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Headergrafik: MCM/Adobe-Stock - Stadthäuser am Prinzipalmarkt Münster

Interview

Queer Münster. Eine andere Geschichte der Stadt

18. Oktober 2022 Claudia Kemper Lea Müseler Julia Paulus Uta C. Schmidt

Am  21.Oktober 2022 wird im LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster „Queer Münster. Eine andere Geschichte der Stadt“ eröffnet. Uta C. Schmidt konnte einen Blick auf die fast fertige Ausstellung werfen. Sie hat mit den beiden Dozentinnen Julia Paulus und Claudia Kemper sowie mit Lea Müseler als Vertreterin der Studierenden über das Projekt gesprochen.

Was zeigt eure Ausstellung?

Julia Paulus (JP): Der Untertitel weist darauf hin – sie zeigt eine „andere Geschichte“ der Stadt, eine andere Geschichte, die quer oder aber im besten Sinne queer zu der ja immer als katholisch konservativ bezeichneten Stadt liegt. Wir wollten eine Gruppe in den Mittelpunkt stellen, die bislang in der offiziellen Traditionsbildung fehlt. Und wir wollten gleichzeitig auch Grundlagen erarbeiten, die Geschichte sozialer Bewegungen seit den 1970er-Jahren zu erschließen. Nun haben wir 22 Roll-Ups gestaltet, denn nach der Eröffnung wird die Ausstellung auch noch an anderen Orten gezeigt.

Claudia Kemper (CK): Ich bin privat relativ unvorbereitet in die Vorbereitung der Jubiläumsfeierlichkeiten zur ersten Homosexuellen-Demo, die 1972 in Münster stattgefunden hat, hineingerutscht. Dabei ist mir klar geworden, wie wenig in dieser Stadt darüber bekannt ist. Der Rat der Stadt Münster hat ein Forschungs- und Gedenkprojekt initiiert, das sich vergessener Opfergruppen des Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit widmet. Er hat beschlossen, in der Stadtgesellschaft ein Bewusstsein für diese „vergessenen Opfer“ zu schaffen. Da konnten wir uns andocken. Unsere Ausstellung ist eine, die sich im historisch-politischen Kontext an die gesamte Stadtgesellschaft und ihre Erinnerungskultur richtet.

Wie lässt sich so etwas unter den Bedingungen eines heutigen Universitätsseminars realisieren?

CK: Wir hatten das Thema und die Idee zu einer Ausstellung. Wir mussten den Studierenden vermitteln: ‚Ihr könnt was ganz Tolles machen, aber es wird zusätzliche Arbeit bedeuten!‘ Hätten dann drei Viertel gesagt: Nee, ich will ein Textseminar, dann wäre daraus nichts geworden. Bevor Archivarbeit und Materialsuche anfingen, haben wir eine kurze Einführungsphase in Queer History und auch Queer Theory durchgeführt.

Lea Müseler (LM): Eine Ausstellung ist etwas Praktisches, das zieht viele Studierende der Geschichte und des Lehramts an, weil es etwas mit historisch-politischer Bildung zu tun hat, was leider nicht so häufig vorkommt im Studium. Und dann fühlten sich auch Menschen aus der queeren Community angesprochen. Es gibt nicht wirklich viele Möglichkeiten, Geschlechtergeschichte und dann noch Queer History in sein Studium einzubauen. Wir haben unterschiedliche Zugänge zum Thema gefunden – theoretische, praktische, aktivistische, wissenschaftliche.

Dahinter stecken ja auch immer didaktische Fragen: Was will ich eigentlich wie wozu rüberbringen und womit? Mit welchen Überlieferungen habt ihr gearbeitet?  

JP: Wir hatten das Glück, dass mit dem 50-jährigen Jubiläum der ersten Homosexuellen-Demo in der Bundesrepublik 1972 das Rosa Archiv seine Akten an das Stadtarchiv abgegeben hat. Dieses hat großes Interesse daran, denn es handelt sich ja um vergessene Entwicklungen der Stadtgeschichte. Das Stadtarchiv hat uns unterstützt, wo es ging. Es war wirklich work in progress, für diejenigen, die das Material archivalisch erschlossen hatten und für uns, die es dann nutzten. Woche zu Woche. Wir haben aber auch ganz normale Zeitschriften- und Zeitungsrecherche betrieben.

Ich habe für mich bei der Vorbesichtigung wahrgenommen, dass im Laufe der Ausstellung die Begrifflichkeiten „schwul“ und „lesbisch“ aufgehen in „queer“. Ist Queerness zum Arbeitsbegriff geworden?

JP: Mir ist nicht aufgefallen, dass es diesen Übergang gibt, aber ich würde sagen, dass wir einen bewussten Umgang mit Begriffen gesucht haben und wir uns auch mit der Macht, die in ihnen steckt, auseinandergesetzt haben, als wir das historische Material vor uns liegen sahen. Wann sind ‚schwul‘, ‚lesbisch‘ Selbstbeschreibung, wann ist es Zuschreibung und wann wird es zum Sammelbegriff. Wir haben den Begriff ‚queer‘ prominent gemacht für die heutige Reflexion: Was heißt queer eigentlich? Auch in der Community wird dies ja divers beantwortet. Für die Stadtgesellschaft muss noch Vermittlungsarbeit geleistet werden.

CK: Wenn es so etwas wie einen unterschwelligen roten Faden gibt in der Ausstellung, dann ist es das Thema der Zugehörigkeit, angefangen von Zugehörigkeit zur Dominanzgesellschaft, zur Religionsgemeinschaft, zu Stadt und Land bis hin zu konkreten Gruppen und ihren internen Konflikten darüber, wer darf hier mitsprechen und wer nicht.

