12. November 2024 Tanja Carstensen Kathrin Ganz
Eine Stärke sozialwissenschaftlicher Technikforschung ist, dass sie immer wieder technikdeterministische Kurzschlüsse entlarvt. Auch mit Blick auf Geschlecht hat sie wiederholt herausgearbeitet, inwiefern öffentlichen Diskursen, verheißungsvollen Visionen aus den Zentren der Tech-Entwicklung und politischen Förder- und Investitionsbemühungen simplifizierende technikdeterministische und auch techniksolutionistische Deutungsmuster zugrunde liegen. Technik wird darin eine hohe (einseitige und unverhandelbare) Wirkmacht auf Gesellschaft zugeschrieben und darüber hinaus als Lösung für gesellschaftliche Probleme präsentiert.
Alles nur Techniksolutionismus?
Zugleich ist dieser Vorwurf des Techniksolutionismus mittlerweile recht eingeübt und wird bei neuen Technologien schnell von sozialwissenschaftlicher Seite als kritische Perspektive eingebracht. Wir möchten in diesem Beitrag zeigen, dass im Diskurs um KI und die Zukunft der Arbeit auch wirkmächtige, entgegengesetzte Deutungsmuster zu finden sind: Denn, so zeigen u. a. Ergebnisse aus unserem Forschungsprojekt „Gender, Künstliche Intelligenz und die Arbeit der Zukunft“, der KI-Diskurs ist – und dies insbesondere in Bezug auf Gender – gerade nicht in erster Linie durch Techniksolutionismus und Technikdeterminismus gekennzeichnet. Vielmehr stellt sich der KI-Diskurs als etwas dar, was wir als Mobilisierungsdiskurs bezeichnen möchten.
In dem Projekt, das wir 2021/2022 an der Universität Hamburg, gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung, durchgeführt haben, haben wir die in öffentlichen Diskursen identifizierbaren Argumentationsmuster zu Chancen, Problemen und Herausforderungen von KI in der Arbeitswelt aus Geschlechterperspektive ausgewertet. Grundlage waren u. a. Artikel in Tages- und Wochenzeitungen im Zeitraum von 2015 bis 2021 sowie Veröffentlichungen und Statements von im Diskurs relevanten Akteur*innen (Kommissionsberichte, Strategiepapiere, Studien, Informationsmaterial und Positionspapiere; ausführlicher siehe Carstensen/Ganz 2023a; Carstensen/Ganz 2023b; Carstensen/Ganz 2024).
Breite Beteiligung am Diskurs
Aufschlussreich war zunächst die Erkenntnis, wie viele unterschiedliche Akteur*innen zurzeit in die Diskussion, Gestaltung und Regulierung von KI involviert sind. Dies sind neben Unternehmen und Forschungseinrichtungen diverse politische Akteur*innen, vor allem Bundesregierung und EU, die über die Regulierung von Wettbewerbsbedingungen insbesondere an der Schaffung eines KI-Markts beteiligt sind. Zugleich thematisieren sie, wie z. B. die Nationale KI-Strategie, einen „demokratischen Anspruch“, der darauf zielt, KI „ethisch, rechtlich, kulturell und institutionell derart einzubetten, dass gesellschaftliche Grundwerte und individuelle Grundrechte gewährt bleiben und die Technologie der Gesellschaft und den Menschen dient“ (Bundesregierung 2018: 4). Sowohl auf nationaler als auch auf EU-Ebene wird der Anspruch formuliert, in Europa ‚gute‘ KI zu schaffen, in Abgrenzung zu China und den USA. Damit wird ein Gelegenheits- und Diskussionsfenster für viele unterschiedliche Akteur*innen eröffnet: Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, Parteien, Ministerien, NGOs und nicht zuletzt frauen-, gender- und diversitypolitische Akteur*innen formulieren Positionen und Forderungen (Carstensen/Ganz 2023b).
Überwindung von Akzeptanzproblemen
Die Auswertung zeigt, dass der Diskurs um KI zunächst auf einige grundlegende Argumente aufbaut, wie die Annahme der Unausweichlichkeit von KI, kombiniert mit dem ökonomischen Anliegen der Wettbewerbs- und Standortsicherung. Ergänzt werden diese Argumente, indem auf KI als Schlüsseltechnologie verwiesen wird, die sich mit immenser Geschwindigkeit entwickelt. So wird eine hohe Dringlichkeit suggeriert, aktiv zu werden: Die zugleich konstatierten kontroversen und kritischen Haltungen zu KI in der Bevölkerung müssten abgebaut werden. KI müsse „als Chance verstanden, gewollt und mitgestaltet werden“ (Bundesregierung 2018: 45).
