10. August 2021 Leonie Süwolto
Im Mittelpunkt von Anne Webers Epos Annette, ein Heldinnenepos, das 2020 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde, steht die Biografie einer bisherigen Randfigur der allgemeinen Geschichtsschreibung: Anne Beaumanoir. Die französische Widerstandskämpferin und ihr lebensrettendes Engagement für die Résistance während des Zweiten Weltkrieges sowie ihre spätere Unterstützung der Algerier*innen im Kampf um die Unabhängigkeit von der französischen Kolonialmacht werden durch Weber einer breiteren, literarisch interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Die Außergewöhnlichkeit der erzählten Taten und Ereignisse im Leben der Neurologin Beaumanoir bedingt eine zunächst unerwartete und unzeitgemäß erscheinende Form der Darstellung: Das Versepos wirkt nicht nur – so hat es die Literaturkritik unisono herausgestellt – in der heutigen Zeit wahlweise anachronistisch oder antiquiert. Vor allem bricht der epische Gesang auf die heute hochbetagte Widerstandskämpferin mit den Erwartungen an ein seit der Antike ausschließlich männlich kodiertes Gattungsmuster. Erzählt das Epos traditionell „von den Taten der Herrscher und Feldherrn und von leidvollen Kriegen“ (Horaz: Ars Poetica, V. 73f.), greift Webers Verserzählung aus der Mitte der verheerenden Kriege des 20. Jahrhunderts die Lebensgeschichte einer bemerkenswerten Frau heraus, besingt die Biografie einer von der Historiografie bis dato Unbeachteten anstelle eines vielgerühmten, männlichen Heros.
Über die Fiktionalisierung des erzählten Lebens
Es geht Weber jedoch offensichtlich nicht nur, schon gar nicht primär darum, mit ihrem Gesang ein Korrektiv oder Komplement der Geschichtsschreibung an die Öffentlichkeit zu bringen. Ganz im Sinne der antiken, aristotelischen Poetik obliegt es auch hier dem*der Dichter*in nicht, es dem*der Geschichtsschreiber*in gleichzutun, um zu archivieren, „was wirklich geschehen ist“ (Aristoteles: Poetik, Kap. 9, S. 29). Stattdessen wird von den Eingangsversen an der Grad der Fiktionalisierung des erzählten Lebens offengelegt und damit die Leistung literarischen Erzählens betont: Die Protagonistin kommt zuallererst, so lässt uns der Text wissen, „auf diesem weißen Blatt zur Welt“ (S. 5). Das Allgemeine, das im aristotelischen Sinne die Dichtung gegenüber der Geschichtsschreibung auszeichnet, sie zu „etwas Philosophischere[m] und Ernsthaftere[m]“ (Aristoteles: Poetik, S. 29) werden lässt, schlägt sich hier ganz offensichtlich in einer formalästhetisch ihresgleichen suchenden Reflexion der Bedeutung des Erzählens nieder. Und welche Gattung wäre dazu besser geeignet als das Epos als die Wiege der Erzählkunst?
Wie Odysseus – und doch ganz anders?
Weber stellt ihre Erzählung nicht nur durch die selbstgewählte Gattungszuordnung Heldinnenepos, die zugleich eine Aneignung und Unterminierung eines antiken Gattungsmusters vermuten lässt, in eine Jahrtausende alte Erzähltradition. Immer wieder legt die Autorin durch mehr oder weniger starke Markierungen die Hypertextualität ihres Textes offen. Die homerische Odyssee und ihr auf den Weltmeeren reisender Held Odysseus bilden als einer der Gründungstexte bzw. als eine der Gründungsfiguren der Gattung die maßgebenden Vorbilder für die Modellierung der Heldin und der Erzählung ihres außerordentlichen Handelns: Annette wird am Meer geboren, am Ärmelkanal und – wie Odysseus, aber eben doch anders – begibt sie sich im jungen Erwachsenenalter auf Reisen; nicht zu Wasser, sondern zunächst inländisch quer durch Frankreich. Später kommen Stationen in Algerien und in der Schweiz dazu und schließlich kehrt sie zurück in die französische Heimat.
Auch ihre Heldinnenreise hält (politische) Irrwege, Prüfungen und Abenteuer bereit, die stets im Bewusstsein der Odyssee erzählt werden. Nach dem Ende der deutschen Besatzung zieht Annette eine traurige Bilanz der allgemeinen, insbesondere der persönlichen Verluste: „Und wie Odysseus könnte sie, / gefragt nach ihrem Namen, nicht nur aus List, sondern / wahrheitsgemäß ‚Ich heiße Niemand‘ sagen“ (S. 59f.). Die Ähnlichkeit der erzählten Schicksale wird deutlich herausgestellt und zugleich deren Differenz markiert, die Leser*innen mit durchaus geschlechterstereotypen Handlungsmustern konfrontiert: Der listige Odysseus überwindet den Zyklopen mit der außerordentlichen Kraft seines Verstandes, indem er seine tatsächliche Identität im Verborgenen hält. Annettes Identitätslosigkeit ist dagegen authentisch.
