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Debatte

Gender und Pädagogik – queer und trans* am Lernort Schule

03. September 2024 Freddy Schmies

Die zunehmende Erlassung von Genderverboten seitens der Bildungsministerien der Länder deutet darauf hin, dass das Thema Gender im Kontext Schule aktuell einen wachsenden Stellenwert einnimmt. Auch die steigende Zahl der wissenschaftlichen Publikationen zu queeren und trans* Themen aus erziehungswissenschaftlichen und pädagogischen Perspektiven belegt diesen Trend. Empirische Erhebungen zum Thema sind zwar aktuell immer noch rar, doch geben vorhandene Studien immerhin einen begrenzten Einblick in die Realität an Schulen und zeigen eine teils erhebliche Belastung von queeren und trans* Lernenden im Schulkontext – eine Tatsache, die durch die sprachliche Unsichtbarmachung von geschlechtlicher Diversität perspektivisch verschlechtert wird.

Schulerfahrungen von LGBTIQ+

Eine durch das Gay Lesbian Straight Education Network (GLSEN) herausgegebene Großstudie zu den Schulerfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen und trans* Schüler*innen in den USA beschreibt die Verteilung und die Folgen von Diskriminierungserfahrungen im Schulalltag (Kosciw/Clark/Menard 2022). Die Ergebnisse der in 50 Bundesstaaten der USA durchgeführten Untersuchung zu den Erfahrungen von Jugendlichen an weiterführenden Schulen lassen sich nicht ohne weiteres auf Deutschland übertragen, liefern aber doch wichtige Anhaltspunkte in Bezug auf Anlässe und Auswirkungen von Differenz- und Ausgrenzungserfahrungen. Befragt wurden 2021 in einer Online-Studie insgesamt 22.298 Schüler*innen zwischen 13 und 21 Jahren. Die Teilnehmer*innen wurden über die GLSEN-Website sowie durch gezielte Ansprache über Social Media gewonnen. Darüber hinaus wurden Influencer*innen sowie lokale Organisationen gebeten, die Studie in der Zielgruppe queerer Jugendlicher zu verbreiten.

Ein erheblicher Anteil der Befragten gab an, sich aufgrund der eigenen sexuellen Orientierung (50,6 %,), Genderperformance (43,2 %) und/oder Geschlechtsidentität (40,3 %) nicht sicher in der Schule zu fühlen (Kosciw/Clark/Menard 2022: 5). 31,2 % der befragten Schüler*innen hatten ihren Angaben zufolge bereits körperliche Angriffe aufgrund ihrer sexuellen Orientierung, Genderperformance oder Geschlechtsidentität im Schulkontext erlebt. 76,1% der Schüler*innen benannten zudem verbale Schikanierung aufgrund der genannten Punkte (Kosciw/Clark/Menard 2022: 7).

Auch Lehrkräfte tragen zu Diskriminierung bei

61,5 % der Jugendlichen hatten Übergriffe nicht gemeldet, 60,3 % derjenigen, die die Übergriffe gemeldet hatten, gaben an, dass Pädagog*innen und Lehrpersonal nichts unternommen oder den Betroffenen geraten hätten, die Übergriffe „zu ignorieren“ (Kosciw/Clark/Menard 2022: 8). Deutlich mehr als die Hälfte der Befragten bestätigte, homophobe Bemerkungen (58,0 %) und negative Kommentierungen der Genderperformance (72 %) durch pädagogische Fachkräfte gehört zu haben. 29,2 % der Schüler*innen durften nicht ihren gewählten Namen und Pronomen in der Schule verwenden. Ein Viertel der Schüler*innen mied Toiletten, Umkleideräume und Sportunterricht, weil sie sich dort unwohl fühlen. 27,2% der in der Untersuchung befragten trans* Jugendlichen gab überdies an, dass sie auch angehalten wurden, Toiletten zu besuchen, die ihrem zugewiesenen (also fremdbestimmten) Geschlecht entsprechen.

Wie die aktuelle Anti-LGBTQIA-Gesetzgebung in verschiedenen US-amerikanischen Bundesstaaten die empirische Situation der von GLSEN abgefragten Parameter beeinflussen wird, werden Folgestudien zeigen, aktuell ist die Lage aber als sehr schwierig sowie sehr abträglich für die mentale und physische Gesundheit von trans* und queeren Jugendlichen zu bewerten, wie zuletzt der tragische Fall von Nex Benedict zeigte.

