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Patriarchat revisited. Androzentristische Dispositive in Geschichte und Gegenwart

20. Mai 2025 Friederike Schruhl-Hildebrand Anne Stellberger

Eine Untersuchung der patriarchalen Matrix in historischer und systematischer Weise möchten die Herausgeberinnen Tina Hartmann und Elena Köstner mit ihrem 2024 erschienen Sammelband Patrix. Patriarchale Systematik und ihre Verdinglichung vorlegen. Dem ‚Leben in der Patrix‘ widmen sich literatur-, film-, kunst-, kultur- und geschichtswissenschaftliche Forschungsbeiträge und versuchen aus einer gendersensiblen und machtkritischen Perspektive, Aspekte der Patrix und deren „Omnipräsenz in Objekten, Strukturen und Hierarchien der Vergangenheit und Gegenwart“ (S. 8) intersektional zu analysieren.

Zur Perspektivierung des Bandes

Die Herausgeberinnen nutzen ihre Einleitung, um grundsätzliche Definitionen der im Band zentralen Begriffe vorzunehmen. Sie unterscheiden dabei – in Anlehnung an Eva Cyba – das Patriarchat, mit dem „eine Sichtweise verbunden [ist], die die strukturellen Ähnlichkeiten in den einzelnen Formen von Diskriminierung und Ungleichheit hervorhebt“ (Cyba 2008, S. 19), und die Patrix, welche die androzentrische Hegemonie akzentuiere und die Binarität der Geschlechter fixiere. In diese gesellschaftsanalytische Perspektive integrieren die Herausgeberinnen das Ding; also Objekte und Artefakte, welche sowohl „die Repräsentation von Kultur“ als auch den „Zusammenhang mit dem Sozialen“ (S. 19) aufzeigen. Auf die Weise, „wie Dinge wahrgenommen werden, bergen sie die Möglichkeit eines Erkenntnisgewinns im Sinne eines dispositif“ (S. 19, Hervorh. im Original) nach Michel Foucault. Dieser Perspektivierung fühlen sich die in zwei Hauptkapitel aufgeteilten Beiträge – in disparater Weise – ebenso verpflichtet. Auf einige ausgewählte Beiträge soll im Folgenden eingegangen werden.

Von Männern erdacht

Elena Köstner eröffnet den Band mit einem Beitrag zu den Begriffen und Konzepten Patriarchat und Matriarchat in der Rezeption antiker Ideen in der Neuzeit. Die etymologische Auseinandersetzung mit dem Begriff Patriarchat zeigt die Zusammensetzung aus den altgriechischen Wörtern patér (Vater) und arché, was u. a. „Ursachen der Existenz aller Dinge“ (S. 24) bedeutet. Die staatstheoretische Definition der Herrschaftsform Patriarchat wurde jedoch erst im 17. Jahrhundert notwendig, als die unhinterfragte Norm der männlichen Hegemonie in der Antike zunehmend ambivalent wurde. Über die Einführung des Begriffs Patriarchat wurde eine ‚natürliche‘ Unterordnung der Frau mit biologistischen Argumenten gleichzeitig erklärt und legitimiert. Das Matriarchat wird hingegen als ungeordnete Etappe auf dem Weg zum geordneten und rechtmäßigen Verhältnis des Patriarchats markiert. Köstner weist darauf hin, dass beide Konzepte von Männern erdacht wurden. In ihnen schreibe sich einerseits die Binarität der Geschlechter und andererseits die Assoziation von Matriarchat mit Unordnung und Patriarchat mit Ordnung und somit dessen Überlegenheit fest.

