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Themenwochen , Macht

Menschen. Macht. Geschichte.

26. Oktober 2022 Christel Baltes-Löhr

In welchen Bezügen stehen Macht, Herrschaft, Gewalt, Autorität, Wirkmächtigkeit, Legitimierung zueinander und welche Rolle spielt Geschlecht bei alledem? Aus diesen konglomerierenden Verhältnissen möchte ich zwei Aspekte herausgreifen und der Frage nachgehen: Gibt es Macht ohne Herrschaft (vgl. Knepler 2004)? Und was ist im Jahre 2022 in Hinblick auf Geschlechtervielfalt von der Gegenüberstellung ‚Frauenmacht und Männerherrschaft‘ (Völger 1997) zu halten, die in der Entwicklung der Geschlechterforschung einen prominenten Platz einnahm (vgl. Lenz/ Luig 1995)? Es ging dabei immer wieder um die Frage, inwieweit in patriarchalen Herrschaftssystemen überhaupt neue, nicht-männliche Manifestationen von Macht möglich sein können und inwieweit Ausdrucksformen überhaupt möglich sind, wenn patriarchale Strukturen bis in die letzte Faser des Daseins dominieren und mit der Zeit als „natürlich“ erscheinen.

Macht als soziale Beziehungen

Der Forschungsbericht Places of Power – Orte der Herrschaft – Lieux de pouvoir definiert Macht mit Bezug auf Max Weber vor allem als relationale Größe, die immer in eine soziale Beziehung eingebettet ist (vgl. Ehlers 2004) und Wirkungsfelder benötigt, also Bereiche wie Politik, Wirtschaft, Religion, sowie Wirkungsebenen, vom einzelnen Individuum bis hin zur gesamtgesellschaftlichen Ebene, um ‚Wirkmächtigkeit‘ zu entfalten. Nach Max Weber steht Macht für die Chance, „innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht“ (Weber 1972, S. 28). Somit ist Macht im Sinne einer Einflussnahme zunächst als „ethisch neutral“ (Ehlers 2004, S. 259) zu betrachten. Auch Michel Foucault fasst jede soziale Beziehung als wechselseitiges Machtgefüge (vgl. Foucault 1976) und er betont, „daß die Macht [...] nicht etwas ist, das sich unter denjenigen aufteilt, die über sie verfügen und sie ausschließlich besitzen, und diejenigen, die sie nicht haben und ihr ausgeliefert sind. Die Macht muss als etwas analysiert werden, das zirkuliert oder vielmehr als etwas, das nur in der Art einer Kette funktioniert“ (Foucault, 1978, S. 82).

Von Macht zu Herrschaft

Prozesse der Verfestigung lassen via Institutionalisierung aus Macht Herrschaft werden. Gehorsam kommt ins Spiel, wenn es nicht mehr um Beeinflussung oder lediglich um temporäre Übernahme von machtvoll Vermitteltem geht, sondern darum, dass den Ideen und Vorstellungen der Herrschenden nicht nur Gehör, sondern auch Folge geleistet werden muss. Heinrich Popitz hat den Weg von Macht zu Herrschaft in einem fünfstufigen Modell beschrieben: von der sporadischen Macht eines Einzelnen (1) über normierende Macht (2) zur Verortung von Macht, welche sich nunmehr zu Herrschaft zu verdichten beginnt (3), weiter zum Positionsgefüge von Herrschaft wird (4) und schließlich (5) zu staatlicher Herrschaft (vgl. Popitz 1986). Wird Macht zu Herrschaft, dann bewirken Entpersonalisierung, Formalisierung und Integration eine Stabilisierung von Herrschaft innerhalb eines beherrschten Gefüges. Herrscht das sogenannte Volk, ist die Rede von Demokratien, in denen alle Bürger_innen ihre Stimme erheben und verkünden können, per Wahlen gewählt werden und ebenfalls vor allem per Abstimmungen und Wahlen über den groben politischen Rahmen mitentscheiden. Das sogenannte Volk herrscht, alle Gewalt geht vom Volke aus. Die Gewalten sind geteilt in Gesetzgebung, Rechtsprechung und ausübende Gewalt. Die Organe der legislativen, judikativen und exekutiven Gewalt sollen sich gegenseitig kontrollieren, um so auch Missbrauch von Herrschaft zu vermeiden.  

Herrschaft ohne Macht

Womit nun die erste, eingangs aufgeworfene Frage so zu beantworten wäre: Es gibt Macht ohne Herrschaft, z. B. wenn die von Popitz beschriebenen Stufen nicht gegangen werden und es also nicht zu einer Institutionalisierung von Macht kommt. Das heißt, sporadisch ausgeübte Macht wird nicht normierend. Die Macht findet keinen sich dann auch verstetigenden Ort, von dem aus sie herrschen kann. Es finden keine Entpersonalisierungen im Sinne einer Etablierung von Funktionsträger_innen statt. Abläufe der Ausübung von Macht werden nicht formalisiert, sondern müssen immer wieder neu verhandelt werden.

