26. September 2023 Inken Lind
Bislang gibt es kaum Studien zur Situation des wissenschaftlichen Personals an den Hochschulen für Angewandte Wissenschaften, die Belastungserleben und Konsequenzen während der Coronapandemie erheben. Der Beitrag gibt Einblick in Ergebnisse einer Vollerhebung am wissenschaftlichen Personal der TH Köln, die im November 2021 durchgeführt wurde. Es beteiligten sich 493 Wissenschaftler*innen aller Statusgruppen (davon 56 % WMAs und 31 % Professor*innen), dies entspricht 30 % der Grundgesamtheit. Die Geschlechter (binär) waren fast gleich verteilt, der Altersdurchschnitt lag bei 42 Jahren. Knapp die Hälfte der Befragten trug zum Befragungszeitpunkt Sorgeverantwortung.
Online-Lehre: Belastung, aber auch Vorteile
Die Umstellung auf die Online-Lehre war insbesondere in der Umstellungsphase für fast alle Befragten eine Belastung, dies zeigte sich auch in anderen Studien (vgl. z. B. Campbell et al. 2023; Klonschinski et al. 2020; für den Mittelbau vgl. Kortendiek et al. 2022, S. 336ff.). Diese Umstellung wurde im zeitlichen Verlauf jedoch unterschiedlich erlebt: Das wissenschaftliche Personal der TH Köln sieht neben den Belastungen auch Vorteile durch das Homeoffice, insbesondere bei der Entlastung von Wegzeiten und bei der Vereinbarkeit mit Sorgeaufgaben. Andere vermissten die Strukturen des Hochschulalltags und fühlten sich im Homeoffice isoliert und einsam.
Abb. 1: Was war aus Ihrer Sicht die größte Belastung durch die Corona Pandemie in Bezug auf Ihre berufliche Situation? (n=493)
Wissenschaftliche Produktivität abhängig von disziplinärer Verortung
Eine Teilgruppe von 44 % der Befragten gab an, dass sich die Publikationsmöglichkeiten durch das Homeoffice und die neuen Formen der digitalen Zusammenarbeit verbessert haben und sie deutlich produktiver gewesen seien. Dass die Pandemie sich insgesamt ungünstig auf die Laufbahnentwicklung und Produktivität ausgewirkt hat, wie häufig diskutiert (z. B. Sohrabi et al. 2021; King & Fredrickson 2021), stimmt für diese Stichprobe insgesamt nicht. Jedoch sind hier deutliche Unterschiede zu verzeichnen: In manchen Arbeitsfeldern wirkte sich die Pandemie durchaus erschwerend auf Forschungsvorhaben und Kooperationen aus, in anderen weniger oder gar nicht, was vermutlich auf die unterschiedlichen Möglichkeiten von virtuellen Arbeitsformen zurückzuführen ist.
Sorgeverantwortung während der Pandemie
Als größte Belastung während der Pandemie wurde die Gleichzeitigkeit von Sorgeverantwortung und beruflichen Verpflichtungen angegeben, dazu kam noch die Sorge um die Angehörigen in dieser Zeit. Dies zeigte sich ebenfalls in einer inzwischen großen Anzahl an Studien, v. a. an Müttern (vgl. z. B. Myers et al. 2021; Wiesböck & Köpping 2023; Kloschinski et al. 2020; Müller 2022; Gottburgsen et al. 2021). Konsistent zu anderen Umfragen (Kloschinski et al. 2020) erlebte auch das Wissenschaftliche Personal der TH Köln höhere Anforderungen in allen Lebensbereichen.
