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Forschung

Was Kinderzeichnungen über wissenschaftliche Rollenbilder verraten

10. Juni 2025 Lara Altenstädter

Wie stellen sich Grundschulkinder eigentlich Forschende vor? Tragen sie weiße Kittel, experimentieren mit bunten Flüssigkeiten oder arbeiten sie unter freiem Himmel? Kollektiv geteilte Vorstellungen, u. a. medial vermittelt, prägen unsere gesellschaftlichen Bilder von Wissenschaft, werden aber individuell verarbeitet und neu interpretiert. Für meine derzeitige Forschungsarbeit habe ich Grundschulkinder, deren Mütter selbst in der Wissenschaft tätig sind, gebeten: „Bitte zeichne eine forschende Person.“

Zwischen Stereotyp und kindlicher Imagination

Die Frage, wie Kinder sich Wissenschaft und Wissenschaftler*innen vorstellen, beschäftigt die Forschung bereits seit Jahrzehnten. Der klassische Draw-A-Scientist Test (DAST) hat seit den 1980er-Jahren regelmäßig gezeigt, dass Kinder häufig stereotype Bilder zeichnen: ältere Männer mit weißen Kitteln, Brillen und wirrem Haar, die in Laboren experimentieren.

Dies hängt auch mit den medial vermittelten Bildern von Wissenschaft und Forschenden zusammen. Das Global Media Monitoring Project (2015) zeigt, dass Frauen signifikant seltener als Expertinnen dargestellt oder interviewt werden als Männer. Auch die Studie von Prommer und Linke (2015) zeigt, dass Medien oft Geschlechterstereotype (re)produzieren, indem Frauen sexualisiert dargestellt oder in Interviews vorrangig zu ihrem Privatleben statt zu ihrer Fachexpertise befragt werden. Diese gesellschaftlich weit verbreiteten Stereotype prägen unsere Vorstellungen, auch die von Kindern.

In meinen eigenen Daten deutet sich dabei an, dass diese stereotypen Vorstellungen deutlich aufgebrochen werden, wenn Kinder im eigenen, direkten familiären Umfeld Wissenschaftlerinnen erleben.

Das soziale Imaginäre und die Bedeutung von Role Models

Kinderzeichnungen sind nicht nur individuelle Schöpfungen, sondern auch Ausdruck kollektiver gesellschaftlicher Vorstellungen. Die kindliche Imagination von Wissenschaft und Forschung kann im Sinne von Castoriadis (1984, 2010) und Taylor (2002, 2004) als Phänomen des sozialen Imaginären verstanden werden. Das Konzept des sozialen Imaginären beschreibt jenes atheoretische Wissen, das wir alle über gesellschaftliche Zusammenhänge besitzen, ohne es direkt benennen zu können. Es dokumentiert sich besonders in Bildern, Geschichten und symbolischen Darstellungen – so auch in Kinderzeichnungen. Diese spiegeln einerseits gesellschaftlich verankerte Vorstellungen von Wissenschaft wider, zeigen aber gleichzeitig die kreative kindliche Imagination, die bestehende Vorstellungen weiterentwickeln kann.

Die Bedeutung dieser theoretischen Perspektive kommt beim Blick auf die spezifische Situation der untersuchten Kinder zum Tragen: Anders als die meisten ihrer Altersgruppe erleben sie Wissenschaft nicht nur über Medien oder Schulbücher, sondern haben mit ihren Müttern direkte Vorbilder im wissenschaftlichen Bereich. Es stellt sich die Frage, ob und wie diese unmittelbare Erfahrung ihren Vorstellungshorizont erweitert und welchen Einfluss dies auf die Entwicklung differenzierterer Forschungsbilder haben könnte.

Methodische Einblicke

Elf Grundschulkinder im Alter von sechs bis elf Jahren, vier Jungen und sieben Mädchen, erhielten den offenen Impuls: „Zeichne eine forschende Person.“ Sechs der elf Zeichnungen zeigen dabei weibliche Forschende, einige Kinder zeichneten explizit ihre eigenen Mütter. „Mama, dann male ich dich“ oder „Mama, das bist dann du“ äußerten zwei der Kinder während des Zeichnens. Wenn sie nach einer Präzisierung der Aufgabenstellung fragten, wurden sie mit dem Satz „Male einfach, was dir einfällt, wenn du an eine forschende Person denkst“ ermutigt. Um authentische Einblicke in die kindliche Vorstellungswelt zu gewinnen, wurden die Zeichnungen in den Kindern vertrauter häuslicher Umgebung erstellt.

