Skip to main content
Headergrafik: Freeda Michaux/Adobe Stock

Interview

Männlichkeit als Anrufung. Michael Meuser im Gespräch mit Sylka Scholz

29. September 2020 Michael Meuser Sylka Scholz

Im September 2020 beendet der Soziologe Michael Meuser seine aktive Laufbahn als Hochschullehrer. Er gilt im deutschsprachigen Raum als Pionier der Männlichkeitsforschung. 1998 erschien sein Buch „Geschlecht und Männlichkeit“, mittlerweile ein Grundlagenwerk. Sylka Scholz sprach mit ihm über die Entwicklung der Männlichkeitsforschung, über seine aktuellen Forschungen und zukünftigen Vorhaben.

In den 1990er-Jahren warst du einer der ersten Wissenschaftler, der im deutschsprachigen Raum im Hinblick auf den Wandel von Geschlechterverhältnissen systematisch nach der Rolle von Männern und Männlichkeiten gefragt hat. Ist Männlichkeitsforschung mittlerweile in der interdisziplinären Geschlechterforschung angekommen?

In den 90er-Jahren gab es sehr starke Diskussionen darüber, ob die Frage nach Männlichkeit überhaupt eine legitime Frage darstellt innerhalb der Geschlechterforschung. Diese Frage wird meiner Wahrnehmung nach nicht mehr gestellt. Es ist, denke ich, klar, dass, wenn man über Geschlechterverhältnisse forscht, dass da Forschung über Männlichkeit, Männlichkeitskonstruktionen, männliche Lebenslagen und so weiter, dass das ein zentraler Bereich ist. Und die Akzeptanz von Forschung über Männlichkeit innerhalb der Geschlechterforschung, gerade auch innerhalb der interdisziplinären Geschlechterforschung, diese Akzeptanz lässt sich auch sehr gut an einem Punkt deutlich ablesen, nämlich an der Karriere, die das Konzept der hegemonialen Männlichkeit von Raewyn Connell gemacht hat. Das ist ja ein Konzept, das von den Ursprüngen im Bereich der Männlichkeitsforschung angesiedelt ist, aber inzwischen zu einer – durchaus umstrittenen – Leitkategorie in der Geschlechterforschung geworden ist. Also da sehe ich eine deutliche Veränderung. Allerdings muss man aber auch sehen, dass es immer noch schwieriger ist, sich mit einem männlichkeitsbezogenen Thema in der Community der Gender Studies zu profilieren, als mit einem Thema, das eher in der Tradition der klassischen Frauenforschung etwa steht. Es gibt aber auch partielle Konjunkturen: Ein sehr prägnantes Beispiel in dem Zusammenhang ist der Boom der Väterforschung, der seit jetzt auch schon über zehn Jahren da ist und anhält. Bis zum Jahre 2005 etwa könnte man sagen, dass Väter in der Forschung gerade auch bezogen auf die geschlechtliche Dimension von Vaterschaft kaum behandelt wurden. Da hat sich mittlerweile eine große Forschungslandschaft entwickelt.

Deine Habilitationsarbeit „Geschlecht und Männlichkeit “ hat sich in der Empirie natürlichen Männergruppen zugewandt. In einem aktuellen Forschungsprojekt mit Diana Lengersdorf habt ihr noch einmal die Frage gestellt, die ihr damals in den 1990er-Jahren den Männergruppen gestellt habt, nämlich: „Was bedeutet es für euch, ein Mann zu sein?“ Was hat sich in den letzten 25 Jahren verändert?