Performanztheoretisch gesprochen findet keine Wiederholung ‚mächtiger‘ Handlungsakte mit der vieldiskutierten Wirkung der Verstetigung statt, sondern alles bleibt auf der Ebene der ständigen Subversion, bleibt lose, vage und unstet. Wirkmächtigkeiten werden nicht mehr enggeführt und münden nicht in Gehorsam fordernden Herrschaftsformen. Zahlreiche lose Enden bilden miteinander ein Konglomerat der Vielfalt – und es stellt sich dann die weitergehende Frage, ob und wie hier Verstetigung einer solchen konglomerierenden Vielfalt zu denken wäre.

Macht, Herrschaft und Geschlecht

Dies bedeutet für die in meiner zweiten Frage angesprochene Gegenüberstellung von Frauenmacht und Männerherrschaft vielerlei: Wird Frauenmacht im Rahmen einer binären Konstruktion als Pendant zu Männerherrschaft gedacht, dann hat Frauenmacht – Macht, die bei sogenannten Frauen liegt, von sogenannten Frauen ausgeht – die fünf Stufen von Popitz nicht durchlaufen und ist nicht zu Herrschaft geworden. So bleibt sie sporadisch, wirkt nicht normativ, verfügt nicht über eigene Orte, verdichtet sich nicht zu einem Positionsgefüge und wird – außer möglicherweise in matriarchalen Gesellschaften – nicht als staatliche Ordnung anerkannt. Frauenmacht bleibt an Personen gebunden, verfügt nicht über formalisierte Abläufe und wirkt nicht integrativ.

Dies im Sinn, wird zudem überdeutlich, warum sich in patriarchalen Gesellschaften Machthabende so sehr wehren, wenn sogenannte Frauen sich auf den Weg machen, das Sporadische ihres machtvollen Tuns abzulegen, zu verstetigen, normativ wirken zu wollen und zu wirken – wenn eigene Orte eingefordert, kreiert, lebendig gehalten, verstetigt und gar erweitert werden, wenn Frauen sich vernetzen, Abläufe formalisieren, Strukturen schaffen und sich von einzelnen Protagonistinnen zunehmend unabhängig machen.

Eine solche potenzielle Verstetigung von Macht, die nicht in Männerherrschaft mündet, wird für die Herrschenden umso bedrohlicher, je vielfältiger sie daherkommt. Dies erklärt möglichweise auch die Wucht der teilweise verleumderischen und gewalttätigen Abwehr gegenüber Menschen, die für Geschlechtervielfalt stehen und die über binäre Grenzen hinausgehen. Solch immer deutlicher, immer alltäglicher werdende, immer weitere Bereiche berührende und umfassende mächtige Vielfalt bedroht althergebrachte Herrschaftsformen in Politik, Kirche, Wirtschaft, Medien sowie im alltäglichen Leben. Verlächerlichungen von Menschen, die eine solche Vielfalt repräsentieren und (weiter)tragen ist noch eine der harmloseren Effekte seitens der Herrschenden. 

Männerherrschaft

So soll/so muss es sein, z. B. das gesellige, das gesellschaftliche Miteinander. Es kommt zu ständigen, sich verstetigenden Wiederholungen. Riten und Rituale bilden sich heraus. Die Macht, besser gesagt, die machtvollen Personen schaffen Orte – Tempel, Burgen, Schlösser, Regierungssitze, aber auch das Kopfende des Esstisches als Platz des sogenannten Familienoberhauptes oder die Sitzordnung in Kirchenhäusern, in Parlamenten, Gerichtssälen. Die ehemals sporadische Ausübung von Macht wird durch die Markierung von Orten, via Wiederholung und via performativer Effekte formalisiert. Riten, Rituale, Stereotypisierungen vereinfachen das Wiederholen und das Verfestigen von Abläufen, die in einem weiteren Schritt in gut zu kontrollierende Verfahren gegossen werden. Der Klang dieser Verfestigungen ist dann immer gleich. Zwischentöne können schnell als störend empfunden werden und stören auch tatsächlich das gewohnte Prozedere, unabhängig davon, wie schön und hell und angenehm der neue Klang auch sein mag. Die gesamte gesellschaftliche Gemeinschaft, möglicherweise in Staatsform, übernimmt die so zur Herrschaft gewordenen machtvollen Akte und die in unserem Beispiel männlich konnotierten Akteure sind auswechselbar, es ist nicht mehr das handelnde Individuum, auf das es in diesem Herrschaftsgefüge ankommt, sondern es ist der Funktionsträger. In Deutschland, aber auch in Europa sind dies auch im Jahr 2022 mehrheitlich immer noch männlich konnotierte Personen.

