25. Juni 2024 Ole Liebl
Auf der diesjährigen Buchmesse in Leipzig stach mir ein neues Lieblingsthema des politischen Sachbuchs ins Auge. Mit apokalyptischen Titeln wird eine neue Bedrohung heraufbeschworen: die Wokeness. Und wenn ich Bedrohung sage, meine ich Bedrohung: „Wie eine woke linke Wissenschaft Kultur und Gesellschaft bedroht“ (Schröter 2024) – „Wie eine Moralelite die Bürgergesellschaft bedroht“ (Wendt 2024) – „Wie eine neue linke Ideologie aus Amerika unsere Meinungsfreiheit bedroht“ (Pfister 2023) – „Wie eine moralisierende Minderheit unsere Demokratie bedroht“ (Köpf/Ramadani 2023). So lauten einige Untertitel der Bücher.
Doch wie soll eine Haltung, die sich im Kern um die Aufhebung von Unterdrückung dreht, selbst unterdrückend wirken? Wie soll eine Praxis, die den Entrechteten eine Stimme geben möchte, die Meinungsfreiheit einschränken? Aus Neugier machte ich mich daran, alle deutschsprachigen Anti-Woke-Bücher der vergangenen drei Jahre durchzuarbeiten.
Wer die Anti-Woken sind und was sie wollen
Drei große Lager lassen sich unter den zwei Dutzend Autoren* der Anti-Wokeness ausmachen: Journalisten, Philosophen und Professoren (wobei sich die beiden letzten Gruppen stark überschneiden). Von journalistischer Seite wird der Verfall des öffentlichen Diskurses beklagt, die Philosophen sehen das Erbe des Universalismus und der Aufklärung gefährdet, während die akademischen Vertreter um die Freiheit der Wissenschaft bangen.
* Da ohne Ausnahme alle Autorinnen das Gendern ablehnen, fasse ich sie auch stets unter das generische Maskulinum. Auch sie haben das Recht auf eine ihnen geschlechtsgemäß erscheinende Ansprache.
Die Autoren vertreten dabei verschiedene politische Positionen. Rechte Stimmen wünschen sich nicht die Abschaffung von Identitäten, sondern die Stärkung von nationalen bzw. die Ablösung von religiösen (bzw. muslimischen) Identitäten (Sarrazin 2022). Die philosophische Riege der Universalisten hingegen sieht im Fokus auf Identitäten eine gefährliche Rückkehr des „Stammesdenkens“ (Neiman 2023), in der das Ideal einer Menschheit zugunsten der eigenen Gruppe hintangestellt wird (Boehm 2022; Hübl 2024; Mounk 2024). Eher sozialdemokratische oder linkskonservative Stimmen werfen der ‚Wokeness‘ wiederum eine Klassenvergessenheit vor (Pfister 2023; Wagenknecht 2021). Explizit liberale Autoren legen Wert auf das hohe Gut der unbedingten Redefreiheit, das sie durch ‚Wokeness‘ eingeschränkt sehen (McWhorter 2022; Pluckrose/Lindsay 2022; Voss 2024) Und die konservativen Stimmen – vor allem älterer, weißer Herren – möchten sich in den modernen Debatten um Diskriminierung selbst weniger beleidigt fühlen, was ja auch erst mal eine valide Position ist (u. a. Brockhaus/Lehfeldt 2023; Gruber/Hock 2023; Schuler 2023).
Der Gegenstand der Kritik
Doch was meinen die Autoren eigentlich, wenn sie von ‚Wokeness‘ sprechen? Immerhin wird der Begriff heutzutage nur noch von seinen Gegnern verwendet. Die ‚Wokeness‘ wird heftig kritisiert, aber selten genauer definiert. Grob gesagt wird ‚Wokeness‘ von den Autoren mit einer linken (das heißt: nicht nationalen/nicht religiösen) Identitätspolitik gleichgesetzt. Unter dem Deckmantel der Gleichberechtigung von allerlei marginalisierten Identitätsgrüppchen würde mit autoritären Mitteln ein Machtanspruch durchgesetzt. Deshalb werden der ‚Wokeness‘ zwei zentrale Vorwürfe gemacht.
