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Debatte

Bedrohungsszenario ‚ungezügelter migrantischer junger Mann‘

20. April 2021 Nina Didschuneit

Aktivist*innen der Identitären Bewegung inszenieren sich innerhalb der Kampagne #120db als „Frauenrechtler“ und prangern Pro-Migrationsbestrebungen in der Einwanderungspolitik Deutschlands an. Anfang 2018 startete die Kampagne auf YouTube mit einem Video, das den Titel „Frauen wehrt euch! 120 Dezibel“ trägt. 120 Dezibel steht für die Lautstärke eines handelsüblichen Taschenalarms, ohne den (angeblich) keine Frau mehr aus dem Haus gehe. Die Sprecherinnen im Video beziehen sich auf Straftaten, die in Europa von ‚migrantischen‘ Männern begangen wurden und bezeichnen die Aktion als das eigentliche #metoo (Drüeke/Klaus 2019). Die suggerierte Botschaft: Frauen seien in Deutschland nicht mehr sicher.

Rassistische Diskursstrategien

Auf der theoretischen Grundlage der Theorie des Sexuellen Exzeptionalismus (vgl. Dietze 2019) gehe ich im Folgenden darauf ein, wie verschiedene Akteur*innen über feministische Themen rassistische Diskursstrategien legitimieren (Dietze 2016, 2019; Drüeke/Klaus 2019; Hark/Villa 2017). Als Beispiele werden dazu Aktionen der IB und Aussagen der Emma-Herausgeberin Alice Schwarzer herangezogen. Die IB als Teil der Neuen Rechten (vgl. Fuchs/Middlehof 2019) wird herangezogen, um die Instrumentalisierung feministischer Debatten durch rechte Akteur*innen darzustellen. Schwarzer steht in diesem Beitrag hingegen exemplarisch für Feminist*innen, die ihre eigene Position als weiße Frauen nicht kritisch hinterfragen und die Kategorie race ausklammern.

Der Begriff Sexueller Exzeptionalismus beschreibt die diskursiv hergestellte gesellschaftliche Wahrnehmung der eigenen Sexualordnung als die am meisten „fortgeschrittene“, „privilegierte“ und „beste“ aller denkbaren Sexualordnungen (Dietze 2019, S. 27). „‚Angestammte‘ Bevölkerungsteile des globalen Nordens“ (Dietze 2019, S. 27) betrachten ihre eigene Sexualordnung als eine der wertvollsten „Qualitäten“ (Dietze 2019, S. 28), die die westliche Zivilisation hervorgebracht hat. Das hat zur Folge, dass „Unterschiede produziert und hierarchisiert werden. Nur in Abgrenzung zu den vermeintlich Zurückgebliebenen und Unaufgeklärten kann die eigene Besonderheit definiert werden“ (Dietze 2019, S. 27). Von dieser Zurückgebliebenheit geht eine potenzielle Gefahr aus, die es abzuwehren gilt: Die eigene Sexualordnung und die eigenen Frauen* gilt es zu beschützen (Dietze 2019, S. 27).

#120db – „Europa“ als kulturelle Gemeinschaft

Im Video #120db wird eine konstruierte homogene Gemeinschaft von Frauen dargestellt, die sich nur an weiße europäische Frauen richtet; Europa bzw. Deutschland wird im Video als eine kulturelle Gemeinschaft dargestellt, die von außen bedroht wird (Drüeke/Klaus 2019). Das Bedrohungsszenario wird mit angeblich notorisch von Migranten und Geflüchteten ausgehender sexualisierter Gewalt gerechtfertigt. Diese Argumentation, die von einer vermeintlichen Bedrohung des eigenen ‚Hervorragenden‘ ausgeht, bedient sich sexuell-exzeptionalistischer Diskurselemente. Europa wird als ein politischer Raum abgegrenzt, der sich „gegen die wahre Bedrohung für Frauen in Europa“ einsetzen muss, dabei jedoch versagt: „Weil ihr euch weigert, unsere Grenzen zu sichern. Weil ihr euch weigert zu kontrollieren, wer hier reinkommt“ (Sellner 2018). Gleichzeitig wird der Sexismus aus der ‚eigenen‘ Kultur externalisiert und ausschließlich dem ‚Anderen‘ zugesprochen. Auf diese Weise wird sexualisierte Gewalt als strukturelles Problem der gesamten Gesellschaft ausgeblendet, wodurch ein produktiver Diskurs über Sexismus verunmöglicht wird (vgl. Dietze 2019; Villa/Hark 2017).

