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Forschung

Nicht ohne uns – Migrantinnen* ins kulturelle Gedächtnis

04. Oktober 2022 Samya Arbes Ju Yun Park Olga Zitzelsberger

Begriffe wie Migration, Migrationsgeschichte, Migrationshintergrund usw. werden als Beschreibungs- und Erklärungskategorien im wissenschaftlichen Diskurs verwendet. Nicht zuletzt aufgrund der Popularisierung dieser Begriffe und ihrer gleichzeitigen (in)direkten Abwertung, gelingt es weiterhin noch viel zu wenig, den unterschiedlichen Einwohner*innen in Deutschland Raum und Gehör zu geben.

Die Menschengruppe, die in politisierten Debatten nach wie vor als ‚Migrant*innen‘ angesprochen wird, hat sich auch deshalb in den letzten Jahrzehnten vielfältig engagiert und um ihren Platz in der Gesellschaft gekämpft. So haben sich Menschen beispielsweise in Migrationsselbstorganisationen (MSO) zusammengeschlossen, in denen sie für ihre Interessen einstehen und sich untereinander austauschen können. Im Rahmen des Projekts „Darmstädter MSOs aktiv für Demokratie“ (DaMaD) wurde eine Bedarfs- und Bestandsanalyse innerhalb dieser Organisationen durchgeführt.

Im folgenden Beitrag zeigen wir Ergebnisse dieser Analyse vor dem Hintergrund der Fragestellung, inwiefern besonders migrantische Frauen durch Migrationsselbstorganisationen Selbstermächtigungsstrategien in einer patriarchalen und rassistischen Gesellschaft erlernen können.

Das Patriarchat als Teil des kulturellen Gedächtnisses

Das Projekt knüpft an theoretische Überlegungen von Maurice Halbwachs und Aleida Assmann an. Assmann und Halbwachs haben den Begriff des kulturellen Gedächtnisses geprägt, um auf die enge Verknüpfung von Erinnerung und Kultur zu verweisen. Das kulturelle Gedächtnis liegt tief verwurzelt in den ‚Gepflogenheiten‘ des gesellschaftlichen Miteinanders bis hin zu Gedenktagen und Ritualen (vgl. Assmann 2006 und Halbwachs 1985). Somit sind auch patriarchale Strukturen ein Teil des kulturellen Gedächtnisses.

Auch das Patriarchat ist gesellschaftlich, historisch und damit kulturell verankert. Damit es als Ordnung funktioniert, muss die Hierarchisierung der Geschlechter aufrechterhalten werden. Die Nachrangigkeit von Frauen wird dadurch festgeschrieben und geht mit deren Unterwerfung und geschlechtstypisch definierten Verhaltensmustern einher, die das Handeln anleiten. Häufig werden patriarchale Strukturen als Deutungsnarrative anderen – nicht westeuropäischen – Gesellschaften zugeschrieben. So finden sich die bekannten Muster für das Schema der Unterdrückten als vermeintlich homogene Gruppe wieder: weiblich sozialisiert, migrantisch, bildungsfern und ökonomisch abhängig.

Für die Analyse aktueller Handlungsprozesse von Frauen in der Migrationsgesellschaft bietet das kulturelle Gedächtnis nach Assmann und Halbwachs wichtige Analyseinstrumente, da aufgrund der kulturanthropologischen Perspektive die Verwicklungen unterschiedlicher Kulturfragmente mit einbezogen werden und fragmentiertes Wissen nicht ausgeblendet wird.

Strategien der Selbstermächtigung migrantischer Frauen

Basierend auf Befunden des Projekts „Darmstädter MSOs aktiv für Demokratie“ wird deutlich, dass sich Frauen als migrantische Subjekte in MSOs zur Selbstermächtigung alliiert haben. Diese Selbstermächtigung wird durch den Spracherwerb, die Organisation ihrer Freizeitgestaltung und den Erwerb von berufstätigkeitsrelevanten Kompetenzen vollzogen. Die Vereinsstrukturen von Migrationsselbstorganisationen ermöglichen den Frauen, ihre Interessen gemeinsam zu formulieren und auch gegen männliche Personen im Privaten und in den MSOs durchzusetzen. Hierdurch gewinnt das proaktive und autonome (Selbst-)Engagement an Bedeutung, eigene Stärken und Gestaltungspotenziale für das eigene Leben werden wahrgenommen.

In den gemeinsam aufgebauten Organisationen kann so gegen patriarchale Strukturen gearbeitet werden, die in das kulturelle Gedächtnis eingeschrieben sind. Die Interviewpartnerinnen verdeutlichen hierbei den Anspruch, als Personen mit eigener Leistung anerkannt und benannt zu werden:

„Wieso soll das keinen Namen haben, dass wir auch eine, ich sag mal so eine Belohnung haben, dass wir einen Verein führen können als Frauen. Das hat uns nochmal in unserer Frauenarbeit gestärkt.“ (Zitat aus dem Interview mit Verein B, Z.6-8)

Mit der Frage „Wieso soll das keinen Namen haben“ bezieht sich die Interviewte explizit auf die Leistungen der Frauen und ihre gewünschte Wertschätzung durch die vorwiegend männlichen Vereinsmitglieder der Dachorganisation. Darüber hinaus werden Strukturen geschaffen, die finanzielle Einnahmen, z. B. durch den Essensverkauf, in den Kassen des Frauenvereins belassen. Über die Verwendung der Gelder können die Frauen selbst entscheiden, unabhängig vom Vorstand der Dachorganisation.