Der erste große Vorwurf besteht in übermäßiger Moralisierung – Michael Andrick (2024) spricht in Anlehnung an Nietzsche gar von ‚Moralin‘, dem Gift der Moralisierung. Das Schreckensbild wird von den Autoren in etwa so gezeichnet: Wer ‚woke‘ Theorien kritisiert, die sich ja für die Unterdrückten einsetzen, macht sich automatisch mit den Unterdrückern gemein. So teilt sich die Welt in die strikten Kategorien von Gut und Böse. ‚Wokeness‘ übe einen moralischen Druck aus, um ihre Kritiker mundtot zu machen. (Dass diese mundtoten Kritiker offensichtlich zahlreiche Bestseller veröffentlicht haben, sei an dieser Stelle zumindest erwähnt.)
Der zweite Vorwurf besteht darin, dass selbst bei einer sachlichen Debatte Kritik an der Wokeness unmöglich ist, weil sie sich unwiderlegbar macht: Wissenschaftliche Objektivität lehnt sie als ein Märchen der weißen, patriarchalen, westlich-individualistischen usw. Wissensproduktion ab. Jeder Wahrheitsanspruch, auch der Wissenschaft, sei nichts anderes als ein Machtanspruch (so eine recht vulgäre Auslegung von Foucault). Eine ‚woke‘ Wissenschaft unterwerfe sich deshalb keinen objektiven Kriterien, sondern erkämpfe mit aktivistischem Eifer ihren Platz im Diskurs.
Alles Woke ist abzulehnen
Da die ‚Wokeness‘ nach einhelliger Meinung der Autoren extrem universitär geprägt sei, machen sie auch bestimmte akademische Schulen für die ‚woke Ideologie‘ verantwortlich, namentlich den Queerfeminismus, den Dekolonialismus und die Critical Race Theory. Die beiden Vorwürfe der Moralisierung und der Unwiderlegbarkeit treffen diese Schulen auf ihre je eigene Weise:
Dem Queerfeminismus wird vorgeworfen, dass er die physische Realität von zweigeschlechtlichen Körpern verneine (Unwiderlegbarkeit), was von den Autoren ausschließlich mit einer in jedem Sinne einseitigen Lektüre von Judith Butlers Gender Trouble erklärt wird. Wer auf wissenschaftlich bewiesene Unterschiede hinweise, gelte automatisch als transfeindlich (Moralisierung). Die anti-woken Autoren bleiben damit auffallend häufig auf einem Diskurslevel von Anfang der 1990er-Jahre hängen. Die Unkenntnis aktueller Genderdebatten steht im schroffen Gegensatz zur leidenschaftlichen Intensität, mit der sich der Geschlechtertheorie gewidmet wird.
Der Dekolonialismus hingegen muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass sein eigentlich hehrer Anspruch, die Welt von kolonialer Gewalt zu befreien, in einer kulturellen Blut-und-Boden-Ideologie münde. Hinter jeder Ecke lauere kulturelle Aneignung (Moralisierung). Mit der ‚Wokeness‘ fielen wir in den barbarischsten Tribalismus zurück, meint bspw. Susan Neiman. Manche Autoren wie Pascal Bruckner gehen sogar noch weiter und behaupten, dass das Ziel der ‚Wokeness‘ sei, die weiße, westliche Kultur komplett auf dem Scheiterhaufen der Geschichte brennen zu sehen. Pauline Voss schreibt pointiert: „Eine Tradition erhalten zu wollen, ist in ihren Augen nur gerechtfertigt, wenn die Tradition diskriminiert wurde. (…) Nur was bereits zerstört wurde, darf auf Erhalt pochen“ (Voss 2024: 79).
Schließlich pflege die Critical Race Theory (CRT) das Bild eines unüberwindbaren Rassismus. Alle Fortschritte der liberalen Gesellschaften – Abschaffung der Sklaverei, Aufhebung der Rassensegregation oder Abnahme rassistischer Stereotype – verkämen durch das Konzept des strukturellen Rassismus zu bloßer Symptombekämpfung. In Anbetracht der objektiv verbesserten Lebensumstände rassifizierter Menschen sei das nichts anderes als Realitätsverweigerung (Unwiderlegbarkeit). Wer Mikroaggressionen, epistemische Gewalt und White Fragility für kleinlich und hypersensibel halte, gelte jedoch mit sofortiger Wirkung als Rassist (Moralisierung).