Botschaft an die Frauen

Das 2016 veröffentlichte Video „Botschaft an die Frauen“ (Identitäre Bewegung Sachsen-Anhalt 2016) ist ebenfalls ein Versuch Identitärer, feministische Themen zu instrumentalisieren, um im gesamtgesellschaftlichen Diskurs anschlussfähig zu wirken. Die Geschehnisse in der Kölner Silvesternacht 2015/16 werden als Ausgangspunkt für eine Reihe von Ereignissen dargestellt, die als Beweis für ‚importierten Sexismus‘ an deutschen Frauen durch Geflüchtete und junge Migranten konstruiert werden (vgl. Wielens 2019). Auch hier wird ein ‚Import‘ von Sexismus suggeriert und versucht, Sexismus aus der ‚eigenen‘ Gesellschaft zu externalisieren. Ebenso werden Frauen aus der Diskussion ausgeschlossen, die nicht ‚deutsch sind‘, wodurch ein breites Spektrum an Sexismuserfahrungen unterschlagen wird. Das Narrativ des jungen, männlichen, triebgesteuerten Geflüchteten (vgl. Dietze 2016) wird genutzt und „sogenannte Flüchtlinge“ (Identitäre Bewegung Sachsen-Anhalt 2016) werden so dargestellt, als würden sie sich regelmäßig zu ‚Sex-Mobs‘ zusammenfinden, um ‚deutsche Frauen‘ zu belästigen. Dabei wird die sexuell-exzeptionalistische Diskursstrategie verfolgt, Mann müsse die Errungenschaften der Frauenbewegung der ‚eigenen‘ Kultur vor dem oben konstruierten importierten Sexismus schützen (vgl. Dietze 2019).

Anschluss an die Mehrheitsgesellschaft

Identitäre Diskursstrategien zeigen sich als (teilweise) deckungsgleich mit anderen gesellschaftlichen Stimmen. Es scheint eine erfolgreiche Strategie zu sein, feministische Diskurse umzudeuten, indem gesellschaftliche „Anschlussstellen“ (Benthin 2004, S. 49) gesucht werden.  Auch feministische Debatten können durchaus ohne das Zutun von rechten Akteur*innen in einem rassistischen Tenor geführt werden. So schreibt beispielsweise Alice Schwarzer in der Ausgabe März/April 2016 der Zeitschrift Emma bezogen auf die Kölner Silvesternacht von der Gefahr, die von jungen muslimischen Männern ausgehe, die es auf (weiße biodeutsche) Frauen abgesehen hätten. Schwarzer bedient sich also des Narrativs ‚junger ungezügelter migrantischer Mann‘ (vgl. Dietze 2019). Sie behauptet, islamistische Kräfte verabredeten sich über soziale Netzwerke, um „Frauen zu klatschen“ und dass der IS den Westen destabilisieren wolle, indem er junge Männer als politische Waffe losschicke, die „Frauen bricht und Männer demütigt (weil sie ‚ihre‘ Frauen nicht schützen können)“ (Schwarzer 2016, S. 5). Daran zeigt sich, dass nicht nur extrem rechte Akteur*innen in der diskursiven Verschränkung von Migration, Geschlecht und Kultur rassistische Wahrheitsproduktionen konstruieren. Aus diesem Grund kann es der IB auch gelingen, in ihrer Diskursposition an bereits rassistisch verhandelte Narrative anzuschließen und diese mit der eigenen Ideologie aufzuladen.

Identitärer Antifeminismus und feministische Rassismen

Die IB verfolgt jedoch keineswegs das Ziel, die Gleichberechtigung der Geschlechter zu bewirken. Identitäre wünschen sich – im Gegenteil – traditionelle Geschlechterrollen zurück und sprechen sich gegen jegliche Pluralität von Geschlechtsidentitäten aus (vgl. Bitzan 2010, 2016; Virchow 2010, 2016). Sie machen Antifeminismus zum Programm und werfen Feminist*innen vor, die ‚deutsche Männlichkeit‘ zu schwächen, sodass es dem Mann nicht mehr möglich sei, Frau, Land und Volk vor importierter Gewalt und dem Einfluss ‚fremder‘ kultureller Identitäten zu schützen (vgl. Sigl 2018, Wielens 2019).

Schwarzer hingegen verfolgt dezidiert das Ziel, für Gleichberechtigung zu kämpfen. Sie klammert dabei jedoch intersektionale Ungleichheitsverhältnisse aus und hinterfragt die eigene soziale Stellung als weiße Frau nicht. Der Universalismusgedanke der weißen Frau im Feminismus führt zu rassistischen Narrativen, die dem Islam pauschal sexualisierte Gewalt und Frauenunterdrückung unterstellen und so in sexuell-exzeptionalistische Diskursstrategien verfallen.

