistischen Geschlechterperspektive. In: Kortendiek, Beate; Riegraf, Birgit; Sabisch, Katja (Hrsg.): Handbuch interdisziplinäre Geschlechterforschung, Band 1. Wiesbaden: Springer VS Verlag, S. 243–261.
Becker-Schmidt, Regina (2003): Umbrüche in Arbeitsbiografien von Frauen: Regionale Konstellationen und globale Entwicklungen. In: Knapp, Gudrun-Axeli/Wetterer, Angelika (Hrsg.): Achsen der Differenz. Gesellschaftstheorie und feministische Kritik II. Münster: Verl. Westfälisches Dampfboot, S. 101–132.
Becker-Schmidt, Regina (1987): Die doppelte Vergesellschaftung – die doppelte Unterdrückung: Besonderheiten der Frauenforschung in den Sozialwissenschaften. In: Unterkircher, Lilo; Wagner, Ina (Hrsg.): Die andere Hälfte der Gesellschaft. Soziologische Befunde zu geschlechtsspezifischen Formen der Lebensbewältigung. Österreichischer Soziologentag 1985. Wien: Verl. d. Österr. Gewerkschaftsbundes, S. 10–25.
Beer, Ursula (1990): Geschlecht, Struktur, Geschichte. Soziale Konstituierung des Geschlechterverhältnisses. Frankfurt/New York: Campus.
Böhm, Maika; Voß, Heinz-Jürgen (2023): Sexuelle und reproduktive Rechte. In: Mantey, Dominik; Höblich, Davina (Hrsg.): Handbuch Sexualität und Soziale Arbeit, S. 87–94.
Helfferich, Cornelia (2015). Geringes Einkommen als Hürde zum Zugang zu Verhütung. pro familia magazin (3), 10–13.
Helfferich, Cornelia (2013). Reproduktive Gesundheit von Frauen. Eine Bilanz der Familien-planung in Deutschland. Bundesgesundheitsblatt, 56 (2), 192–198. https://doi.org/10.1007/s00103-012-1603-3
Hochschild, Arlie Russell (2006): Das gekaufte Herz. Die Kommerzialisierung der Gefühle. Erweiterte Neuausgabe. Frankfurt am Main: Campus.
Klinger, Cornelia (2014): Krise war immer… Lebenssorge und geschlechtliche Arbeitsteilung in sozialphilosophischer und kapitalismuskritischer Perspektive. In: Appelt, Erna; Aulenbacher, Brigitte; Wetterer, Angelika (Hrsg.): Gesellschaft. Feministische Krisendiagnosen. Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 82–104.
Knapp, Gudrun-Axeli (2012): Im Widerstreit. Feministische Theorie in Bewegung. Wiesbaden: Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-531-94139-4
Meißner, Hanna (2019): Marxismus und Kritische Theorie: Gesellschaft als [vergeschlechtlichter] Vermittlungszusammenhang. In: Kortendiek, Beate; Riegraf, Birgit; Sabisch, Katja (Hrsg.): Handbuch interdisziplinäre Geschlechterforschung, Geschlecht und Gesellschaft, Band 1. Wiesbaden: Springer VS, S. 243–252.
Rauber, Anne (2024): Caring Girlhood – Verhütung als Sorgearbeit von Mädchen. Wiesbaden: Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-46048-8
Richarz, Theresa Anna (2022): The state’s hands in our underpants: Rechtliche Regulierung von Reproduktion in Deutschland. In: Fröhlich Marie; Schütz, Ronja; Wolf, Katharina (Hrsg.): Politiken der Reproduktion. Umkämpfte Forschungsperspektiven und Praxisfelder, S. 47–67.
Riegraf, Birgit (2019): Care, Care-Arbeit und Geschlecht: gesellschaftliche Veränderungen und theoretische Auseinandersetzungen. In: Kortendiek, Beate; Riegraf, Birgit; Sabisch, Katja (Hrsg.): Handbuch interdisziplinäre Geschlechterforschung, Geschlecht und Gesellschaft, Band 1. Wiesbaden: Springer VS, S. 763–772. https://doi.org/10.1007/978-3-658-12496-0_172
World Vision Deutschland e.V. (2022): Folgen der Corona Krise: Kinder in Deutschland und Ghana 2022. 5. World Vision-Kinderstudie. Zugriff am 11.09.2024 unter: https://www.worldvision.de/sites/worldvision.de/files/pdf/World_Vision_informieren_institut_5.Kinderstudie.pdf.
Zitation: Anne Rauber: Vergeschlechtlichte Zuständigkeit: Mädchen leisten Sorgearbeit bei der Verhütung, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 21.01.2025, www.gender-blog.de/beitrag/maedchen-sorgearbeit-verhuetung/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20250121
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