Wie mit anti-woker Kritik umgehen?
Es ist bezeichnend, wie häufig der ‚Wokeness‘ ein rechthaberischer, moralisierender und unwissenschaftlicher Stil vorgeworfen wird, in den zahlreiche der anti-woken Autoren selbst verfallen. Sie verweigern, sich konstruktiv mit Identitätspolitik auseinanderzusetzen, sie erkennen weder deren gesellschaftlichen Erfolge noch theoretischen Entwicklungen an. Die hehre Ideologiekritik, der sich die Autoren verschrieben haben, verkommt so oft zu einer bloß oberflächlichen Behandlung des Zeitgeistes. Identitätspolitische Bewegungen haben in den vergangenen Jahrzehnten eine Stimmenvielfalt in Medien, Politik und Wissenschaft erkämpft, die lange undenkbar gewesen wäre. Das wird von den meisten Autoren nur als Gefahr, Dogma oder Chaos angesehen.
Trotzdem möchte ich den Versuch wagen, die Kritik in all ihren Widersprüchen ernst zu nehmen. Wo stimme ich zu? Die Erfolge vergangener Kämpfe, zu denen auch die liberalen und bürgerlichen Emanzipationen gehören, sollten nicht vergessen werden. Wenn sie nur beiläufig als „ja, aber“-Floskel vorkommen, würdigt man ihre gewaltigen Befreiungswirkungen nicht ausreichend. Außerdem dürfen wir nicht aufhören, Widersprüche und Begrenzungen aller Identitäten aktiv zu suchen und zu benennen, auch wenn es in politischen Kämpfen nicht immer die beste strategische Entscheidung ist (Hill Collins 2023; Loick 2024).
Doch das beste Gegengift zu intellektuellem Totalitarismus und kulturellem „Stammesdenken“ bleibt die Selbstkritik, gerade weil sie verletzlich macht. Die Anti-Woken lehren uns auch, dass Interdisziplinarität das Gebot der Stunde ist. Der Queerfeminismus sollte die Evolutionsbiologie nicht den Incels überlassen (Cooke 2023) und der Antirassismus sollte seine ökonomische Fundierung weiter ausbauen (Elbe et al. 2022; Sarbo/Roldán Mendívil 2023, im populären Sachbuch: Dabiri 2022; Kindler 2023; Kurt 2021). So kann der Vorwurf der wissenschaftlichen Beliebigkeit schnell entkräftet werden. Wir sollten schließlich lernen, selbst in politisch reaktionären Zeiten den Humor nicht zu verlieren. Die Verbitterung vieler anti-woker Autoren sollte uns kein Vorbild werden. Das, was linke Identitätspolitik möchte, muss den Blick für eine freudvollere, zärtlichere und eben auch weniger ernste Welt weiten, die für alle Menschen erstrebenswert ist.
Das Ende der ‚Wokeness‘ wird zwar heute überall ausgerufen – aber vielleicht stehen wir erst an ihrem konstruktiven Beginn.
Literatur
Sofern die angegebenen Quellen im Text nicht direkt erwähnt wurden, handelt es sich um die eingangs erwähnten „Anti-Woke“-Bücher.
Andrick, Michael (2024). Im Moralgefängnis. Spaltung verstehen und überwinden. Neu-Isenburg: Westend.
Basad, Judith Sevinç (2021). Schäm dich! Wie Ideologinnen und Ideologen bestimmen, was gut und böse ist. Frankfurt/Main: Westend.
Bockwyt, Esther (2024). Woke. Psychologie eines Kulturkampfs. Neu-Isenburg: Westend.
Boehm, Omri (2022). Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität. Berlin: Propyläen.
Bolz, Norbert (2023). Der alte weisse Mann. München: LMV.
Brockhaus, Nena & Lehfeldt, Franca (2023). Alte weise Männer. Hommage an eine bedrohte Spezies. München: Gräfe und Unzer.
Bruckner, Pascal (2021). Ein nahezu perfekter Täter. Die Konstruktion des weißen Sündenbocks. Berlin: Edition Tiamat.