Gleichheit aller Menschen als Ziel

Es ist wichtig zu beachten, dass „ein Feminismus, der nicht antirassistisch ist, okzidentalistisch sein (wird). Umgekehrt gilt das ebenso: Ein Anti-Rassismus, der nicht begreift, dass Rassismus über vergeschlechtlichte und sexualisierte Inhalte arbeitet, ist ebenso zum Scheitern verurteilt“ (Dietze 2019, S. 102). In der Auseinandersetzung mit sexuell-exzeptionalistischen Diskursstrategien wird deutlich, dass diese tief in rassistischen gesellschaftlichen Denkstrukturen verankert sind, die es aufzubrechen gilt. Ein Feminismus, der rassistisch argumentiert, ist nicht zu Ende gedacht und steht nicht für sein wesentliches Ziel ein: Gleichheit und Gleichberechtigung aller Geschlechter und damit aller Menschen. Intersektionalität und kritisches Hinterfragen eigener Perspektiven sind als „lebenswichtige[r] Teil“ (Hark/Villa 2017, S. 21) feministischer Theorie zu begreifen.

Dieser Beitrag basiert auf meiner Bachelorarbeit „Die Verknüpfung von Feminismus und Rassismus in der Neuen Rechten – am Beispiel der identitären Kampagne #120db“, die von Prof. Dr. Nicole Burzan und Dr. Jennifer Eickelmann an der TU Dortmund betreut wurde.

Literatur

Benthin, Rainer (2004). Auf dem Weg in die Mitte. Öffentlichkeitsstrategien der Neuen Rechten. Frankfurt/M.: Campus.

Bitzan, Renate (2010). Feminismus von rechts? In Regina Wamper, Helmut Kellershohn & Martin Dietzsch (Hrsg.), Rechte Diskurspiraterien. Strategien der Aneignung linker Codes, Symbole und Aktionsformen (S. 124–134). Münster: Unrast.

Bitzan, Renate (2016). Geschlechterkonstruktionen und Geschlechterverhältnisse in der extrem Rechten. In Fabian Virchow, Martin Langebach & Alexander Häusler (Hrsg.), Handbuch Rechtsextremismus (S. 285–323). Wiesbaden: Springer VS.

Dietze, Gabriele (2016). Das Ereignis ‚Köln‘. Femina Politica – Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft, 25(1), 93–102. https://doi.org/10.3224/feminapolitica.v25i1.23412

Dietze, Gabriele (2019). Sexueller Exzeptionalismus. Überlegenheitsnarrative in Migrationsabwehr und Rechtspopulismus. Bielefeld: transcript. https://doi.org/10.14361/9783839447086

Drüeke, Ricarda & Klaus, Elisabeth (2019). Die Instrumentalisierung von Frauen*rechten in rechten Diskursen am Beispiel der Kampagne #120db. GENDER – Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft, 11(3), 84–99. https://doi.org/10.3224/gender.v11i3.06

Fuchs, Christian & Middlehoff, Paul (2019). Das Netzwerk der Neuen Rechten. Wer sie lenkt, wer sie finanziert und wie sie die Gesellschaft verändern. Hamburg: Rowohlt Polaris.

Hark, Sabine & Villa, Paula-Irene (2017). Unterscheiden und herrschen. Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart. Bielefeld: transcript. https://doi.org/10.14361/9783839436530

Identitäre Bewegung Sachsen-Anhalt (2016). Eine Botschaft an die Frauen. https://www.youtube.com/watch?v=sTMoGod5d6o

Schwarzer, Alice (2016). Der Schock – Die Silvesternacht von Köln. Köln: Kiepenheuer & Witsch.

Sellner, Martin (2018). Frauen wehrt euch! 120 Dezibel. https://www.youtube.com/watch?v=FSXphiFknyQ

Sigl, Johanna (2018). Biografische Wandlungen ehemals organisierter Rechtsextremer: eine biografieanalytische und geschlechterreflektierende Untersuchung. Wiesbaden: SpringerVS.

Virchow, Fabian (2010). Tapfer, stolz, opferbreit – Überlegungen zum rechtsextremen Verständnis ‚idealer Männlichkeit‘. In Robert Claus, Esther Lehnert & Yves Müller (Hrsg.), ‚Was ein rechter Mann ist…‘: Männlichkeiten im Rechtsextremismus (S. 39–52). Berlin: Karl Lietz Verlag.

Virchow, Fabian (2016). Protest und soziale Bewegung von rechts. In Alexander Häusler & Fabian Virchow (Hrsg.), neue soziale bewegung von rechts? (S. 10–18). Hamburg: VSA Verlag.

Wielens, Alia (2019). „Wo bleibt euer Aufschrei?“ Rassistische Umdeutung von #aufschrei und #metoo durch Identitäre Frauen. Femina Politica – Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft, 28, 111–120. https://doi.org/10.3224/feminapolitica.v28i1.10

Zitation: Nina Didschuneit: Bedrohungsszenario ‚ungezügelter migrantischer junger Mann‘, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 20.04.2021, www.gender-blog.de/beitrag/migrantischer-junger-mann/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20210420

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Nina Didschuneit

Nina Didschuneit arbeitet als Wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl der Soziologie der Geschlechterverhältnisse der TU Dortmund für das Team von Prof. Dr. Mona Motakef.

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