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Debatte

Mädchen*arbeit reloaded – ein Einwurf

27. Oktober 2020 Peter Rüttgers

Die Landesarbeitsgemeinschaft Mädchenarbeit wünschte sich ein Update für die Mädchen*arbeit in NRW. In einem dreijährigen Prozess ist eine 115-seitige Handreichung entstanden, in der die gesellschaftlichen Themenfelder „Rassismus“ und „Vielfalt von Geschlecht“ miteinander verknüpft werden. Unter (queer)feministischen und differenzreflektierten Perspektiven versteht sich die Handreichung als ein Impuls für die Qualitätsentwicklung in der Mädchenarbeit. Intendiert ist, eine Praxis der antirassistischen Mädchenarbeit anzuregen mit dem Ziel, für geschlechtliche und sexuelle Vielfalt sowie gegen Sexismus einzutreten. Migrantische Mädchen stehen dabei im Mittelpunkt.

Im Folgenden geht es um eine kritische Auseinandersetzung mit der Handreichung vor dem Hintergrund praktischer Erfahrungen in der sexualpädagogischen Arbeit. Der zentrale Kritikpunkt bezieht sich darauf, dass der soziale Nahraum mit seinen prägenden und unter Umständen einschränkenden Strukturen für Mädchen nicht berücksichtigt wird.

Zentrales Problem Rassismus

Die Handreichung fasst Rassismus als gesellschaftliches Ordnungsmuster, das das Leben aller Menschen betrifft. Rassismus ist daher ein gesellschaftliches Strukturprinzip und Herrschaftsverhältnis, das Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen gewährt, zu Anerkennung und Zugehörigkeit.

Aus diesem Begriff von Rassismus folgt die zentrale Aufgabenbeschreibung im Sinne der Handreichung, die Situation migrantischer Mädchen unter intersektionaler Perspektive zu betrachten und rassismusfreie Räume zu etablieren:

„Es muss sich der Verantwortung gestellt werden, Empowerment von/für Mädchen* of Color als Aufgabe der Jugendarbeit anzunehmen. So können vielfältige Möglichkeitsräume entstehen, in denen Rassismuserfahrungen geteilt werden können und Vereinzelungen entgegengewirkt werden kann. Dafür braucht es eine reflexive Grundhaltung, die Mädchen*arbeit intersektional begreift und Rassismus als alltägliche Erfahrung von Mädchen* und jungen Frauen* of Color mitdenkt“ (Handreichung S. 19).

Die Handreichung stellt Rassismus als zentrales gesellschaftliches Machtverhältnis in den Mittelpunkt, das die Erfahrungen von migrantischen Mädchen als People of Colour bestimmt:

„Migrantische Mädchen/Mädchen of Color erleben alltäglichen sowie strukturellen Rassismus u. a. im Bildungs-, Gesundheitssystem und auf dem Wohnungsmarkt. Sie sind konfrontiert mit negativen Zuschreibungen und mit diskriminierenden Bildern. Sie werden zu ‚anderen‘ gemacht, indem sie zum Beispiel exotisiert werden oder ihnen von Seiten der Lehrer_innen weniger zugetraut wird und sie bei guten Noten dennoch nur eine Hauptschulempfehlung erhalten“ (Handreichung S. 96).

Sozialer Nahraum und Milieus als blinder Fleck

Aus der Perspektive der gesamtgesellschaftlichen Wahrnehmung migrantischer Mädchen als People of Colour und damit als unterprivilegiert und von Rassismus Betroffene, scheint in den Texten der Handreichung deren Situation umfassend beschrieben. Vollkommen ausgeblendet wird jedoch der soziale Nahraum, in dem die meisten (sexuellen) Gewalttaten geschehen. Obwohl migrantische Mädchen im Mittelpunkt der Handreichung stehen, wird an keiner Stelle darauf verwiesen, dass zahlreiche von ihnen in Milieus aufwachsen, in denen ein konservatives Islamverständnis vorherrscht. Dies ist in vielen Fällen damit verbunden, dass Mädchen einer strengen Kontrolle ihres Körpers unterliegen, was sich darin äußern kann, dass sie keine intime Beziehung eingehen dürfen, ihre Jungfräulichkeit bis zur Ehe eingefordert oder ihr Bewegungsraum kontrolliert und eingeschränkt wird und sie nicht die Möglichkeit haben, über eine Ehe selber zu entscheiden.