Für das aktuell abgeschlossene Projekt war der Hintergrund gewesen, dass es in den letzten Jahrzehnten nicht nur einen Wandel der Geschlechterverhältnisse gegeben hat, sondern auch im Feld der Erwerbsarbeit zentrale Veränderungen stattgefunden haben. Insbesondere durch die Veränderung im Erwerbssystem wurde die Figur des Ernährers der Familie, die ja für ein traditionales hegemoniales Männlichkeitsverständnis ganz konstitutiv ist, mehr und mehr durch die realen Entwicklungen auch in der Arbeitswelt herausgefordert. Und in den Gruppendiskussionen in dem neuen Projekt ist sehr auffallend, dass diese Figur des Ernährers der Familie nach wie vor eine große Rolle spielt als Referenzpunkt für das männliche Selbstverständnis, dass aber der Bezug auf diese hegemoniale Männlichkeit kaum noch in einer fraglosen Weise möglich ist. Sehr viele beziehen sich positiv auf diese Figur, sehen darin auch ihr Selbstverständnis als Mann durchaus begründet, stehen aber gleichzeitig ganz offenkundig unter einem Druck, sich für diese Bezugnahme auf das traditionelle Männlichkeitskonzept rechtfertigen zu müssen. Es ist ein zentrales Ergebnis des Projektes, dass hegemoniale Männlichkeit immer noch stark präsent ist als Anrufung, der man sich nicht so einfach entziehen kann. Was aber mindestens genauso interessant ist: dass die Anrufung dieser hegemonialen Männlichkeit auch in solchen Gruppen von Männern präsent ist, wo diese Ernährerfigur kritisch gesehen wird, wo sie teilweise explizit abgelehnt wird. Wenn es zur Familiengründung kommt, dann wird deutlich, dass auch Männer, die sich sehr kritisch zu der klassischen Männlichkeitsrolle verhalten, sich dem dann letztendlich auch nicht mehr entziehen können.

Das Konzept der hegemonialen Männlichkeit wird sehr kritisch diskutiert. Wie siehst Du das?

Dieses Konzept der hegemonialen Männlichkeit halte ich durchaus immer noch für eine relevante Kategorie in der Geschlechterforschung. Allerdings ist die Frage zu stellen, inwieweit hegemoniale Männlichkeit sich in ihrer Ausprägung und in ihrer Gestalt auch verändert hat gegenüber der Zeit, in der Connell das Konzept entwickelt hat. Hinzu kommt, dass die Rolle des Ernährers der Familie nicht mehr nur ausschließlich im Sinne der ökonomischen Versorgung der Familie definiert wird, sondern, dass neue Dimensionen von Verantwortung hinzukommen: verantwortlich zu sein für das generelle Wohlbefinden etwa der Familie, dass die Familie glücklich ist, also nicht nur, dass sie ökonomisch versorgt ist, viele verbinden damit auch eine Verantwortung im Bereich der Kinderbetreuung. Dass man also hier die Frage aufwerfen müsste, wie das Verhältnis von hegemonialer Männlichkeit etwa sich darstellt zu dem ja vielfach diskutierten Konzept der Caring Men bzw. Caring Masculinities. Ist dieses Konzept eher als Gegenkonzept zur hegemonialen Männlichkeit zu verstehen oder impliziert die Art und Weise, wie hegemoniale Männlichkeit gegenwärtig eine Rolle spielt, dass Elemente von Caring Masculinities dort mit einbezogen sind?

Neben der Geschlechterforschung hast du dich in dem vergangenen Jahr sehr stark mit der Körpersoziologie beschäftigt.

Bei mir war es so, dass die Aufmerksamkeit für die Körpersoziologie aus dem Kontext meiner Geschlechterforschungsarbeit entstanden ist. Wenn man es auch darüber hinaus wissenschaftshistorisch betrachtet, denke ich, dass generell für die Entwicklung der Körpersoziologie die Geschlechterforschung eine wichtige Rolle gespielt hat. Und zwar kann man es inhaltlich sehr gut festmachen an Debatten, die in der Geschlechterforschung ja zentral immer noch geführt werden: welche Bedeutung die Verkörperung von Geschlecht hat, Diskussionen um das Verhältnis von Natur und Kultur, physische Materialität, symbolische Sinnwelten. Es sind ja alles Diskussionen, die sehr früh in der Geschlechterforschung geführt worden sind, und daraus sind wichtige Impulse entstanden für die Körpersoziologie generell. Die Körpersoziologie hat sehr deutlich dazu beigetragen, ein Bewusstsein zu schaffen, dass der Körper eine Grundeinheit des Sozialen ist, und das eben nicht nur im Bereich der Geschlechterverhältnisse, sondern darüber hinaus gehend. Welche Konsequenzen das hat auch für etablierte soziologische Theorietraditionen, etwa für die Handlungstheorie oder für die Praxistheorie?

