22. Juni 2021 Zentrum für Gender Studies und feministische Zukunftsforschung
Am Zentrum für Gender Studies und feministische Zukunftsforschung an der Universität Marburg gibt es seit 2017 eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen, die sich erstmals einen systematischen Vergleich antifeministischer Diskurse vorgenommen hat. Ihre Forschungsarbeit unter der Leitung von Annette Henninger wurde inzwischen in verschiedenen Publikationen dokumentiert (Henninger/Birsl 2020; Näser-Lather/Oldemeier/Beck 2019). Die neueste Veröffentlichung aus diesem Kontext ist ein Sonderheft der Zeitschrift GENDER mit Beiträgen verschiedener Autor_innen aus Deutschland, Italien, der Türkei und der Schweiz, die zum Thema Mobilisierungen gegen Feminismus und ‚Gender‘ forschen. Gemeinsam mit dem Budrich-Verlag ist das folgende Interview mit den Herausgeberinnen entstanden.
Der Titel Ihres aktuell erschienenen Buches Mobilisierungen gegen Feminismus und ‚Gender‘ deutet an, dass sowohl feministische Bewegungen als auch die Gender Studies mittlerweile Ziel von politisch motivierten Angriffen sind. Mit welchen Entwicklungen hängt das zusammen?
Seit einigen Jahren beobachten wir in Deutschland, aber auch international im Kontext des Erstarkens von Rechtspopulismus und Rechtsextremismus Polemiken gegen eine angebliche ‚Gender-Ideologie‘. Diese richten sich gegen herrschaftskritische Perspektiven auf die gegenwärtige Geschlechterordnung – und gegen Forderungen nach sexueller und geschlechtlicher Selbstbestimmung. In der Forschung wird das teils als Antifeminismus, teils als (Anti-)Genderismus diskutiert. Zu befürchten ist, dass schwierige und konflikthafte gesellschaftliche Situationen (wie derzeit infolge der Corona-Pandemie) von anti-demokratischen Akteur_innen dazu genutzt werden, bestehende Ressentiments zu verstärken. In solchen Situationen treten gesellschaftliche Spannungen noch stärker hervor.
Setzen Sie an diesen gesellschaftlichen Spannungen an?
Im Marburger Antifeminismus-Projekt haben wir Diskurse über eine Krise der Geschlechterverhältnisse als Symptome latenter regulatorischen Krisen analysiert. So haben beispielsweise ökonomische Transformationsprozesse zu einer Zunahme an Komplexität und Unsicherheit geführt und die Geschlechterforschung diskutiert seit einigen Jahren über eine Care-Krise. Gleichzeitig befindet sich die Geschlechterordnung am Übergang zu einer Flexibilisierung, die eine verstärkte Präsenz vielfältiger, nicht-heteronormativer Lebensweisen impliziert. Gender Studies und feministische Bewegungen stellen unhinterfragte Überzeugungen und Meinungen zum Thema „Geschlecht“ infrage. In Krisenzeiten gibt es jedoch ein Bedürfnis nach Sicherheit, das sich häufig in Retraditionalisierungstendenzen manifestiert, wie sie sich beispielsweise während des Lockdowns im Bereich der Care-Arbeit zeigen, aber auch in der Abwehr von Liberalisierungen der Geschlechternormen und in Interventionen gegen geschlechtergerechte Sprache. Dem müssen wir solidarische und demokratische Praktiken entgegensetzen, um gemeinsam eine Vision einer lebenswerten, pluralen und offenen Gesellschaft zu entwickeln, die auf einen Abbau statt eine Verstärkung von Ungleichheiten zielt.
Gab es für Sie einen Auslöser, sich der Themen „Antifeminismus“ und „(Anti-)Genderismus“ besonders anzunehmen?
Am Marburger Zentrum für Gender Studies und feministische Zukunftsforschung beschäftigen wir uns schon länger mit dieser Thematik. So haben Kolleg_innen aus verschiedenen Fachgebieten 2017 bis 2020 in einem großen, vom BMBF geförderten Forschungsprojekt untersucht, wie sich die Mobilisierungen gegen Feminismus und ‚Gender‘ in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen zeigen und dort wirken. Wir haben dazu fünf Fallstudien in den Feldern Wissenschaft, Integrationsarbeit, (Sexual-)Pädagogik, Mutterschaft und ‚Ehe für alle‘ durchgeführt. Zu anderen Themen blieben Fragen offen, auch ein Ländervergleich war in diesem Projekt nicht angelegt. Die Diskurse und Mobilisierungen entwickeln sich zudem beständig weiter.