Gemeinsamer Umgang mit Alltagsrassismen

Im öffentlichen Raum erfahren kopftuchtragende Frauen jedoch weiterhin Diskriminierung. Das Tragen eines Kopftuchs scheint für Mehrheitsangehörige ‚die Anderen‘ zu manifestieren, was zu einem Ausschlussprozess führt. In den Interviews wird dies im Kontext der Suche nach einer Erwerbstätigkeit thematisiert: „[S]ie versucht nach einer Arbeit zu suchen, aber sie konnte keine finden. Dann hat sie ihr Kopftuch abgenommen“. Aber auch die Freizeitgestaltung wird zum Spießrutenlauf: „[I]m Hallenbad [wurde zu einer Gruppe syrischer Frauen*] gesagt: ‚Was wollt ihr hier mit euren Tüchern, geh weg!‘ […] [sie wurden] also direkt, ja aggressiv angesprochen und dabei hat sie [eine syrische Frau*] gesagt, das ist unsere Sache, wie wir uns kleiden“.

Letztlich kann allein die religiöse Verortung an einer Koranschule, die das Tragen eines Kopftuches für Frauen vorschreibt, zu einem täglichen Ausschluss und Alltagsrassismus führen:

„Das Thema Rassismus ist so große Thema besonders für uns als Syrer, ja ich persönlich habe nicht betroffen, solche Situation, aber meine Freundin oder Verwandten, die Syrer die sind hier. Die haben schon betroffen solche[s] Thema, wegen Kopftuch, [die Leute denken] die können nicht richtig Deutsch sprechen, gehen[geht] raus, was macht ihr hier? Solche Fälle. Aber wenn man die Sprache [spricht], dann kann man sprechen, […]. Aber wegen Kopftuch betroffen [sind] viele.“ (ebd., 250-254).

In den MSO können sich migrantische Frauen untereinander austauschen, Erfahrungen teilen und gemeinsame Verhandlungs- sowie Bewältigungsstrategien entwickeln. Diese Form von Organisation, die sich gegen die in das kulturelle Gedächtnis eingeschriebenen patriarchale Strukturen auflehnt, bietet Frauen einen sicheren Raum.

Selbstbestimmung durch solidarische Lebensgemeinschaften

Anhand der oben angeführten Beispiele können die Praxen von migrantischen Frauen auf zwei Ebenen modelliert werden: Zum einen brechen sie mit einer Selbstermächtigungsstrategie aus der patriarchalen Norm aus und nehmen lebensfeldorientierte Auseinandersetzungen in der Familie und im Verein in Kauf, indem sie für sich und auch für andere Frauen mehr Selbstbestimmung ergreifen. Zum anderen stärken sich kopftuchtragende Frauen im Kampf um religiöse Selbstbestimmung in der Diaspora und gehen in Konfrontation zu rassifizierter Diskriminierung sowie einer Unterdrückungsform, die mit ihrer bewusst gewählten, in der breiten Öffentlichkeit jedoch als patriarchal klassifizierten Religion einhergeht. 

Es geht in den Migrationsselbstorganisationen nicht um ein neues Befreiungsschema für Frauen aus dem Patriarchat, sondern um Suchbewegungen für mehr individuelle Gestaltungsmöglichkeiten in solidarischen Lebensgemeinschaften, die nationale, geschlechtliche und andere pauschalisierende Zuordnungen hinter sich lassen. Zusammenhalt zwischen den Frauen im Verein, Konfrontation mit der Beschäftigungssuche und ein proaktiver Umgang mit Vorurteilen aufgrund des Kopftuchtragens konnten im DaMaD-Projekt als selbstermächtigende Aushandlungsprozesse profiliert werden. Solidarische Lebensgemeinschaften in Form von MSO weisen auf einen Bruch mit patriarchalen Narrativen hin.

Das Beispiel zeigt auf, dass sich migrantische Frauen nicht in den von der Dominanzgesellschaft konstruierten Deutungsbildern (rückständig, sozial und ökonomisch abhängig) verorten lassen. In diesem Prozess des Zusammenschlusses werden Geschlechterrollen nicht mehr konventionell bestimmt.

Literatur

Assmann, Aleida (2006): Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. 3. Aufl. Beck: München.

Halbwachs, Maurice (1985): Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Suhrkamp: Berlin.

Zitation: Samya Arbes, Ju Yun Park , Olga Zitzelsberger : Nicht ohne uns – Migrantinnen* ins kulturelle Gedächtnis, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 04.10.2022, www.gender-blog.de/beitrag/migration-frauen-diskriminierung/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20221004

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Samya Arbes

Samya Arbes studiert Pädagogik am Institut für Allgemeine Pädagogik und Berufspädagogik der Technischen Universität Darmstadt. Sie arbeitet dort als studentische Mitarbeiterin u. a. im Projekt "DaMaD".

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Ju Yun Park

Ju Yun Park arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Allgemeine Pädagogik und Berufspädagogik an der Technischen Universität Darmstadt. Ihre Lehr- und Forschungsschwerpunkte umfassen Rassismuskritik, Intersektionalität und Geschlechterdiskurse mit den Schwerpunkten Geschlechtskonstruktion, Bildung und Migrationsgesellschaft.

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Dr. Olga Zitzelsberger

Dr. Olga Zitzelsberger leitet das Praxislabor am Institut für Allg. Pädagogik und Berufspädagogik der Technischen Universität Darmstadt. Zu ihren Lehr- und Forschungsschwerpunkten zählen unter anderem Selbstorganisationen von Migrant*innen sowie Genderstudien und Rassismuskritik.

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