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Interview

#Me too in Science revisited – Bekämpfung sexualisierter Gewalt an Hochschulen

29. Juli 2025 Ursula Müller Sandra Beaufaÿs

Der Druck auf Hochschulen und Wissenschaftsorganisationen, sich mit sexualisierter Diskriminierung und Gewalt (SDG) auseinanderzusetzen, hat sich – nicht zuletzt durch die #Me-Too-Debatte – in den letzten Jahren deutlich erhöht. In der Buchreihe Geschlecht & Gesellschaft ist jetzt ein Sammelband erschienen, der mit Fokus auf juristische Debatten und aktuelle Praxisbeispiele das Thema facettenreich behandelt. Mitautorin Ursula Müller hat sich den Verflechtungen von Macht und sexualisierter Diskriminierung und Gewalt an Hochschulen bereits vor mehr als 30 Jahren gewidmet. Mit ihr sprach Sandra Beaufaÿs über Diskurswandel und (neue) Benachteiligungen.

Lässt sich ein Zeitpunkt benennen, zu dem das Thema sexualisierte Diskriminierung und Gewalt in Arbeitskontexten der BRD aufkam und auch beforscht wurde?

Ursula Müller: Eine breite öffentliche und wissenschaftliche Thematisierung von sogenannter ‚sexueller Belästigung am Arbeitsplatz‘ gab es im deutschen Sprachraum bereits in den frühen 1990er-Jahren. Die erste große Untersuchung, die diesen Diskussionsprozess maßgeblich anregte, wurde von 1987 bis 1989 im Auftrag des BMJFFG am Landesinstitut Sozialforschungsstelle Dortmund (heute ZE der TU Dortmund) unter Leitung von Sibylle Plogstedt und mir durchgeführt (BMJFFG 1991). Die Formulierung ‚SDG‘ ist allerdings wesentlich neueren Datums und hat sich in längeren Diskussionsprozessen entwickelt. Bereits in der feministischen Debatte der 1980er-Jahre wurde infrage gestellt, dass es bei ‚sexueller Belästigung‘ in erster Linie um Sexualität geht.  Diese Position wurde aber im vorherrschenden Diskurs jener Zeit überwiegend vertreten, was die Chancen von Betroffenen, gehört zu werden, stark beeinträchtigte.  Konsensuell war verbreitet,  bei SDG gehe um fehlgeleitete Annäherungsversuche, für die die Betroffenen Verständnis haben sollten. Dass es sich, insbesondere am Arbeitsplatz, nicht in erster Linie um eine ‚aggressive‘ Form von Sexualität handelt, sondern um sexualisierte Herabsetzungsstrategien, wurde erst viel später anerkannt. Als strafrechtlicher Tatbestand galt übergriffiges Verhalten nur, wenn es sich um Machtmissbrauch handelte, bspw. von Vorgesetzten an nachgeordneten weiblichen Beschäftigten, insbesondere Auszubildenden.

Machtmissbrauch in Zusammenhang mit SDG ist ja zurzeit ein großes Thema an Hochschulen. Haben Sie damals in Ihrer Pionierstudie bereits Anhaltspunkte gefunden, dass Abhängigkeitsbeziehungen eine Rolle spielen?

Wir haben Daten zur positionsbezogenen Konstellationen von SDG in Betrieben erhoben. Belästigungen kamen in allen Personenkonstellation vor, auch von gleich zu gleich, etwa in traditionell „männlich“ konnotierten Berufen oder Positionen, die sich für Frauen öffneten. Die häufigste Konstellation, wie sie sich Ende der 1980er-Jahre zeigte, sah aber so aus: Etwa 30- bis 50-jährige, verheiratete Männer, die mehr als zehn Jahre im Betrieb waren, belästigten unverheiratete, oft in Partnerschaft lebende Frauen zwischen 20 und 30 Jahren mit kürzerer Betriebszugehörigkeit.  Belästiger hatten zumeist aufgrund ihrer biografischen und betrieblichen Situation eine doppelte Absicherung, während die berufliche und private Lebenssituation der Belästigten noch viel offener war. Diese Konstellation scheint im Nachhinein dem Verhältnis Lehrende – Studierende in den späteren Untersuchungen an Hochschulen sehr ähnlich. Auch die Übernahme von Verantwortung in den Betrieben verlief ähnlich: Betroffene konnten sich auf die Unterstützung von Personalverantwortlichen nicht verlassen und ihre Wahrnehmung der Situation wurde als weniger gewichtig behandelt.

Konnten diese Befunde auf die Situation an Hochschulen übertragen werden?