Unterdrückung der weiblichen Stimme

Tina Hartmann wendet sich einer feministischen Kanonkritik und Strategien der Unterdrückung einer weiblichen Stimme im literarischen Schreiben von 1740 bis heute zu. Sie stellt den Zusammenhang zwischen Entstehung und Pflege eines Kanons mit einer männlich dominierten Literaturkritik einerseits und mit Schulpolitik andererseits her. In der Schule werde ein männlicher Kanon bereits vorgegeben; die weibliche oder nichtbinäre Stimme werde dadurch schon früh zur Abweichung von der Norm. Im Bezug zur Kanonpolitik stellt die Autorin fest, dass weibliche Texte nur aufgenommen werden, wenn sie nicht unmittelbar als weibliche Texte kenntlich sind, indem sie z. B. eine männliche Erzählstimme oder -perspektive priorisieren. So werden Autorinnen dazu instrumentalisiert, weibliche und nichtbinäre Stimmen im Kanon auszuschließen. Hartmann schlägt Schritte zum Umbau des Kanons vor, wie auch einen weiblichen ‚Gegenkanon‘ zu etablieren. Sie betont, dass es nicht darum gehe, eine weibliche Stimme an einem weiblichen Körper festzumachen, sondern die Binarität der Geschlechter zu hinterfragen und die patriarchal unterdrückte Stimme hörbar zu machen.

Thematisierung von Geschlecht im Schulbuch

Christina Lentz und Heike Wolter unterziehen in ihrem Beitrag „Das patriarchale Schulbuch? – Historische Inhalte in der Grundschule. Ein norwegisch-bayerischer Vergleich“ ausgewählte Grundschullehrbücher aus dem Bereich der Gesellschaftswissenschaften einer gendersensiblen, diskursanalytischen Lektüre. Sie fragen u. a. danach, „ob und inwiefern ihr (materielles) Design patriarchale Strukturen zum Ausdruck bringt respektive solche verstärkt oder gar erzeugt“ (S. 162). Unter Rückgriff auf bestehende Schulbuchstudien unterscheiden sie drei Typen von Schulbüchern und ihren Umgang mit Gender: „(1) Solche, die nach wie vor in alten Stereotypen verhaftet sind, solche die (2) Wirklichkeit abbilden und solche die (3) progressiv futuristisch eine Wirklichkeit so, wie sie prospektiv sein soll, zeigen“ (S. 187). Mit dieser Typisierung stellen sie fest, dass – im Gegensatz zu den norwegischen Materialien – kein bayerisches Grundschullehrbuch zu historischen Themen der dritten Kategorie angehört, wohl aber in die zweite Kategorie fallen kann. „Die norwegischen Schulbücher zeigen explizit, die bayerischen implizit, dass die Thematisierung von Geschlecht vor allem dann stattfindet, wenn die jüngere Zeitgeschichte im Fokus der Vermittlung liegt“ (S. 187, Hervorh. im Original).

Heteronormativität in Boy-Love-Shows

Xin Li bespricht in ihrem Beitrag „Heteropatriarchy vs. Queer Awareness” die heteropatriarchalen Aspekte von thailändischen Boy-Love-Erzählungen (BL) und deren Rezeption in chinesischen Fangemeinden. Die Reproduktion von heteronormativen und -patriarchalen Strukturen in den Diskursen um BL werden auf den Fanforen Weiblo und Bilibili untersucht. Das Genre ist bekannt für Eskapismus, Misogynie und Fortschreiben von Heteronormativität – Frauen sind beispielsweise oftmals gar nicht oder negativ dargestellt. Die Aneignung von Homosexualität innerhalb eines heteronormativen Rahmens und für ein heterosexuelles Publikum finde außerdem zum Zwecke des kommerziellen Erfolgs und nicht zum Voranbringen politischer LGBTQ-spezifischer Themen statt. Li problematisiert vor allem die essentialistische und heteronormative Darstellung von Geschlechterrollen und -kategorien innerhalb der Diskurse zu den BL-Shows in den Fanforen. Außerdem werde Gewalt und toxisches Verhalten romantisiert. Li konstatiert jedoch eine Diversifizierung des Genres über die Jahre und dass die zunehmende Sichtbarkeit durch den Erfolg des Formats es dazu zwingt, sich mit der Realität von Geschlechter- und Sexualpolitik auseinanderzusetzen.