Eine Frage der Ehre

Zentral an diesen mit dem Islam begründeten  Vorstellungen und Einschränkungen ist der Begriff der „Ehre“, der Mädchen und Frauen von grundlegenden Rechten – auch mit Gewalt – ausschließt:

„Bereits eine freundschaftliche Beziehung zu einem Mann oder auch nur ein Small Talk in der Schule kann von der Familie als unehrenhaftes Verhalten ausgelegt werden. Eine außereheliche Beziehung bei fehlender Heiratsabsicht kann im Extremfall mit Gewaltandrohung oder Gewalt geahndet werden. Wenn der Bruder die Schwester nicht kontrolliert oder kontrollieren möchte, kann der Vater ihn ebenfalls bestrafen, weil er damit seiner Rolle nicht gerecht wird“ (Toprak 2019, S. 31f).

Nach diesen patriarchalen, sexistischen und heteronormativen Vorstellungen hat ein Mädchen (sexuell) zurückhaltend, gläubig und „rein“ zu sein. Unterstützt und verbreitet werden diese Vorstellungen noch durch religiöse Organisationen wie DITIB, die bereits Vorschulkinder zu einem Leben mit strenger Befolgung religiöser Vorschriften und Unterwerfung bei männlicher Vorherrschaft erziehen wollen.

Pädagogische Arbeit gegen Gewalt im Namen der Ehre

Die Kritik am Begriff der Ehre und den daraus folgenden Einschränkungen der Selbstbestimmung ist das zentrale Ziel verschiedener Institutionen und Projekte, wie z.B. den „Heroes“ aus Berlin:

„Patriarchale Strukturen und Vorstellungen von Ehre, die vor allem durch Erziehung weitergegeben werden, haben in diesem Zusammenhang eine hohe Bedeutung. Sie hindern Jugendliche aller Geschlechter an der freien Entwicklung ihrer Persönlichkeit und schränken die möglichen Lebensentwürfe ein. Sie sind nicht frei in der Entwicklung ihrer Sexualität und der Wahl ihrer Partner_innen […] Mädchen und Frauen werden oft in schwache Positionen gedrängt und in ihrer Selbstbestimmung stark eingeschränkt“ (von der Website strohhalm-ev.de über Heroes Berlin).

Papatya, eine anonyme Kriseneinrichtung für Mädchen und junge Frauen, ist ein spezielles Angebot für Mädchen nichtdeutscher Herkunft, die von ihrer Familie Gewalttaten befürchten, etwa im Falle einer drohenden Zwangsverheiratung, bei Gefahr, Opfer von Gewalt im Namen der Ehre zu werden, sie unter Misshandlungen und/oder sexueller Gewalt leiden oder Angst davor haben, ins Ausland abgeschoben zu werden:

„Viele der Mädchen und jungen Frauen, die sich an uns wenden, befürchten, ins Herkunftsland der Eltern verschleppt und dort zurückgelassen zu werden, wenn sie sich gegen die Heiratsabsichten ihrer Familie zur Wehr setzen oder die Familie erfährt, dass sie einen heimlichen Freund haben. Wenn sie erst einmal in der Türkei, im Irak, im Libanon oder einem anderen Land sind, meist ohne Pass und ohne Handy, sind sie ihrer Familie schutzlos ausgeliefert und können sich nur schwer dagegen wehren, einen ungeliebten Mann zu heiraten“ (von der Website Papatya).