Mitte der 1990er-Jahre haben wir an einer Fachhochschule eine Untersuchung zur Ausprägung und der Einschätzung von SDG an der Hochschule nach dem Muster der Bundesuntersuchung durchgeführt (Holzbecher et al. 1994). In der schriftlichen Befragung hatte sich ein erhebliches Ausmaß erlebter Belästigungen bei den Befragten gezeigt. Studentinnen waren mit Abstand am häufigsten betroffen, es gab aber auch einzelne Fälle bei Studenten und Lehrenden. In den qualitativen Interviews zeigte sich, dass exemplarische  Situationen von den Geschlechtern ganz unterschiedlich interpretiert wurden. Männliche Lehrende, aber auch Studenten unterschätzten systematisch die Auswirkungen  von anzüglichen Bemerkungen, sexualisierten Lehrinhalten, nicht beachteten Wortmeldungen etc. auf die Befindlichkeit von insbesondere Studentinnen. Solche als harmlos erscheinende Verhaltensweisen können als unterschwellige Platzverweise wirken. Zur damaligen Zeit überschritten solche eher atmosphärisch problematischen Bedingungen offenbar die Vorstellungskraft der Lehrenden und auch der männlichen Studierenden.

Wie sieht es heute damit aus? Inzwischen gibt es ja bereits rechtliche Regelungen und Gesetze, die Beschäftigte und Studierende schützen sollen.

Die gibt es durchaus, nicht zuletzt als Konsequenz aus unseren Forschungen. Sie schaffen  notwendige, aber nicht hinreichende Rahmenbedingungen in Bezug auf Abhängigkeitsverhältnisse. Wir müssen zwischen formalen und informellen Regelungen sowie zwischen Regeln und tatsächlicher Praxis unterscheiden, gerade, wenn es um die organisationale Ebene geht. Werden neue Regeln eingesetzt, wirkt sich das nicht unbedingt sofort auf die interne Problembehandlung aus; oft ist sogar das Gegenteil der Fall: Zum Beispiel kann die Einrichtung einer hochschulinternen Anlaufstelle als Ersatz für tatsächlich verändertes Handeln dienen. Formale Regeln wirken immer ambivalent, weil der rechtliche Aspekt den Kampf um Deutungshoheit mit prinzipiell ungewissem Ausgang für Betroffene einleitet. Formalisierte Regeln sind aber unverzichtbar, damit Beschäftigte und Studierende in der Hochschule signalisiert bekommen: Die Organisation toleriert keine Übergriffe. Letztere müssen, sofern sie strafrechtlich relevant sind, auch organisationsöffentlich benannt und sanktioniert werden. Treten solche Fälle auf, muss allerdings bereits im Vorfeld schon einiges schiefgelaufen sein, was sich eher im Atmosphärischen – also im Bereich von Mikropolitik und einer asymmetrischen Geschlechterkultur – ansiedeln lässt.

Dazu haben Sie ja auch bereits Ende der 1990er-Jahre geforscht.

Ja, das Projekt „Asymmetrische Geschlechterkultur und Frauenförderung als Prozess“ haben wir bis ca. 2000 an der Universität Bielefeld durchgeführt (Müller et al. 2000). Damals wandelte sich gerade der Diskurs. Themen wie sexueller Missbrauch und SDG waren aus der Tabuzone herausgeholt, es gab Handreichungen, Schulungen, rechtliche Veränderungen – wie bspw. das Beschäftigtenschutzgesetz von 1994 – und Gleichstellungsbeauftragte, die sich an den Hochschulen zunehmend vernetzten. Allerdings verselbstständigte sich das Thema SDG in der Öffentlichkeit auch dahingehend, dass weniger die Gefahren für Betroffene im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit standen als vielmehr die Angst unbescholtener Männer vor willkürlicher Beschuldigung. Aber offen sexistisches Verhalten, um Frauen aus dem Studium oder wissenschaftlichen Laufbahnen zu graulen, wäre als Vorwurf gar nicht mehr haltbar gewesen. Es ging nun eher darum, offenzulegen, was beiläufig und unbedacht geschieht und den Blick auch auf das zu richten, was nicht geschieht.

Was meinen Sie mit „was nicht geschieht“?