Frauenmacht, Männermacht, Menschenmacht

So ist auch im 21. Jahrhundert nicht nur für den westeuropäischen und angelsächsischen Raum auch immer noch von Frauenmacht und Männerherrschaft zu sprechen, allerdings mit zwei Einschränkungen: Diese binäre Gegenüberstellung basiert auf einer Wissensordnung, die dem sogenannten weiblichen Geschlecht die wesenhafte Fähigkeit zu Macht zuschreibt, dem sogenannten männlichen Geschlecht hingegen die wesenhafte Fähigkeit zu herrschen. Das wiederum widerspricht den Annahmen von Vielfalt der Geschlechter und lässt die Frage aufkommen, wo in einer solch binären Weltsicht trans*-, inter-*, nicht-binär*-geschlechtliche und a*-geschlechtliche Menschen hinsichtlich Macht und Herrschaft zu verorten wären. Gibt es nicht spätestens mit der Figur des Kontinuums – mit den vier Dimensionen Körper, Psyche, Verhalten und Begehren – Raum und Platz für alle Geschlechter, die ein vielfältiges Miteinander als machtvolle Akteur_innen ohne Herrschaftsstrukturen kreieren und leben wollen (vgl. Baltes-Löhr 2022, 2018; Baltes-Löhr/Schneider 2018a, 2018b)?

Das doppeldeutige, aufrüttelnde Motto „Frauen. Macht. Geschichte“ könnte dann lauten „Menschen. Macht. Geschichte“ – und zwar immer wieder und im ethischen Sinne gesprochen immer angemessener – nicht nur für möglichst viele, sondern für tatsächlich alle Menschen. 

Literatur

Baltes-Löhr, Christel (2022): Geschlecht als Kontinuum. Über das Aufbrechen binärer Ordnungen und über gelebte Pluralitäten. Bielefeld: transcript (i.E.).

Baltes-Löhr, Christel & Schneider, Erik (Hg.) (2018a): Normed Children. Effects of Gender and Sex Related Normativity on Childhood and Adolescence. Bielefeld: transcript. Zugriff am 26.10.2022 unter https://www.transcript-verlag.de/media/pdf/c8/b9/cd/oa9783839430200S9wfbc3SBIulB.pdf.

Baltes-Löhr Christel & Schneider, Erik (Hg.) (2018b): Normierte Kinder. Effekte der Geschlechternormativität auf Kindheit und Adoleszenz (3. Aufl.). Bielefeld: transcript. 

Baltes-Löhr, Christel (2018): What Are We Speaking About When We Speak About Gender? Gender as a Continuum. Cultural and Religious Studies, 6(1), 1-32. https://doi.org/10.17265/2328-2177/2018.01.001

Ehlers, Caspar (2004): Forschungsbericht „Places of Power – Orte der Herrschaft – Lieux du Pouvoir“.  Jahrbuch der Max-Planck-Gesellschaft, S. 259-263.

Foucault, Michel (1976): Histoire de la sexualité (dt. Sexualität und Wahrheit),  Band. 1: La volonté de savoir. Paris: Gallimard. (dt.: Der Wille zum Wissen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983)

Foucault, Michel (1978): Dispositive der Macht. Michel Foucault über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin: Merve Verlag.

Knepler, Georg (2004): Macht ohne Herrschaft. Die Realisierung einer Möglichkeit. Fertiggestellt und herausgegeben von Stefan Huth. Berlin: Kai Homilius.

Lenz, Ilse & Luig, Ute (1995): Frauenmacht ohne Herrschaft: Geschlechterverhältnisse in nicht patriarchalischen Gesellschaften. Frankfurt am Main: Fischer.

Popitz, Heinrich (1986): Phänomene der Macht. Tübingen: Mohr.

Völger, Gisela (1997): Sie und Er. Frauenmacht und Männerherrschaft im Kulturvergleich. Materialsammlung zu einer Ausstellung des Rautenstrauch-Joest-Museums für Völkerkunde in Köln vom 25. November 1997 bis zum 8. März 1998.

Weber, Max (1972): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie (Studienausgabe, 5., revidierte Aufl.). Tübingen: Mohr.

Zitation: Christel Baltes-Löhr: Menschen. Macht. Geschichte., in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 26.10.2022, www.gender-blog.de/beitrag/menschen_macht_geschichte/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20221026

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Prof. Dr. Christel Baltes-Löhr

Prof. em. 2003-2021 Universität Luxemburg; Forschung zur Figur des Kontinuums in Bezug auf Geschlecht, Migration, Raum, Kultur; Gender-Beauftragte der Universität und Leiterin des Instituts für Gender Studies, Diversität und Migration; Mitglied der EU-Helsinki Group on Women and Science und im Expert_innenforum des Europäischen Instituts für Gleichstellungsfragen; Mitglied des luxemburgischen Ethikrats und Co-Sprecher_in der AG Trans*Inter*Studien in der FG Geschlechterstudien

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