Reduzierte Herrschaftskritik

Kritik an patriarchalen Vorstellungen von Ehre im Kontext des Islam zu üben, bedeutet weder zu behaupten, dass ähnliche Vorstellungen in anderen Kulturen, Traditionen oder Religionen nicht vorkommen, noch, dass alle Heranwachsenden aus Familien mit islamischen Glauben diesen Zwängen unterliegen. Diese Kritik nicht zu formulieren, würde allerdings bedeuten, Kinder und Jugendliche in ihrer rechtlosen Situation alleine zu lassen und ihnen die Möglichkeit zu nehmen, sexuelle und geschlechtliche Vielfalt leben zu können. Die Kritik an rassistischen Strukturen in der Handreichung ist gerechtfertigt und notwendig. Allerdings kann der ebenfalls formulierte Anspruch, intersektional vorzugehen, nicht eingelöst werden, wenn die für viele Mädchen zentralen und bestimmenden Einschränkungen nicht benannt werden. Die (deutsche) Gesellschaft erscheint in der Handreichung vor allem als durch Rassismus bestimmt, migrantische Mädchen dementsprechend als People of Color und als solche von Rassismus Betroffene.

Religion und Tradition

Doch neben Geschlecht und race bestimmen bzw. begrenzen auch Religion und Tradition individuelle Handlungsmöglichkeiten. Dass es in Deutschland dank des Kampfes verschiedener emanzipatorischer Gruppen gegenwärtig prinzipiell möglich ist, sexuelle und geschlechtliche Vielfalt ohne staatliche oder religiöse Bevormundung zu leben, wird in der Broschüre nicht erwähnt, ebenso wenig die Tatsache, dass Menschen über sexuelle Rechte verfügen; es gibt keinen Bezug zu einer emanzipatorischen oder menschenrechtsbasierten (Sexual-)Pädagogik. Wenn sexuelle Rechte in vielen Fällen nicht umgesetzt werden können, liegt das oft nicht an rassistischen Strukturen oder einer diskriminierenden Gesetzgebung und Gesellschaft. In vielen Fällen sind es vielmehr Praktiken von Religion und Tradition im Lebensumfeld, die nicht zulassen, dass diese Rechte beansprucht werden können. Dieser Zusammenhang wird in der Handreichung nicht berücksichtig oder erwähnt.

Literatur

Landesarbeitsgemeinschaft Mädchen*arbeit in NRW e. V. (2019): Mädchen*arbeit reloaded. Qualitäts- und Perspektiventwicklung (queer)feministischer und differenzreflektierter Mädchen*arbeit. Dokumentation des Prozesses Mächen*arbeit reloaded 2015–2017. Wuppertal, Bielefeld. http://www.maedchenarbeit-nrw.de/info/publikation/handreichung-11219.pdf [Zugriff am 09.10.2020]

Rüttgers, Peter (2019): Islamische Religionsvermittlung – konkret. Beobachtungen zur religiösen Ideologie von DITIB in Selbstdarstellungen und Kinderbüchern. Münster, Berlin: LIT.

Toprak, Ahmet (2019): Muslimisch, männlich, desintegriert. Was bei der Erziehung muslimischer Jungen schiefläuft (2. Auflage). Berlin: Econ.

Zitation: Peter Rüttgers: Mädchen*arbeit reloaded – ein Einwurf, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 27.10.2020, www.gender-blog.de/beitrag/maedchenarbeit-einwurf/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20201027

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Dr. Peter Rüttgers

Peter Rüttgers, Diplom-Pädagoge, Sexualpädagoge und -berater bei pro familia Duisburg. Arbeit mit Jugendlichen und MultiplikatorInnen zu sexuellen Rechten und Vielfalt sowie mit sexuell übergriffigen Jungen. Veröffentlichungen u. a. zur Ideologie von DITIB und Sexualität und Geschlecht in Jugendkulturen.

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