Abb. 2: Was war aus Ihrer Sicht die größte Belastung durch die Corona Pandemie in Bezug auf Ihre Care Situation? (n=220)
In Bezug auf Care-Arbeit wurden Retraditionalisierungsprozesse von 33 % der befragten Eltern angegeben (vgl. dazu auch Weber 2023; Wiesbock & Köpping 2023). Insgesamt hat sich gezeigt, dass es nicht nur die vor Ort geleisteten Stunden der Care-Arbeit sind, die als Belastung wirken, sondern wesentlich der Mental Load, der – unabhängig von den tatsächlich geleisteten wöchentlichen Care-Arbeitsstunden – mit dem psychischen Wohlbefinden zusammenhängt. Dies gilt für Mütter und Väter gleichermaßen in dieser Stichprobe (vgl. dazu Haupt & Gelbgiser 2022), jedoch geben die Wissenschaftlerinnen mit Kindern häufiger einen hohen Mental Load an, unabhängig von dem jeweiligen Sorgearrangement zwischen den Eltern.
Abb. 3: Unabhängig von den konkreten Tätigkeiten, wie stark beschäftigt Sie die Sorge für das Kind/die Kinder mental (mental load) in Ihrem Alltag? (p < 0,050**) n=235
Psychisches Wohlbefinden und Erschöpfung
Bisher wurde das gesundheitliche Befinden des wissenschaftlichen Personals während der Pandemie selten thematisiert, jedoch vereinzelt auf die besondere psychische Belastung des Mittelbaus während der Pandemie hingewiesen (Burian et al. 2022). In der hier vorgestellten Studie kam die WHO-5 Skala zum psychischen Wohlbefinden zum Einsatz (Topp et al. 2015; vgl. auch zu Gesamtbevölkerung Kuehner et al. 2020). Dabei zeigte sich im Gesamtdurchschnitt ein nur verhalten gutes psychisches Wohlbefinden mit einem Durchschnitt von 11,2 (Rohwerte WHO-5 Skala). In Teilgruppen der Studie liegt dieses noch deutlich darunter, insbesondere bei befristetet beschäftigtem Personal (vgl. dazu Kita et al. 2022). Eine deutliche Erschöpfung durch die Pandemie erlebten noch im November 2021 ein Drittel (33 %) der Befragten Wissenschaftler*innen, auch dies zeigte sich in anderen Erhebungen (vgl. Burian et al. 2022). Fast die Hälfte (45 %) der Befragten gaben ein im Vergleich zu vor der Pandemie deutlich schlechteres Gesundheitsverhalten an. Über die Hälfte (58 %) aller befragten Wissenschaftler*innen fühlte sich durch die wissenschaftliche Tätigkeit während der Pandemie belastet und immerhin über ein Drittel (35 %) deutlich bis sehr stark. Das subjektive Belastungserleben hat sich wiederum als in Zusammenhang stehend mit dem psychischen Wohlbefinden (WHO-5) erwiesen.
Konsequenzen für die wissenschaftliche Laufbahn
Die Konsequenzen für die wissenschaftliche Laufbahn lassen sich erst längerfristig abschätzen (vgl. Gao et al. 2021). Bei den in dieser Stichprobe befragten Wissenschaftler*innen zeigten die Pandemiemaßnahmen relativ wenig Auswirkungen auf die Publikationstätigkeit. Negative Effekte auf die Publikationszahl nennen vor allem Personen mit relativ hohem zeitlichem Investment in Care-Verantwortung. Hier kumulieren sich für das hauptverantwortliche Elternteil bzw. für pflegende/sorgende Angehörige zusätzliche Nachteile für die wissenschaftliche Laufbahn (vgl. Lerchenmüller et al. 2021), dies sind – nach wie vor – überwiegend Wissenschaftlerinnen (vgl. Gao et al. 2021; Gleirscher et al. 2022; Weber 2023). In der Konsequenz kumulieren sich Nachteile v. a. für Wissenschaftlerinnen mit Kindern (European Commission 2023).
Abb. 4: Welche Auswirkungen hatten die Pandemie-Maßnahmen auf Ihre Publikationstätigkeit? (Likert Skala 1-6); N = 460, MW= 2,7
Wissenschaftler*innen der Stichprobe, die sich in einer Qualifikationsphase befanden, schätzten durchschnittlich mit einem MW von 2,4 auf der 6 stufigen Likert-Skala (1=sehr stark verzögert … 6=erheblich beschleunigt) die Verzögerung des Qualifikationsvorhabens aufgrund der Pandemiemaßnahmen als leicht ein.