Die Zeichnungen wurden mit der Dokumentarischen Methode (Bohnsack & Krüger 2004) ausgewertet. Bei der Interpretation wurden die Aussagen der Kinder ergänzend zu ihren eigenen Zeichnungen berücksichtigt. Diese Selbstdeutungen sind entscheidend für das Verständnis von Kinderzeichnungen, da Kinder oft für sie bedeutsame Details durch Beschriftungen hervorheben oder mündlich erläutern (Blank-Mathieu 2022).

Die Untersuchung weist methodische Limitationen auf. So konnte der mögliche Elterneinfluss im häuslichen Umfeld nicht kontrolliert werden, und unterschiedliches Zeichenmaterial könnte die Darstellungsweisen beeinflusst haben. Zukünftige Studien sollten zudem explizit auch die Rolle forschender Väter einbeziehen, um die Breite elterlicher Forschungsvorbilder umfassender abzubilden

Von Laborexperimenten bis zu Ausgrabungen in der Wüste

Die Zeichnungen spiegeln in der Summe ein differenziertes Verständnis von Forschung wider, das über klassische Laborvorstellungen hinausgeht. Gleichzeitig finden sich aber auch typische Symbole wissenschaftlicher Arbeit: Lupen, Reagenzgläser, Schutzkleidung und Atome tauchen in mehreren Zeichnungen auf und verweisen auf kulturell vermittelte Vorstellungen von Wissenschaft. Auffällig ist: Obwohl mehrere Mütter in den Geistes- und Sozialwissenschaften tätig waren, zeigten die Kinderzeichnungen hauptsächlich naturwissenschaftliche Forschungsszenarien. Dies deutet darauf hin, dass das gesellschaftliche Imaginativ „Forschung“ nach wie vor stark von naturwissenschaftlichen Bildern geprägt ist, die in Medien, Büchern und im Schulunterricht dominieren.

Während einige Kinder klassische Laborszenen mit Reagenzgläsern zeichneten, in denen „Frauen Farben in andere Farben schütten und schauen, was passiert“, zeigen andere Bilder archäologische Ausgrabungen, Feldforschung „im Dschungel“ oder einen „Vulkanprofessor“, der „Lava misst“. Die dargestellten Forschungsszenarien sind vielfältig.

Die Archäologin in der Wüste

Eine neunjährige Teilnehmerin der Studie, hier „Lea“ genannt, zeichnete eine kniende Frau mit rotem Pullover und blauer Hose, die in einer kargen Umgebung nach Knochen gräbt. Die Zeichnung zeigt die Forscherin mit einem Werkzeug in der Hand, lächelnd und konzentriert bei der Arbeit.

Abbildung: Zeichnung von Lea (Aliasname), 9 Jahre alt.

[Barrierefreiheit/Beschreibung der Zeichnung: Eine Frauenfigur kniet am Boden und untersucht mit einem Werkzeug „Knochen“ in der „Wüste“]

Das Bild vermittelt ein starkes Gefühl von Handlungsfähigkeit (Agency) und stellt Forschung als aktive Tätigkeit dar. Besonders aufschlussreich: Lea hat großen Wert darauf gelegt, dass ihre Darstellung richtig verstanden wird – sie beschriftete wichtige Elemente wie „Knochen“ und „Wüste“ und erklärte: „Das ist eine Archäologin in der Wüste in Afrika“. Diese bewusste Beschriftung und Erklärung zeigt das, was Castoriadis (2010) als Ausdruck des individuellen Vermögens zur Vorstellung beschreibt: Das Kind erkennt gesellschaftlich etablierte Verweisungszusammenhänge – hier die Werkzeuge als Symbole wissenschaftlicher Arbeit – und reproduziert sie in einer eigenen kreativen Form. Die Darstellung geht dabei über bloßes Kopieren hinaus und reflektiert, was Neuß (2006: 252) als „wirklichkeitsdarstellende, wirklichkeitskommentierende und wirklichkeitsverändernde Funktionen“ von Kinderzeichnungen versteht.