Nun, der Umgang von Hochschulen und Arbeitsorganisationen mit SDG war lange Zeit dadurch geprägt, dass man es als Problem externalisiert hat i. S. v. „bedauerlich, aber nicht unser Problem“. Die Anerkennung dieses Problems als eines, das in der Organisation besteht, musste erst über Konsensbildungsprozesse hergestellt werden. Asymmetrische Geschlechterkultur an der Hochschule ist ein schwer zugängliches und wenig wahrgenommenes Problemfeld. Unsere Ergebnisse zu diesem Projekt haben gezeigt, dass auch im Jahr 2000 sexuelle Belästigung und andere Formen der Diskriminierung weiterhin als Tabuthemen behandelt wurden. Weiblichen Universitätsangehörigen bereitete es nach wie vor Schwierigkeiten, Unbehagen über subtilere Formen der Grenzverletzung oder spürbare Asymmetrien zu artikulieren. Wir haben damals empfohlen, handlungsorientierte Kenntnisse zu vermitteln, diese Themen etwa in der Studieneingangsphase anzusprechen, um die Öffnung der Universität für die Thematik zu signalisieren und den Umgang damit zu professionalisieren, aber auch offene, kontinuierliche Diskussionsangebote zu schaffen.

Wie sehen Sie denn die Voraussetzungen dafür an den heutigen Hochschulen?

Junge Frauen sehen sich heute einer veränderten Variante von enthistorisierender Frauenfeindlichkeit gegenüber. Immer noch offensichtliche Nachteilsstrukturen werden geleugnet, es wird behauptet, die „Frauenfrage“ habe jede gesellschaftliche Relevanz verloren. Es gibt weiterhin eine Diskussionsatmosphäre, die es Betroffenen erschwert, Erfahrungen mit SDG zu artikulieren. Belästigt zu werden erscheint schnell als Defizit in der Selbstoptimierung von Betroffenen: Eigentlich sollte gerade ihnen so etwas nicht passieren – selbstbewusst und selbstbestimmt wie sie sind. Das erinnert an frühere Zeiten. Wie vor dem AGG und anderen Gesetzen kann Opfer-Werden das Selbst- und Fremdverständnis beschädigen. Öffentlich in Zusammenhang mit einem intim-ekelhaften Erlebnis thematisiert zu werden, kontaminiert auch die eigene Person. Zugleich wird so getan, als hielten Feministinnen an einem Opferstatus von Frauen fest, der obsolet geworden sei. Gerade in Führungspositionen kann es schwierig werden, als Betroffene institutionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, da Personen in solchen Positionen grundsätzlich nicht hilfsbedürftig werden, es sei denn, sie sind eine Person am falschen Platz.

 

Das Interview beruht auf dem Beitrag von Ursula Müller „Thirty Years after. Ein Forschungsessay zur Historie von Sexualisierter Diskriminierung und Gewalt“ in dem Band #Me Too in Science, herausgegeben von Beate von Miquel, Claudia Mahs, Antje Langer, Birgitt Riegraf, Katja Sabisch und Irmgard Pilgrim, erschienen im Juli 2025 bei Springer VS in der Reihe Geschlecht und Gesellschaft.

Literatur

BMJFFG (Hrsg.). 1991. Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, Schriftenreihe Band 260, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz: Kohlhammer. Autorinnen Monika Holzbecher, Anne Braszeit, Ursula Müller, Sibylle Plogstedt.

Holzbecher, Monika/Kneißler, Edda/Müller, Ursula. 1994. Sexuelle Belästigung an Fachhochschulen. Unveröffentlichter Forschungsbericht, Universität Bielefeld.

Müller, Ursula/Holzbecher, Monika/Meschkutat, Bärbel. 2000. Asymmetrische Geschlechterkultur an der Hochschule und Frauenförderung als Prozess, Projektabschlussbericht Universität Bielefeld, unveröff. Man. (Uniarchiv Bielefeld, in Vorbereitung).

Zitation: Ursula Müller im Interview mit Sandra Beaufaÿs: #Me too in Science revisited – Bekämpfung sexualisierter Gewalt an Hochschulen, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 29.07.2025, www.gender-blog.de/beitrag/me-too-in-science/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20250729

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Prof. Dr. (i. R.) Ursula Müller

Ursula Müller war 1989–2012 Professorin für „Sozialwissenschaftliche Frauenforschung“ an der Universität Bielefeld und Direktorin des Interdisziplinären Zentrums für Frauen- und Geschlechterforschung (IFF) der Universität Bielefeld. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind geschlechtsspezifische Arbeitsmarktsegregation, Geschlecht und Organisation sowie international vergleichende Forschung zu Männlichkeiten, Geschlecht und Gewalt.

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Dr. Sandra Beaufaÿs

ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Koordinations- und Forschungsstelle des Netzwerks Frauen- und Geschlechterforschung NRW an der Universität Duisburg-Essen. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich Wissenstransfer sowie bei den Themen Geschlechterverhältnisse in Wissenschaft, Professionen und Arbeitsorganisationen.

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