Aushandlungen auf cis-heteronormativer Grundlage

Es ist ersichtlich, dass wahrgenommene Abweichungen von Cisgeschlechtlichkeit und Heteronormativität in der Schule auch sprachlich ausgehandelt werden – und das zumeist negativ. Ulrich Klockes Studie von 2012 zeigte für die Stadt Berlin, dass homophobes Verhalten insbesondere bei jungen Heranwachsenden weit verbreitet ist. 62 % aller Sechstklässler*innen und 54 % aller Neunt- und Zehntklässler*innen verwendeten nach Angaben von Mitschüler*innen in den vergangenen zwölf Monaten „schwul“ oder „Schwuchtel“ als Schimpfwort. Auch „Lesbe“ wird als Schimpfwort verwendet (40 % und 22 %). Zudem machten sich etwa die Hälfte der Schüler*innen über nicht geschlechtskonformes Verhalten lustig (Klocke 2012: 87).

Dass eine heteronormative Grundhaltung an Schulen und in der Gesellschaft homophobe Äußerungen befeuert, ist anzunehmen. Dies legt nahe, dass die Integration von (sprachlichen) Alternativen zur cis-heteronormativen Normierung der Mehrheitsgesellschaft in den Schulalltag wichtig ist für die Entwicklung von Jugendlichen, die diese Normierung nicht erfüllen können und/oder wollen.

Heteronormativität ist und war nicht nur im Schulkontext, sondern auch in der Bildungsforschung in Deutschland lange prävalent, sodass trans* und inter*geschlechtliche Menschen bis vor kurzem noch wie „vergessene Subjekte“ (Schütze 2010: 17) behandelt wurden. Erst in den letzten Jahren setzen sich Bildungsforschende wie Florian Cristóbal Klenk, Marita Kampshoff, Bettina Kleiner und Tamás Jules Fütty mit der Thematik intensiver auseinander, teilweise mit besonderem Fokus auf Trans* und Inter*geschlechtlichkeit im Kontext Schule. Es wäre eigentlich wünschenswert, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung auch in der pädagogischen Praxis ankommt.

Genderverbote machen sprachliche Aushandlung von Queerness zunichte

Stattdessen begeben sich die Bildungsministerien mit Genderverboten an Schulen auf den Weg der US-amerikanischen Anti-LGBTQIA-Gesetzgebung. Queere Jugendliche erfahren so keine Unterstützung, sondern bestehende Probleme werden – im Gegenteil – noch verstärkt. Wenn Jugendliche Angst haben müssen, die angemessene Sprache für ihr eigenes bzw. das Geschlecht ihrer Freund*innen zu verwenden, wenn dies, wie in einigen Bundesländern, sogar mit einer schlechteren Bewertung (in Deutsch-Abiturprüfungen in Sachsen-Anhalt von bis zu zwei Notenpunkten) sanktioniert wird, dann werden diese Schüler*innen nicht über ihre Erfahrungen sprechen können und werden damit (nicht nur) sprachlich in eine isolierte Situation gebracht. Lebenssituationen und Schüler*innen, die nicht cis-heteronormativ sind, werden in diesen Schulen sprachlich nicht mehr vorkommen, werden eventuell auch gar nicht die Worte und Konzepte lernen, um ihre Geschlechtsdysphorie einzuordnen.

Dies widerspricht dem Kontroversitätsgebot des Beutelsbacher Konsenses, dies widerspricht aber vor allem einem freiheitlich-demokratischen Verständnis davon, wie wir als Gesellschaft mit (geschlechtlichen) Minderheiten umgehen sollten. Wenn sprachliche Aushandlung von Normen im Schulkontext ausdrücklich ausschließend passiert, um Normabweichungen zu sanktionieren, werden Menschen, die die Normen nicht einhalten (können), unweigerlich an den Rand der (Schul-)Gemeinschaft gedrängt.

Literatur

Kosciw, Joseph G.; Clark, Caitlin M. & Menard, Leesh (2022). The 2021 National School Climate Survey: The Experiences of LGBTQ+ Youth in Our Nation’s Schools. New York: GLSEN. Zugriff am 01.08.2024 unter https://www.glsen.org/sites/default/files/2022-10/NSCS-2021-Full-Report.pdf.

Klocke, Ulrich (2012). Umgang mit geschlechtlicher und sexueller Vielfalt in Schule und Unterricht: Eine Expertise zu Forschungsbedarfen für das Bundesministerium für Bildung und Forschung. Humboldt- Universität zu Berlin. Zugriff am 01.08.2024 unter https://www.psychology.hu-berlin.de/de/1695813/57490/klocke_2022_umgang-mit-geschlechtlicher-und-sexueller-vielfalt.pdf.

Schütze, Barbara (2010). Neo-Essentialismus in der Gender-Debatte. Transsexualismus als Schattendiskurs pädagogischer Geschlechterforschung. Bielefeld: transcript.

Zitation: Freddy Schmies: Gender und Pädagogik – queer und trans* am Lernort Schule, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 03.09.2024, www.gender-blog.de/beitrag/queer-trans-schule/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20240903

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Freddy Schmies

Freddy Schmies ist Lehrbeauftragte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg für post-heteronormative Pädagogik und LSBTIQ-Landeskoordiniation für Sachsen-Anhalt.

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