Vielfalt in der Wissenschaft sichtbar machen

Wenn wir Kindern vielfältige und realistische Bilder von Wissenschaft und Forschenden vermitteln wollen, müssen wir verstärkt darauf achten, Wissenschaftlerinnen in unserer Gesellschaft sichtbarer zu machen, Kinder mit Forschung und Forscher*innen zusammenzubringen und Wissenschaft erlebbar zu machen, sowie stereotype Darstellungen in den Medien vermeiden. Solche Bemühungen würden nicht nur zum Abbau von Stereotypen beitragen, sondern Kindern auch Zukunftsperspektiven visualisieren, in denen sie sich selbst als mögliche Forschende sehen können. Dies ist besonders relevant, da die meisten Kinder eben keine Eltern haben, die in der Forschung tätig sind. Nur etwa zwei Prozent der deutschen Bevölkerung kennen persönlich eine forschende Person (Wissenschaftsbarometer 2018). Die medialen Bilder werden daher umso wichtiger – und gerade hier besteht Handlungsbedarf, wie das Global Media Monitoring Project (2015) und Prommer und Linke (2015) gezeigt haben. Erfreulicherweise gibt es inzwischen Initiativen wie die BMBF-Förderlinie „Innovative Frauen im Fokus“, die gezielt an dieser Thematik arbeiten und wichtige Impulse für mehr Sichtbarkeit und Diversität in der Wissenschaft setzen.

Literatur

Bohnsack, Ralf & Krüger, Heinz-Hermann (2004). Methoden der Bildinterpretation – Einführung in den Themenschwerpunkt. Budrich Journals, 5(1), 3–6. Zugriff am 12.05.2025 unter https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-270048.

Blank-Mathieu, Margarete (2022). Was eine Kinderzeichnung verrät. Das Kita Handbuch. Fachartikel. Zugriff am 12.05.2025 unter https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/bildungsbereiche-erziehungsfelder/kunst-aesthetische-bildung-bildnerisches-gestalten-basteln/was-eine-kinderzeichnung-verraet/.

Castoriadis, Cornelius (1984). Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie. Suhrkamp.

Castoriadis, Cornelius (2010). Das Imaginäre: die Schöpfung im gesellschaftlichgeschichtlichen Bereich. In C. Castoriadis: Das imaginäre Element und die menschliche Schöpfung. Ausgewählte Schriften Bd. 3 (S. 25–45). Verlag Edition AV.

GMMP Global Media Monitoring Project (2015). Regional Report. Zugriff am 12.05.2025 unter https://whomakesthenews.org/wp-content/uploads/who-makes-the-news/Imported/reports_2015/regional/Europe.pdf.

Neuß, Norbert (2006). Kinderzeichnungen verstehen. Strukturmomente im internationalen Vergleich. In: M. Götz (Hrsg.), Mit Pokémon in Harry Potters Welt. Medien in den Fantasien von Kindern (S. 55–70). kopaed.

Prommer, Elizabeth & Linke, Christine (2017). Audiovisuelle Diversität? Geschlechterdarstellungen in Film und Fernsehen in Deutschland. MaLisa Stiftung. Zugriff am 12.05.2025 unter https://malisastiftung.org/wp-content/uploads/Broschuere_din_a4_audiovisuelle_Diversitaet_v06072017_V3.pdf.

Taylor, Charles (2002). Modern social imaginaries. Public Culture 14(1), 91–124. https://doi.org/10.1215/08992363-14-1-91

Taylor, Charles (2004). Modern social imaginaries. Duke University Press. https://doi.org/10.1215/9780822385806

Wissenschaftsbarometer (2018). Ergebnisse nach Subgruppen. Zugriff am 12.05.2025 unter https://www.wissenschaft-im-dialog.de/fileadmin/user_upload/Projekte/Wissenschaftsbarometer/Dokumente_18/Downloads_allgemein/Tabellenband_Wissenschaftsbarometer2018_final.pdf.

Zitation: Lara Altenstädter: Was Kinderzeichnungen über wissenschaftliche Rollenbilder verraten, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 10.06.2025, www.gender-blog.de/beitrag/picture-scientist/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20250610

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Dr. Lara Altenstädter

Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für Interdisziplinäre Sozialpolitikforschung an der Universität Duisburg-Essen; Leitung des Schwerpunktbereichs „Transfer“.

Forschungsschwerpunkte: Hochschul- und Geschlechterforschung sowie Forschung im Themenspektrum von Sozialpolitik.

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