Dies war für uns der Anlass, das GENDER-Sonderheft zu gestalten und auch andere Autor_innen zur Einsendung von Beiträgen einzuladen. Das Sonderheft bietet einen Überblick über die beschriebenen Phänomene. In der Einleitung werfen wir dazu übergreifende begriffliche und konzeptionelle Fragen auf. Die Beiträge analysieren Mobilisierungen gegen ‚Gender‘ und Feminismus aus historischer, zeitdiagnostischer und ländervergleichender Perspektive. Untersucht werden dabei Verschränkungen mit Rassismus und Antisemitismus sowie scheinbar widersprüchliche Bezugnahmen auf Feminismus, Frauenrechte und ‚Gender‘. Gefragt wird aber auch, wie die Geschlechterforschung diese hervorgerufenen Herausforderungen selbstkritisch nutzen könnte, um die eigenen Erkenntnisse und Positionen zu schärfen.
Welche feministischen Strategien gegen diese Entwicklungen sind denn aus Ihrer Sicht sinnvoll?
Ganz wichtig ist Solidarisierung: Verschiedene kritische Strömungen und Menschen, die sich für eine offene Gesellschaft einsetzen, die Pluralität anerkennt und auch wertschätzt, dürfen sich nicht gegeneinander ausspielen lassen. Das heißt nicht, dass kontroverse Ideen nicht mehr öffentlich verhandelt werden dürfen. Aber es geht um konstruktive Kritik und gemeinsame Bezugspunkte – wie etwa soziale Gerechtigkeit und Gleichrangigkeit von Verschiedenheit/der Verschiedenen. Es geht zugleich auch um klare „No-Gos“ – überall dort, wo die Menschenwürde verletzt wird, die unsere Verfassung ja als unantastbar definiert, oder wo demokratieverachtend gesprochen und gehandelt wird, müssen wir ganz klar und deutlich Gegenpositionen beziehen – je nach Problemlage oder Art des Angriffs in der Wissenschaft, in öffentlichen Debatten oder auch mit kreativen Strategien in der Populärkultur, z. B. mit politischer Satire oder in Rap-Songs. Wichtig sind aber auch erprobte Angebote der Bildungsarbeit, etwa im Bereich der Geschlecht reflektierenden Kinder- und Jugendarbeit, im Rahmen diskriminierungssensibler Bildungsarbeit oder im Bereich der Demokratiebildung. Diese Angebote müssen unbedingt weitergeführt werden und brauchen verlässliche staatliche Unterstützung.
Der GENDER-Sonderband 6 Mobilisierungen gegen Feminismus und ‚Gender‘. Erscheinungsformen, Erklärungsversuche und Gegenstrategien ist im Juni 2021 im Verlag Barbara Budrich per Open Access erschienen.
Literatur
Henninger, Annette & Birsl, Ursula (Hrsg.). 2020. Antifeminismen. 'Krisen'-Diskurse mit gesellschaftsspaltendem Potential? Bielefeld: transcipt.
Henninger, Annette; Bergold-Caldwell, Denise; Grenz, Sabine; Grubner, Barbara; Krüger-Kirn, Helga; Maurer, Susanne; Näser-Lather, Marion & Beaufaÿs, Sandra (Hrsg.). 2021. Mobilisierungen gegen Feminismus und ,Gender'. Erscheinungsformen, Erklärungsversuche und Gegenstrategien. GENDER Sonderheft 6. Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich.
Näser-Lather, Marion; Oldemeier, Anna Lena & Beck, Dorothee (Hrsg.). 2019. Backlash?! Antifeminismus in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Roßdorf: Ulrike Helmer Verlag.
Zitation: im Interview mit Zentrum für Gender Studies und feministische Zukunftsforschung : Mobilisierungen gegen Feminismus und ‚Gender‘ – Interview mit Marburger Forscherinnen, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 22.06.2021, www.gender-blog.de/beitrag/mobilisierungen-gegen-feminismus/
Beitrag (ohne Headergrafik) lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz