09. Juni 2020 Sandra Beaufaÿs
Die französischen Kolleg_innen haben es vorgemacht – nach Pierre Bourdieus Soziologischem Selbstversuch (2002) und Didier Eribons Rückkehr nach Reims (2016) wird erzählbar, was bislang lieber schamhaft verschwiegen oder als unerheblich für den Weg zur Universität abgetan wurde: eine bildungsferne soziale Herkunft. Stimmen von Frauen, mit Ausnahme von Annie Ernaux (z. B. Die Jahre (2019), Erinnerungen eines Mädchens (2020)), kommen im Diskurs jedoch kaum vor. Das Buch Vom Arbeiterkind zur Professur von Julia Reuter, Christina Möller, Markus Gamper und Frerk Blome fügt authentische Sichtweisen aus der bundesdeutschen Bildungslandschaft hinzu und lässt verhältnismäßig viele Professorinnen zu Wort kommen, darunter solche, die für die deutschsprachige Geschlechterforschung prägend waren und sind.
(Selbst-)Analysen und sozialwissenschaftliche Einordnungen
Der Aufbau des Buchs bietet eine soziologische Rahmung und eine soziobiografische Kommentierung. Das Herzstück bilden die Erzählungen der Professor_innen, die für sich genommen sowohl Selbstanalysen als auch teilweise Milieustudien sind. Die Professor_innen (sieben Frauen*, zwölf Männer*) bilden ein Sample, das hinsichtlich der Fachdisziplinen und Berufungszeiträume variiert, und es wurden Personen aus Fachhochschule und Universität ausgewählt. Doch letztlich bleibt die Gruppe eine „durch persönliche Bekanntschaften […] oder durch Empfehlungen Dritter“ (Reuter et al. 2020: 43) gewonnene, zufallsgenerierte Zusammenstellung. Dies macht ihre Geschichten nicht weniger wertvoll und die kundigen Rahmungen von u. a. Christoph Butterwegge, Aladin El-Malaafani, Michael Hartmann und Andrea Lange-Vester nicht weniger aufschlussreich.
„Als könnte es widerrufen werden …“
Was alle Professor_innen teilen, ist das Gefühl der unsicheren Positionierung als eine typische Folge sozialer Mobilität: Die „Distanz […] zu beiden sozialen Sphären“ (Klaus-Michael Bogdal, S. 142), sowohl zur erreichten gesellschaftlichen Situierung als auch zum Herkunftsmilieu, wird in den autobiografischen Skizzen auf verschiedene Weise formuliert. Auch widersprüchliche Anrufungen, die ihnen insbesondere aus der eigenen Herkunftsfamilie entgegenschlagen (z. B. „mach was aus dir, aber bleib der Alte“ (Jürgen Prott)), oder die „Erwartung, Großartiges zu leisten, (fast) ohne etwas dafür zu tun“ (Christiane M. Graebsch, S. 199), werden von vielen als spürbare, aber unsichtbare Erschwernis wahrgenommen. Das Gewicht des Gedankens, „hier gehöre ich nicht hin“ (Manfred Brill, S. 144), der sich auf beide Sphären bezieht, lastet auf jedem Schritt und wirkt weiter. Sabine Hark legt ihre Skizze in der dritten Person an, wodurch die zurückgelegte soziale Distanz auch sprachlich sichtbar gemacht wird. Über sich selbst im universitären Kontext schreibt Hark: „Als müsste sie ihr Aufenthaltsrecht wieder und wieder unter Beweis stellen. Als könnte es widerrufen werden“ (Sabine Hark, S. 218).
Zwei (bis drei) Klötze am Bein der Athene
Bei Frauen wirkt sowohl die Herkunftsfamilie als auch die Universität als doppelte, geschlechtsbedingte Bremse: Zu Hause wird von ihnen erwartet, dass sie sich um die Familie kümmern, in der Universität wird ihnen kein selbstverständlicher Platz eingeräumt. Herkunft und Geschlecht wirken somit zusammen und keineswegs fördernd. So fragt sich Doris Lemmermöhle Anfang der 1960er-Jahre als junge Frau: „Wer eigentlich war ich? […] Was durfte ich wollen? War ich nicht in erster Linie meinen älter werdenden Eltern und meinen jüngeren Geschwistern verpflichtet?“ (S. 248). Elke Kleinau sieht sich in der Zwickmühle, sowohl die „Beschützerin“ ihrer gehandicapten Schwester als auch die „Hoffnungsträgerin der Familie“ (S. 225) darzustellen, und auch Rosa Maria Puca wird von ihrer Mutter selbstverständlich als vollverantwortliche Miterzieherin des kleinen Bruders eingesetzt. Wer zudem, wie Puca, mit einem Migrationshintergrund und einem prekären Elternhaus („intelligent und ungebildet“) sowie einem wenig förderlichen sozialen Umfeld („asozial und kriminell“) in der Welt zurechtkommen muss (Rosa Maria Puca, S. 306), hat gelernt, was Benachteiligung in deutschen Bildungsinstitutionen bedeutet. Doch abgesehen von einem solchen Extremfall scheint, wie auch Andrea Lange-Vester kommentiert, die Frauen etwas „klassen- bzw. milieuübergreifend“ zu verbinden und das ist „die Neigung zum Gefühl, nicht vollwertig, kompetent und ernst zu nehmen“ (S. 407) zu sein.
Institutionelle, finanzielle und personelle Ressourcen
Verschiedene institutionelle, finanzielle und personelle Ressourcen unterstützen hingegen den individuellen Bildungsaufstieg, unabhängig vom Geschlecht. Die Idee eines Aufstiegs durch eigene Kraft und Leistung wird von den wenigsten Autobiograf_innen vertreten. Bei allen wird deutlich, dass der konzeptionelle Zuschnitt einer Bildungseinrichtung sowie sorgsam gewählte Bildungsinhalte (z. B. bei Reinhard Damm: „unvergessen […] der biografische Klassiker Anton Reiser“ (S. 171)) wichtig waren. Auch die Möglichkeit politischer Arbeit im Kontext von Bildungsinstitutionen, nicht zuletzt „frauenbewegte Gruppen […], die durch ausgesprochen flache Hierarchien gekennzeichnet“ (Elke Kleinau, S. 229) waren, konnten dazu beitragen, die häufig gar nicht so Aufstiegsorientierten am Ball zu halten. In vielen Erzählungen werden staatliche Finanzierungshilfen wie (Schüler-)BAföG und Fahrtkostenerstattungen oder monetäre Erleichterungen wie die Abschaffung des Schulgelds für weiterführende Schulen hervorgehoben. Teilweise ermöglichten diese Hilfen überhaupt erst, höhere Bildung als Weg zu erwägen. Fast alle Professor_innen berichten zudem von Significant Others in der Familie, der Schule, im Freund_innenkreis oder an der Universität, die unterstützten, Entscheidungen anstießen oder legitimierten, die an die Person glaubten, Selbstsicherheit vermittelten oder Freiräume verschafften.
Die letzten ihrer Art?
Seit einigen Jahren liegen Zahlen vor (Möller 2015; Keil 2018), die zeigen, dass es nur wenige Kolleg_innen mit ähnlicher Biografie gibt. Es könnten vorerst die letzten ihrer Art sein, denn die Zeit der Bildungsexpansion, der „Opportunitätsstrukturen“ (Zoe Clark, S. 154) und der krummen Wege ist vorbei, wie auch einige der Professor_innen und die soziologischen Rahmenautor_innen feststellen. Die meisten Autobiograf_innen sind zwischen 1941 und 1960 geboren. Die soziale Herkunft von Juniorprofessorinnen gibt aktuell einen Hinweis darauf, dass das Feld sich bereits geschlossen hat, denn hier überwiegt die Zahl derjenigen, die aus akademisch gebildeten Familien stammen (Burkhardt/Nickel 2015). Es wäre den Hochschulen eine größere Pluralität zu wünschen.
Literatur
Burkhardt, Anke & Nickel, Sigrun (Hrsg.). (2015). Die Juniorprofessur: neue und alte Qualifizierungswege im Vergleich. Baden-Baden: Nomos, Edition Sigma.
Bourdieu, Pierre (2002). Ein soziologischer Selbstversuch. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Eribon, Didier (2016). Rückkehr nach Reims. Berlin: Suhrkamp.
Ernaux, Annie (2019). Die Jahre. Berlin: Suhrkamp.
Ernaux, Annie (2020). Erinnerungen eines Mädchens. Berlin: Suhrkamp.
Keil, Maria (2018). Zur Reproduktion sozialer Ungleichheit im Feld der Wissenschaft. Berliner Journal für Soziologie 28(3-4), 457–478. https://doi.org/10.1007/s11609-019-00379-1
Möller, Christina (2015). Herkunft zählt (fast) immer: soziale Ungleichheiten unter Universitätsprofessorinnen und -professoren. Weinheim, Basel: Beltz Juventa.
Reuter, Julia; Gamper, Markus; Möller, Christina & Blome, Frerk (Hrsg.). (2020). Vom Arbeiterkind zur Professur. Sozialer Aufstieg in der Wissenschaft. Autobiographische Notizen und soziobiographische Analysen. Bielefeld: transcript. https://doi.org/10.14361/9783839447789
Zitation: Sandra Beaufaÿs: Aufenthaltsrecht auf Zeit. Was Professor_innen über ihren Bildungsaufstieg erzählen, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 09.06.2020, www.gender-blog.de/beitrag/professor_innen-und-bildungsaufstieg/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20200609
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