Cooke, Lucy (2023). Bitch: A revolutionary guide to sex, evolution and the female animal. London: Penguin Books.
Dabiri, Emma (2022). Was weiße Menschen jetzt tun können: von »Allyship« zu echter Koalition. Berlin: Ullstein.
Elbe, Ingo; Forstenhäusler, Robin; Henkelmann, Katrin, Rickermann, Jan; Schneider, Hagen & Stahl, Andreas (Hrsg.). (2022). Probleme des Antirassismus: postkoloniale Studien, Critical Whiteness und Intersektionalitätsforschung in der Kritik. Berlin: Edition Tiamat.
Gruber, Monika & Hock, Andreas (2023). Willkommen im falschen Film: neues vom Menschenverstand in hysterischen Zeiten. München: Piper.
Hill Collins, Patricia (2023). Intersektionalität als kritische Sozialtheorie. München: Unrast.
Hübl, Philipp (2024). Moralspektakel. Wie die richtige Haltung zum Statussymbol wurde und warum das die Welt nicht besser macht. München: Siedler.
Kindler, Jean-Philippe (2023). Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf: eine neue Kapitalismuskritik. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag.
Köpf, Peter & Ramadani, Zana (2023). Woke. Wie eine moralisierende Minderheit unsere Demokratie bedroht. Köln: Quadriga.
Kurt, Şeyda (2023). Hass - von der Macht eines widerständigen Gefühls. Hamburg: HarperCollins.
Loick, Daniel (2024). Die Überlegenheit der Unterlegenen: eine Theorie der Gegengemeinschaften. Berlin: Suhrkamp.
Marguier, Alexander & Krischke, Ben (Hrsg.). (2023). Die Wokeness-Illusion. Wenn Political Correctness die Freiheit gefährdet. Freiburg: Herder.
McWhorter, John H. (2022). Die Erwählten. Wie der neue Antirassismus die Gesellschaft spaltet. Hamburg: Hoffmann und Campe.
Mounk, Yascha (2024). Im Zeitalter der Identität. Der Aufstieg einer gefährlichen Idee. Stuttgart: Klett-Cotta.
Neiman, Susan (2023). Links ist nicht woke. München: Hanser Berlin.
Pfister, René (2023). Ein falsches Wort. Wie eine neue linke Ideologie aus Amerika unsere Meinungsfreiheit bedroht. München: Penguin Verlag.
Pluckrose, Helen, & Lindsay, James (2022). Zynische Theorie. Wie aktivistische Wissenschaft Race, Gender und Identität über alles stellt - und warum das niemandem nützt. München: C.H.Beck.
Sarbo, B., & Roldán Mendívil, E. (Hrsg.). (2023). Die Diversität der Ausbeutung: Zur Kritik des herrschenden Antirassismus (3. Aufl.). Berlin: Dietz.
Sarrazin, Thilo (2022). Die Vernunft und ihre Feinde: Irrtümer und Illusionen ideologischen Denkens (2. Aufl.). München: LMV.
Schröter, Susanne (2024). Der neue Kulturkampf. Wie eine woke Linke Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft bedroht. München: Herder.
Schuler, Ralf (2023). Generation Gleichschritt. Wie das Mitlaufen zum Volkssport wurde. Basel: Fontis.
Voss, Pauline (2024). Generation Krokodilstränen. Über die Machttechniken der Wokeness. München: Europa Verlag.
Wagenknecht, Sahra (2021). Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm - für Gemeinsinn und Zusammenhalt. Frankfurt/Main: Campus.
Wendt, Alexander (2024). Verachtung nach unten. Wie eine Moralelite die Bürgergesellschaft bedroht – und wie wir sie verteidigen können. Reinbek: Lau Verlag.
Zitation: Ole Liebl: Die neue Anti-Wokeness, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 25.06.2024, www.gender-blog.de/beitrag/neue-anti-wokeness/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20240625
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Kommentare
Katharina Tolle | 25.06.2024
Ein wunderbarer Artikel, der mich sowohl zum Lächeln als auch zum Nachdenken gebracht hat. Danke!
ingrid schacherl | 08.07.2024
Danke für den Beitrag - sehr anregende Lektüre, die mich ebenfalls zum Schmunzeln gebracht hat!