Sichtbar wird hier, dass KI nicht ‚automatisch‘ funktioniert oder sich durchsetzt, sondern zunächst akzeptiert werden muss und die beteiligten Akteur*innen um eine positive Wahrnehmung von KI ringen müssen. Mit Blick auf das von uns genauer untersuchte Feld der Arbeit wird beispielsweise über Humanisierungsversprechen versucht, Akzeptanz zu schaffen. Es finden sich Visionen einer KI, die zur Entlastung von anstrengenden Tätigkeiten beiträgt, wodurch Frauen und ältere Menschen zukünftig besser an Industriearbeitsplätzen partizipieren können (Bundesverband der deutschen Industrie o. J.) oder von digitalen Assistent*innen und Robots, die als „ideal worker“ (Acker 1990) der Arbeitswelt von Morgen die grenzüberschreitende emotionale Arbeit in Serviceberufen übernehmen, die bislang überwiegend Frauen leisten (ausführlicher Carstensen/Ganz 2022).
Diskriminierung als Fluchtpunkt der Diskurse
Ein zentrales Thema, über das bereits früh mobilisiert wurde, ist Diskriminierung. Verwiesen wird hierbei meist auf die bekannt gewordenen Fälle von Ausschlüssen und unfairen Entscheidungen, z. B. die Software von Amazon zur Prüfung von Bewerber*innen (Dastin 2018), die Frauen systematisch benachteiligte. Dieses Problem scheint mittlerweile unstrittig zu sein und wird als breit akzeptiertes Risiko von KI anerkannt. Wie unsere Analyse zeigt, sind die unterschiedlichen Akteur*innen sich einig, dass es adressiert werden muss. So finden sich auch in vielen Positionspapieren von Wirtschafts- und Arbeitgeberverbänden Warnungen, dass automatisierte Entscheidungssysteme Karrierechancen oder Versicherungskonditionen negativ beeinflussen können und damit Ungleichheiten in den Lebenschancen verstärken. KI wird also weniger als Lösung denn als Herausforderung geframt. Im Anschluss daran wird argumentiert, dass KI breiter Akzeptanz in der Gesellschaft bedürfe und möglichst verschiedene Akteur*innen für die Gestaltung von KI mobilisiert werden müssten.
Aushandlung von Zuständigkeiten
Gleichwohl sind die Argumente unterschiedlich ausgerichtet und motiviert. Aus unternehmerischer Perspektive wird vor „Reputationsrisiken“ (Bundesverband Öffentlicher Banken 2019) gewarnt, aus Grundrechtsperspektive dagegen davor, dass der Diskriminierungsschutz unterlaufen werden könnte, und aus gleichstellungspolitischer und gewerkschaftlicher Perspektive werden Stereotypisierung und Verfestigung von „Frauenberufen“ oder „typisch männlichen Kompetenzen“ sowie die Fortschreibung von Diskriminierung als Gefahr gesehen (Carstensen/Ganz 2023b). Dennoch eint diese Argumentationen der Aufforderungscharakter in Richtung der Gesellschaft und unterstreicht die Notwendigkeit der (breiten) Gestaltung. Außerdem werden in vielen Texten Zuständigkeiten ausgelotet: Wer ist zuständig, was muss juristisch geklärt werden, wo braucht es neue Gesetzgebung und wenn ja, auf welcher Ebene? Welche Rolle haben Gewerkschaften, was muss innerbetrieblich gestaltet werden? Dass darin auch immer die Möglichkeit liegt, sich als Akteur*in verantwortungsbewusst und gestaltungsmächtig zu inszenieren, ist ein durchaus erwünschter Nebeneffekt.
