05. April 2022 Alexandra Regiert
Besetzte Hörsäle, Plakate schwenkende Vertreter*innen der Neuen Linken und promiskuitive Ausschweifungen einer Berliner Kommune: Die Anrufung ‚1968‘ ruft im allgemeinen Geschichtsbewusstsein sofort plakative Bilder einer aufrührerischen – und primär männlichen – Jugend vor Augen. Doch jenseits massenmedial verbreiteter Bilder schufen gerade die ‚Achtundsechzigerinnen‘ ein „explizites Bewusstsein für Hierarchien und Machtverhältnisse in den Geschlechterbeziehungen“ (Bauer 2010, 164).
Im Schatten der Revolte
Bei den in feministischen Gruppen engagierten Akteurinnen handelte es sich jedoch lediglich um einen marginalen Anteil der weiblichen Gesamtbevölkerung. Subjektive Perspektiven von jungen Frauen der Zeit um 1968 (vgl. Jureit 2017), die gewissermaßen ‚im Schatten der Revolte‘ standen, blieben in der Forschung bislang weitgehend unbeachtet (vgl. Hodenberg 2018, 12). Mit kulturwissenschaftlichem Blick zeigt sich auch abseits der Hauptschauplätze von ‚1968‘ und der dort agierenden akademischen Milieus ein Oszillieren zwischen tradierten Rollenbildern und Emanzipationsbestrebungen. Folgend soll ein lebensgeschichtliches Interview mit Anna B. (Name geändert) daraufhin exemplarisch näher betrachtet werden. Die Interviewpartnerin ist 1952 geboren und stammt aus dem Arbeitermilieu einer mittelgroßen Stadt im Norden der BRD. Das lebensgeschichtliches Interview wurde zwischen 2020 und 2021 in mehreren Etappen geführt.
„Die Rolle der Frau war einem auf den Leib geschneidert“ – Reflexion der familialen Geschlechterordnung
Die Interviewte begann Ende der 1960er-Jahre mit Beginn ihrer Lehre als Krankenpflegerin und dem Umzug in ein Schwesternheim, das starre Korsett tradierter Geschlechterrollen zunehmend in Frage zu stellen und den Anspruch auf eine individuellere Lebensgestaltung zu erheben. Den Tätigkeitsbereich ihrer Mutter beschreibt Anna prägnant mit den „drei Ks: Kinder, Küche, Kirche“; ihr Vater, ein Werftarbeiter, sei als Versorger der Familie „in die Arbeit gegangen“ und habe „Geld nachhause“ gebracht. So schreibt sich Anna trotz fehlender Verbindungen zur Frauen- und Studierendenbewegung einer subversiv gesinnten Generation emanzipierter Frauen zu.
„Und ich zähle sicherlich zu dieser ersten Garde von Frauen, die sich aus diesem Meer freigeschwommen haben. […] Ja, aus diesem Korsett ausgestiegen sind und haben gesagt: ‚Nee, das machen wir jetzt anders.‘“
„Wir haben beide Haushalt gemacht“ – Erosion geschlechtsspezifischer Aufgabenverteilungen
Annas subjektiv wahrgenommener Emanzipationsprozess war eng an das Verbundensein mit einem Mann gekoppelt. Während die Eltern der Interviewten das Tragen von Miniröcken oder Diskothekenbesuche untersagt hatten, eröffnete ihr die Heirat mit dem Marinesoldaten Heinrich (Name geändert) im Jahr 1972 die Tür zu einer selbstbestimmteren Lebensgestaltung.
„Die Rollenverteilung war eigentlich / Mein Mann hat auch geputzt, gewaschen, gebügelt. […] Wir haben beides gemeinsam gemacht, damit wir auch gemeinsam die Freizeit nutzen konnten. Wir haben gemeinsam auf die Kinder aufgepasst und so. […] Wenn er kam, wenn er nicht zur See war. […] [D]ann hab‘ ich den Haushalt gemacht. […] Und es war nicht so, dass er gesagt hat, wenn er abends von der Arbeit kam: ‚Wenn ich nachhause komme, dann will ich mein Essen auf dem Tisch.‘ Wenn das nicht auf dem Tisch war, dann hat er es gemacht.“
Aus dieser Passage lässt sich eine wahrgenommene Ebenbürtigkeit der Geschlechter ableiten, die sich aus Sicht der Befragten in der beginnenden Erosion geschlechterspezifischer Aufgabenverteilungen manifestierte. Überdies bekräftigt die gehäufte Verwendung des Adjektivs „gemeinsam“ den Eindruck, dass Anna die Ehe als Gemeinschaft zu erleben schien, die beide Partner aktiv mitgestalteten: So avancierte in den 1970er-Jahren auch die ‚Partnerschaft‘ zur Leitmetapher für die politische Forderung nach Gleichberechtigung in der Lebenspraxis (vgl. Neumaier 2019, 456 f.). Zwar übernahm die Interviewte faktisch den Großteil der Hausarbeit, da Heinrich häufig für mehrere Monate zur See fuhr, dennoch betont sie eine – ihrem Empfinden nach – ausbalancierte Beteiligung an häuslichen Tätigkeiten.