Hoher Anteil unbezahlter Mehrarbeit
Eine Mehrheit (60 %) des befragten wissenschaftlichen Personals arbeitet i. a. R. deutlich mehr als im Arbeitsvertrag angegeben, Wissenschaftler noch einmal häufiger als Wissenschaftlerinnen. Rund die Hälfte der Befragten fühlten sich durch berufliche Anforderungen belastet (davon 33 % deutlich und sehr stark). Personen mit hohem Belastungserleben haben im Vergleich zu den anderen Gruppen ein geringeres psychisches Wohlbefinden (WHO-5 Skala). Die Anzahl der Arbeitsstunden pro Woche korreliert jedoch kaum mit dem Belastungserleben. Vielmehr ist es eine Kumulation von unterschiedlichen Belastungsfaktoren, zu denen auch überlange Arbeitszeiten gehören können, die im Ergebnis zu hohem beruflichen Belastungserleben führen.
Einschätzung beruflicher Perspektiven abhängig von Mutterschaft
In der Gesamtstichprobe finden sich keine signifikanten Unterschiede zwischen Frauen und Männern in Bezug auf die Einschätzung der beruflichen Perspektiven.
Abb. 5: Einschätzung der beruflichen Perspektive auf Likert-Skala von 1–6. N=474
Betrachtet nach Statusgruppen und Sorgeverantwortung zeigt sich jedoch nach wie vor (vgl. Lind 2012): Frauen mit Care-Verantwortung unterhalb der Professur blicken auch in dieser Erhebung signifikant weniger optimistisch auf ihre berufliche Perspektive als Männer mit und ohne Kinder in der gleichen Statusgruppe (vgl. Kortendiek et al. 2022). Die berufliche Perspektive wiederum hängt mit dem gesundheitlichen Wohlbefinden und der allgemeinen Lebenszufriedenheit zusammen, sodass wiederum die Mütter der Stichprobe unterhalb der Professur hier von den negativen Effekten in besonderer Weise betroffen sind.
Fazit
Es wurde deutlich, dass das Belastungserleben und die Konsequenzen der Coronapandemie für das wissenschaftliche Personal von Sorgeverantwortung, Statusgruppe, aber auch von der disziplinären Verortung abhängig waren. Diese Effekte werden teilweise durch Geschlecht moderiert. Von besonderer Bedeutung für das psychische Wohlbefinden erwies sich das berufliche Belastungserleben und der mit Care-Verantwortung verbundene Mental Load. In der Gesamtbetrachtung der Stichprobe ergibt sich für die Zeit der Pandemie eine Parallelität hoher Belastung und relativ unverändert hoher Produktivität. Dies blieb jedoch möglicherweise nicht ohne Preis, wie die Werte zum psychischen Wohlbefinden (WHO-5 Skala) zum Befragungszeitpunkt nahelegen.
Literatur
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Campbell, D. F. J., Pausits, A. & Reisky, F. (2023). Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft in Zeiten der COVID-19-Pandemie: Eine quantitative Untersuchung der Sichtweisen des wissenschaftlichen und künstlerischen Personals an Hochschulen in Österreich. In A. Pausits, M. Fellner, E. Gornik, K. Ledermüller & B. Thaler (Hrsg.), Studienreihe Hochschulforschung Österreich. Uncertainty in Higher Education: Hochschulen in einer von Volatilität geprägten Welt (S. 131–148). Waxmann. https://irihs.ihs.ac.at/id/eprint/6565/1/pausits-fellner-thaler-et-al-2023-uncertainty-in-higher-education.pdf
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Zitation: Inken Lind: Produktivität bei hoher Belastung: Wissenschaftler*innen während der Coronapandemie, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 26.09.2023, www.gender-blog.de/beitrag/produktivitaet-wissenschaftler-innen-coronapandemie/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20230926
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