Dabei ringt die weibliche Hauptfigur förmlich um Anerkennung ihrer, den Helden der antiken Epen ebenbürtigen, Stellung als bewaffnete Kämpferin, als buchstäbliche Protagonistin (i. S. v. Vorkämpferin) ihrer eigenen Erzählung: „[S]o sehr verlangt es sie nach einem anderen Tätigwerden, / genau gesagt nach Kämpfen […] wie ein wahrer Kämpfer, Waffe in der Hand“ (S. 76ff.). Annettes Kampfeslust erinnert an den von Vergil besungenen Helden Aeneis und dessen erzählerische Einführung mit den Worten „Arma virumque cano“ (Vergil: Aeneis, V. 1). Indem Annettes Tatendrang auf den antiken Prätext rekurriert, erweist sich das Figurenhandeln als gattungsreflexiv: Über die zuweilen aus dem doing gender Annettes erzeugten Abweichungen von (antiken) Vorbildern wird der Fokus umso mehr auf die zugrundliegenden Gattungsmuster gelenkt.
Von der Vermittlerin zur Protagonistin der Erzählung
Während die behauptete Ähnlichkeit der Figuren Odysseus und Annette stets mit Abweichungen verbunden ist, weicht auch das der Gattung von Aristoteles zugrunde gelegte, erhabene Versmaß des Hexameters im Verlauf des Textes zusehends herkömmlicher, nur noch durch den Zeilensprung als gebunden getarnter Prosa. Dementsprechend verliert sich die Ähnlichkeit der Texte formalästhetisch zusehends in der Differenz. Die Eingangsverse von Webers Epos stellen im Sinne der Ähnlichkeit überdies einen deutlich erkennbaren inhaltlichen Bezug zum ersten Gesang der Odyssee her und treten gleichzeitig in ein Spannungsverhältnis zu ihm.
Das homerische Epos fixiert mit seinen viel zitierten Eingangsversen eindeutige (Geschlechter-)Rollen. Die Muse wird als Vermittlerin der Taten des Heros als dem Protagonisten der Gattung angerufen. Webers Text dagegen konfrontiert mit grundlegend veränderten Rollen, die Erzählung bzw. Erzählerin und Hauptfigur einnehmen. Wenn es heißt: „Sie [Anne, L. S.] ist sehr alt, und wie es das Erzählen will, ist sie zugleich noch ungeboren“ (S. 5), erweist sich die personifizierte Erzählung als eigentliche Akteurin, während die Hauptfigur – Anne Beaumanoir – zwar sicherlich nicht zufällig erwählt wurde und ihre Geschichte überdies keinesfalls unbedeutend ist, jedoch vor allem Medium einer Metareflexion des Erzählens ist.
Es sind zwar längst nicht mehr die einstigen Taten des antiken, männlichen Heros, die es hier zu vermitteln gilt, aber auch nicht zuvörderst das bemerkenswerte Handeln einer Zeitgenossin. Vielmehr reflektiert sich das Erzählen in seiner urtümlichen Form, dem Epos, selbst – und die Leistungen der Erzählung erweisen sich als grandios und der gewählten Form mehr als würdig.
Von der Kunst des Erzählens
So wird das gesamte Handlungsspektrum nullfokalisierten Erzählens nahezu virtuos ausgespielt: Pro- und Analepsen, Perspektivwechsel, Empathie und Distanz, Präsenz, Absenz, Dezenz. Dabei bleiben die Leistungen der Erzählinstanz respektive der Erzählung nie im Verborgenen, sondern werden ausgestellt: „[W]ir stehen in der fernen Zeit und stehen und finden keinen Satz und keinen Vers und keine Zeile, die etwas andres möchte als zu stehen und mit ihm zu weinen“ (S. 39). Uns als Rezipient*innen empathisch teilhaben zu lassen an einem außergewöhnlichen Leben, ist eine Leistung des Erzählens bzw. der Erzählerin, ihrer Verse, Sätze und Zeilen – daran besteht hier kein Zweifel. Und so führt das Ende der Heldinnenreise, die gattungstypische Rückkehr – hier Annettes Rückkehr in die Bretagne nach dem Exil in der Schweiz –, folgerichtig zur Begegnung mit der Autorin ihrer Geschichte, die „vom Liebesblitz getroffen […] [wird]. / Kaum heimgekehrt, fährt sie gleich / wieder hin zu ihr“ (S. 206f.). Die erzählte Begegnung im Text, die durch den angehängten Kommentartext beglaubigt wird als reales Aufeinandertreffen, wird zum Aufbruch: Die Odyssee der Autorin und ihrer Erzählung beginnt und bringt eine selbstreflexive, traditionsbewusste, im besten Sinne epische Hommage an die Kunst des Erzählens hervor.
Annette, ein Heldinnenepos von Anne Weber ist 2020 bei Matthes & Seitz erschienen.
Literatur
Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos. Berlin: Matthes & Seitz 2020.
Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und hg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam 1982.
Horaz: Ars Poetica. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und hg. von Eckart Schäfer. Stuttgart: Reclam 1980.
Vergil: Aeneis. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und hg. von Niklas Holzberg. Berlin/Boston: De Gruyter 2015.
Zitation: Leonie Süwolto: Moderne Heldin im antiken Gewand? „Annette, ein Heldinnenepos“, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 10.08.2021, www.gender-blog.de/beitrag/moderne-heldin-anne-weber/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20210810
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