Mobilisierung statt Solutionismus
Über das Diskriminierungsargument und damit entlang von Geschlecht und Diversität wird im KI-Diskurs somit ausgehandelt, was eine „gute“ und „gerechte“ KI sein soll. Die Diskriminierungsrisiken, die u. a. hinsichtlich zukünftiger Arbeitswelten aufscheinen, machen KI zu einer problematischen Technologie, die qualitativ ungenügend und darüber hinaus gesellschaftlich riskant sein könnte. Verbreitet ist das Argument, die damit verbundenen Akzeptanzprobleme könnten nur abgebaut werden, wenn sich möglichst viele und vielfältige Teile der Gesellschaft mit KI auseinandersetzen. Gender und Diversität, auch im Sinne einer Beteiligung unterschiedlichster Akteur*innen an der Gestaltung von KI, werden somit zu einem zentralen Schlüssel, um KI „gut“ zu gestalten. Damit wird deutlich, dass KI nicht nur solutionistisch als Lösung im Diskurs gerahmt wird, sondern es zurzeit um Mobilisierung geht: Um die Diskriminierungsrisiken zu bewältigen, müssen verschiedene Akteur*innen ihre Kompetenzen und Perspektiven einbringen. Statt KI als gegeben und einseitig wirkmächtig anzunehmen, zeigt sich hier vielmehr die Argumentation, dass KI gestaltbar ist und mit viel Aufwand gesellschaftlich bearbeitet werden muss.
Schließlich ist aus Genderperspektiven interessant, dass feministische Forschung und wissenschaftliches Genderwissen, wenn auch langsam, mittlerweile offensichtlich in öffentliche Diskurse um technologische Entwicklungen und Arbeit Eingang gefunden haben. Befunde und Konzepte aus den Gender Studies haben Auswirkungen auf Diskurse, werden aufgegriffen und als Argumente in die Aushandlung von KI eingebracht.
Literatur
Acker, Joan, 1990. Hierarchies, Jobs, Bodies. A Theory of Gendered Organizations. In: Gender & Society 4 (2), S. 139–158. https://doi.org/10.1177/089124390004002002
Bundesverband der deutschen Industrie, o. J. Human Centricity (Interview mit Prof. Dr.-Ing. Carmen Constantinescu). https://bdi.eu/spezial/forward-to-the-new/human-centricity#/artikelwide/news/wie-mensch-und-roboter-in-der-industrie-enger-zusammenrcken (Zugriff: 24.10.2024).
Bundesverband Öffentlicher Banken, 2019. Künstliche Intelligenz in der Kreditwirtschaft. https://www.voeb.de/fileadmin/Dateien/Publikationen/voeb-digital-03-2019.pdf (Zugriff: 24.10.2024).
Die Bundesregierung, 2018. Strategie Künstliche Intelligenz der Bundesregierung. https://www.ki-strategie-deutschland.de/?file=files/downloads/Nationale_KI-Strategie.pdf&cid=728 (Zugriff: 24.10.2024).
Carstensen, Tanja und Kathrin Ganz, 2022. Frau Roboter streikt nicht. In: Magazin des Schauspiels Kölns (1) (S. 36–37). https://www.schauspiel.koeln/download/4953/mag01_arbeit_2022.pdf (Zugriff: 15.02.2023).
Carstensen, Tanja und Kathrin Ganz, 2023a. Gendered AI: German news media discourse on the future of work, AI & Society, S. 1–13. https://doi.org/10.1007/s00146-023-01747-5
Carstensen, Tanja und Kathrin Ganz, 2023b. Vom Algorithmus diskriminiert?. Zur Aushandlung von Gender in Diskursen über Künstliche Intelligenz und Arbeit, Working Paper Forschungsförderung 274, Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung. http://doi.org/10.25595/2310
Carstensen, Tanja und Kathrin Ganz, 2024. Künstliche Intelligenz und Gender – eine Frage diskursiver (Gegen-)Macht?, WSI Mitteilungen, 77(1), S. 26–33. https://doi.org/10.5771/0342-300X-2024-1-26
Dastin, Jeffrey, 2018. Amazon scraps secret AI recruiting tool that showed bias against women. Reuters. https://www.reuters.com/article/world/insight-amazon-scraps-secret-ai-recruiting-tool-that-showed-bias-against-women-idUSKCN1MK0AG/ (Zugriff: 24.10.2024).
Zitation: Tanja Carstensen, Kathrin Ganz: Mobilisierung statt Solutionismus: Gender im Diskurs um KI und Arbeit, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 12.11.2024, www.gender-blog.de/beitrag/mobilisierung-statt-solutionismus/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20241112
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