„Ich wollte auch noch was anderes“ – Bedeutung der Frauenerwerbsarbeit
Anna misst der Frauenerwerbsarbeit, die in den 1960er-Jahren durch die Kontinuität des wirtschaftlichen Wachstums und mit dem steigenden Bedarf an Arbeitskräften zunehmend politische Förderung erfuhr (vgl. Braun 2005, 251), eine hohe Bedeutung bei. So nahm die junge Mutter ihre Tätigkeit als Krankenpflegerin trotz der daraus resultierenden Doppelbelastung wieder auf, um der empfundenen Eintönigkeit des Hausfrauen- und Mutteralltags zu entfliehen:
„Ja, das [Arbeiten] gab mir eben Selbstständigkeit, Selbstwertgefühl. Ich war nicht nur für die drei Ks – Kinder, Küche, Kirche – zuständig, sondern ich konnte auch noch was anderes.“
Das wiederholte Aufgreifen des Topos „Kinder, Küche, Kirche“ bringt Annas Distanzierung von tradierten Rollenbildern zum Ausdruck und ihr Bekenntnis, sie habe „auch noch was anderes“ gewollt, impliziert das Streben nach Erfahrungen jenseits des häuslichen Umfeldes. Überdies emanzipiert sich die Interviewte deutlich von der geschlechterideologischen Vorstellung ihrer Mutter, nach welcher die Erwerbstätigkeit einer verheirateten Frau lediglich aus dem Scheitern des Mannes in seiner Rolle als Versorger resultieren kann.
„Also es haben sicherlich auch viele Leute gesagt zu meiner Mutter, wenn die sagte: ‚Ja, meine Tochter hat einen Mann geheiratet, der die Familie nicht versorgen kann, die muss noch arbeiten gehen.‘ ‚Ach, das ist ja schrecklich. Ja, also das geht gar nicht.‘ Doch, das geht wohl! Wozu hab‘ ich einen Beruf gelernt, wenn ich ihn nicht ausüben darf, obwohl er mir Spaß gemacht hat?“
In Formulierungen wie dieser überliefert sich nicht zuletzt der im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts erfolgte Bedeutungswandel der Vollzeithausfrau vom „stolzen Mittelstandssymbol“ (Niehuss 1999, 46) zum reaktionären Rollenbild.
„Ich war vielleicht manchmal Hausmütterchen“ – zwischen Emanzipation und Hausfrauendasein
Obgleich sich die Interviewte sowohl hinsichtlich einer vermeintlich geschlechteregalitären Aufgabenverteilung als auch durch ihre Erwerbstätigkeit von den tradierten Geschlechterrollen ihrer Herkunftsfamilie distanziert, bekennt Anna, sich grundsätzlich mit ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter zu identifizieren:
„[I]ch hab‘ […] das Hausmütterchen ausleben können, ich hab‘ mich selber gefunden, ich hab‘ Arbeit gehabt, ich konnte arbeiten gehen, ich konnte meine Hobbys ausleben, ich konnte mit Freundinnen gehen. Also ich würde alles eigentlich nochmal so machen wollen. Mit dem Partner. Mit einem Partner, der so wäre wie er.“
Diese Passage bringt jenes Oszillieren zwischen tradierten Rollenbildern und Emanzipationsbestrebungen zum Ausdruck, das wohl die Lebensverläufe vieler 'Frauen im Schatten der Revolte' kennzeichnete: Laut Christina von Hodenberg fanden sich viele Frauen der 1968er-Generation in einem klassischen Familienmodell wieder, gleichwohl sie „bewusst den Gegensatz zu ihren Müttern kultivierten“ (Hodenberg 2018, 145).
Risse in der patriarchalen Geschlechterordnung
Bilanzierend kann festgehalten werden, dass das bloße Wahrnehmen des aufkeimenden Wunsches nach einer individuellen Lebensgestaltung und die Reflexion der zugeschriebenen Rollen in den Narrationen der Interviewpartnerin auf einen zeitspezifischen Mentalitätswandel und auf Risse in der patriarchalen Geschlechterordnung hindeuten. Das, was als ‚Politisierung des Privaten‘ aus den feministischen Debatten um 1968 auf uns gekommen ist, vollzieht sich individuell als schichtübergreifender gesellschaftlicher Wandel weiblicher Biografien – mäandrierend zwischen Hausfrauendasein und Emanzipationsbestrebungen.
Literatur
Bauer, Ingrid (2010): 1968 und die sex(ual) & gender revolution. Transformations- und Konfliktzone: Geschlechterverhältnisse. In Oliver Rathkolb, Friedrich Stadler (Hrsg.), Das Jahr 1968. Ereignis, Symbol, Chiffre (Zeitgeschichte im Kontext Bd. 1, S. 163–186.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Braun, Annegret: (2005): Frauenalltag und Emanzipation. Der Frauenfunk des Bayerischen Rundfunks in kulturwissenschaftlicher Perspektive (1945–1968) (Münchner Beiträge zur Volkskunde Bd. 34). Münster, New York: Waxmann.
Hodenberg, Christina von (2018): Das andere Achtundsechzig. Gesellschaftsgeschichte einer Revolte. München: C.H. Beck.
Jureit, Ulrike (2017): Generation, Generationalität, Generationenforschung. Zugriff am 06.02.2022 unter https://docupedia.de/zg/Jureit_generation_v2_de_2017.
Neumaier, Christopher (2019): Familie im 20. Jahrhundert. Konflikte um Ideale, Politiken und Praktiken (Wertewandel im 20. Jahrhundert Bd. 6). Berlin, Boston: Walter de Gruyter.
Niehuss, Merith (1999): Die Hausfrau. In Ute Frevert, Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.), Der Mensch des 20. Jahrhunderts (S. 45–66). Frankfurt/Main: Campus.
Genutzte Interviewquellen
Interview mit Anna B. am 28.11.2020.
Interview mit Anna B. am 06.03.2021.
Zitation: Alexandra Regiert: Nur Kinder, Küche, Kirche? Zum Wandel weiblicher Lebensentwürfe um 1968, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 05.04.2022, www.gender-blog.de/beitrag/nur-kinder-kueche-kirche/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20220405
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