Wenn du auf deine aktive Laufbahn als Hochschullehrer zurückblickst, was würdest du den nachfolgenden Wissenschaftler_innen mit auf den Weg geben? 

Dafür zu sorgen, dass man sich solide methodische Kompetenzen aneignet, und zwar entweder in der qualitativen oder in der quantitativen Methodologie oder auch in beiden. Das ist Teil meines Wissenschaftsverständnisses. Also, ich bin ein Soziologe, der sehr stark auf empirische Forschung ausgerichtet ist und theoretische Arbeit eben immer versucht rückzubinden an empirische Forschung. Ich finde das auch äußerst wichtig, dass es eine solide empirische Basis gibt innerhalb der Geschlechterforschung, gerade auch mit Blick auf Deutungen und Hypothesen, die oft sehr schnell vertreten werden, was bestimmte Geschlechterrelationen betrifft. Eine solide methodische Kompetenz ist aber auch wichtig in karrierestrategischer Sicht. Also, wenn jemand sich entschließt, eine akademische Karriere zu starten und im universitären System verbleiben möchte in ihrer/seiner Berufslaufbahn, dann ist es von ganz zentraler Bedeutung, solide methodische Kompetenzen zu haben. Allein schon vor dem Hintergrund, dass man ohne Einwerbung von Drittmitteln kaum noch eine Chance hat, im gegenwärtigen Wissenschaftssystem auf eine Professur zu gelangen. 

Das aktuelle Semester ist dein letztes Semester. Wirst du der Wissenschaft treu bleiben?

Ich werde jetzt nicht mit dem 1. Oktober aus der Welt der Wissenschaft verschwinden, allein schon deswegen nicht, weil jetzt gerade ein neues DFG-Projekt gestartet ist, das ich zusammen mit Ulrike Mietzner beantragt habe. Der Titel lautet „'Projekt Kind'. Elterliche Konstruktion des Kindes in seiner Geschlechtlichkeit“. Es geht darum, welche Erwartungen Eltern haben bezüglich der Entwicklung ihres Kindes, was sie unter einem „gelungenen Kind“ verstehen. Wir wollen untersuchen, inwieweit diese Vorstellungen wiederum geschlechtlich konnotiert sind, also die Geschlechterdimension nach wie vor auch heute noch eine Rolle spielt bezogen auf die Erwartungshaltung der Eltern gegenüber dem Kind. Darüber hinaus gibt es unter anderem aktuell die Arbeit an der zweiten Auflage des Handbuchs Körpersoziologie, das ich mit Gabriele Klein und Robert Gugutzer herausgebe. Worauf ich mich freue, ist, meine Energie auf die inhaltliche Arbeit verwenden zu können und die anderen organisatorischen und verwaltungstechnischen Aufgaben nicht mehr zu haben. Das ist etwas, was ich durchaus positiv sehe.

Zitation: Michael Meuser im Interview mit Sylka Scholz: Männlichkeit als Anrufung. Michael Meuser im Gespräch mit Sylka Scholz, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 29.09.2020, www.gender-blog.de/beitrag/maennlichkeit-anrufung/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20200929

Beitrag (ohne Headergrafik) lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz Creative Commons Lizenzvertrag

© Headergrafik: Freeda Michaux/Adobe Stock

Prof. Dr. Michael Meuser

Michael Meuser ist Professor für die Soziologie der Geschlechterverhältnisse an der Technischen Universität Dortmund. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der Geschlechterforschung, Wissenssoziologie, Soziologie des Körpers, Familiensoziologie, Methoden der qualitativen Sozialforschung.

Zeige alle Beiträge

Prof. Dr. Sylka Scholz

Sylka Scholz ist Professorin für qualitative Methoden und Mikrosoziologie an der Universität Jena. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in der Geschlechterforschung, insbesondere der Männlichkeitsforschung und in der Familiensoziologie.

Zeige alle Beiträge
Profilseite Prof. Dr. Sylka Scholz

Schreibe einen Kommentar (max. 2000 Zeichen)

Es sind max. 2000 Zeichen erlaubt.
Die E-Mailadresse wird nicht veröffentlicht.
Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Kommentare werden von der Redaktion geprüft und freigegeben.