Geschlechterbezogene Horrordarstellungen im Film

Im Zentrum des Beitrags von Veronika Rudolf, „Schreckensbilder des Patriarchats“, steht die filmische Analyse der „komplexen Verflechtungen der Konstruktionen von Gender und Monstrosität“ (S. 226). Als Beispiel fungiert ein Film aus dem Horrorgenre, Barbarian (2022). In diesem Film, so die Autorin, würden „fundamentale, patriarchale Strukturen“ (S. 241) offengelegt und eine „misogyne, aber stets patriarchale Ursache in der Darstellung des Bösen“ (S. 241) vorgeführt. Zentral ist dabei ihre Beobachtung, dass sich Barbarian (wie auch das Genre des Horrorfilms grundsätzlich) in einem Spannungsfeld befände: Einerseits gäbe es die Darstellung von abject males und die Explizierung des patriarchalen Systems als Ursache des Bösen schlechthin; andererseits würde der Film „in freudscher Manier das Monströse mit dem Weiblichen gleichsetzen, gestützt durch essentialistische Narrative patriarchaler Ängste“ (S. 241). Auch wenn der Film das Patriarchat und seine Folgen drastisch darstelle, sei er doch selbst in seinen patriarchalen Rückbezügen verhaftet.

An eine breite akademisierte Öffentlichkeit gerichtet

Insgesamt bemüht sich der Band ausdrücklich um eine breite thematische Bearbeitung geschlechtersensibler und machtkritischer Fragestellungen in intersektionaler Perspektive. Hierfür werden eine gewisse Theoriereduktion und begriffliche Heterogenität in Kauf genommen. Angesichts der Pluralität von Themen und Gegenständen hätte der Band aber davon profitiert, wenn die Beiträge durch ein gemeinsames theoretisches und analytisches Begriffsinstrumentarium eingehegt und zueinander in Beziehung gesetzt worden wären. Worin der Mehrwert des titelgebenden Begriffs für die einzelnen Beiträge und den Diskurs über Geschlechtergerechtigkeit insgesamt liegt, bleibt zuweilen offen. Zudem fehlt teilweise eine Reflexion der eurozentristischen Grundhaltung und Herleitung der Geschlechterverhältnisse des Bandes, gerade da nicht wenige behandelte Gegenstände außerhalb der Tradition der patriarchalen Antike stehen.

Das Buch, das im Rahmen des Projekts „Eine Uni – ein Buch: Das Patriarchat der Dinge“ mit dem Ziel entstanden ist, Geschlechterfragen an der Universität Bayreuth und ihrer Umgebung in den Blick zu nehmen, erhebt seine Perspektive zum Programm. Das erklärte Vorhaben der Herausgeberinnen, eine breite akademisierte Öffentlichkeit mit interdisziplinären Überlegungen zu Geschlechter(un)gerechtigkeit vertraut zu machen und auf die komplexen Wirkweisen des Patriarchats in Geschichte und Gegenwart hinzuweisen, dürfte – und sollte – somit nicht ohne Folgen bleiben.

Literatur

Cyba, Eva (2008). Patriarchat: Wandel und Aktualität. In Ruth Becker & Beate Kortendiek (Hg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie. Wiesbaden: Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-531-91972-0_1

Hartmann, Tina & Köstner, Elena (Hg.) (2024). Patrix. Patriarchale Systematik und ihre Verdinglichung, Bielefeld 2024.

Zitation: Friederike Schruhl-Hildebrand, Anne Stellberger: Patriarchat revisited. Androzentristische Dispositive in Geschichte und Gegenwart, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 20.05.2025, www.gender-blog.de/beitrag/patriarchat-revisited/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20250520

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Dr. Friederike Schruhl-Hildebrand

Friederike Schruhl-Hildebrand ist akademische Rätin a. Z. am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Bayreuth. Zuvor war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Georg-August-Universität Göttingen und der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsinteressen und Publikationen zur Literatur des 18. Jahrhunderts und der Gegenwart, Wissenschaftsgeschichte (Schwerpunkt: Digital Humanities), Praxeologie der Literaturwissenschaft, Geschichte des Lesens.

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Anne Stellberger

Anne Stellberger ist Doktorandin am Lehrstuhl für Nordamerikastudien an der Universität Bayreuth. Zuvor hat sie am Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Bayreuth gelehrt. Ihre Forschungsinteressen umfassen Postkolonialismus, Geschlechter- und Sexualitätsforschung, Intersektionalität und Literaturtheorie. In ihrem Projekt untersucht sie post-pandemische US-amerikanische Literatur aus einer queer-theoretischen Perspektive.

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