Wie können wir mit dem Konzept „queer“ an die Geschichte herangehen? Das ist ja eine ganz existenzielle Frage für die Rekonstruktion von Denk- und Sprachweisen vergangener Gesellschaften.

JP: Ich erinnere mich an das allererste öffentliche Interview mit lesbischen Frauen in der Frauenzeitschrift Jasmin Ende der Sechzigerjahre. Wir haben uns im Seminar angeschaut, wie reden die eigentlich? Die Studierenden fühlten sich geradezu ins Mittelalter versetzt, obwohl es ein Text aus den 1960er-Jahren der Bundesrepublik war: Die Art der Selbstrepräsentation dieser Frauen, die war fremd. Wir haben versucht, eine Übersetzung zu schaffen und gleichzeitig eine Beziehung herzustellen zu diesem so unglaublich Fremden. Geschichtsdidaktisch war dies ein super Einstieg, weil deutlich wurde: Wir müssen die historischen Akteur_innen achten, die in einer bestimmten Zeit mit ihrem gesellschaftlichen Gepäck zu uns durch die Quellen sprechen. Unsere Augen wurden geöffnet: Wie viel Sprache können wir aus der Geschichte ‚wiederverwenden‘? Wo müssen wir Brücken schaffen?

Was wurde warum nicht erzählt?

LM: Die Frage von Sichtbarkeit und Repräsentanz von trans* Personen wird in der Ausstellung nur am Rande thematisiert. Die Quellen haben es nicht hergegeben. Sie verweisen auf die Geschichte der Schwulenbewegung und der lesbischen Bewegung in Münster. Und diese Unsichtbarkeit versuchen wir auch in der Ausstellung aufzugreifen, indem wir die Besucher_innen mit Fragen zu den Roll-Ups konfrontieren.

CK: Vielleicht war es in den Politiken der 1970er-Jahre überhaupt wichtig, Sichtbarkeit und Lebenslust jenseits heteronormativer Familienmodelle zu schaffen. Die Protagonist_innen lebten ja in einer Gesellschaft, die geradezu obsessiv geprägt war von der Familie. Von trans* zu sprechen, rückte gewissermaßen in den Hintergrund angesichts des Mutes, sich als schwuler Mann oder als Lesbe gegen die Gesellschaftsnorm zu stellen.

JP: Unsere Protagonistin in der Ausstellung heißt Anne Henscheid, sie war die erste Frau, die sich landesweit über große Medien outete. Sie hat aber auch schon Anfang der 1970er-Jahre über trans* Menschen gesprochen. Die trans* Menschen gerieten in den 1970er-Jahren zwischen zwei Bewegungen: Auf der einen Seite gab es eine hohe Politisierung, erstmal die Gesellschaft zu ändern. Auf der anderen Seite gab es die Entwicklung, der Homosexualität im Geflecht gesellschaftlicher Normalität Geltung zu verschaffen. Alles, was erneut Irritation hervorrufen konnte, musste wieder ausgeblendet werden. Wir sind durch die Frage ‚Warum wird etwas nicht erzählt?‘ auf diese Hypothese gekommen – Stichwort Homonormativität.

Wieso sind die Frauen aus der Homophilen Studentengruppe Münster (HSM) ausgetreten? Was waren die Gründe für diese erste Differenzierung in der Homosexuellenbewegung der 1970er-Jahre?

JP: Die homosexuellen Frauen haben sich in der zutiefst patriarchalen Gesellschaft zunehmend zuerst als Frauen gesehen und als Feministinnen haben sie Machtfragen gestellt: ‚Wir werden zuerst als Frauen unterdrückt. In dieser Gruppe sprechen homosexuelle Männer über sich, wir aber sind unsichtbar.‘ Die Frauen sind ausgezogen und haben dann mit Frauen, die hinzukamen, die HFM – die Homosexuellen Frauen Münster – gegründet. Das war etwas völlig anderes, denn diese Gruppe definierte ihre Politik im Schnittfeld von Feminismus und Lesbianismus als neue, autonome Politik. Sie markieren die feministisch-lesbische Wende in der Homosexuellenbewegung.

Was war für Euch das Highlight bei der Ausstellungsarbeit?

CK: Für mich war klar das Highlight der Moment, wo das Seminar umschlug und sich die Studierenden das Thema selbst angeeignet haben, eigene Formate und auch Zugangsweisen entwickelten und die Frage beantworteten: ‚Was hat das mit mir zu tun‘. Besser kann es nicht laufen.

LM: Als Teil meiner Themengruppe hatte ich tolle Momente im Stadtarchiv, als wir uns gegenseitig bestimmte Artikel vorgelesen haben und uns die Augen rieben: Krass – diese Auseinandersetzungen hat es auch schon vor 50 Jahren gegeben. Wir konnten uns gegenseitig vertrauen. Da machten sogar Arbeitstreffen von zwei bis drei Stunden Spaß.

Zitation: Claudia Kemper, Lea Müseler, Julia Paulus im Interview mit Uta C. Schmidt: Queer Münster. Eine andere Geschichte der Stadt, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 18.10.2022, www.gender-blog.de/beitrag/queer_muenster/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20221018

Beitrag (ohne Headergrafik) lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz Creative Commons Lizenzvertrag

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Dr. Claudia Kemper

Claudia Kemper ist wissenschaftliche Referentin am LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte in Münster im Bereich Neueste Geschichte. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen auf der Geschichte sozialer Bewegungen, der historischen Friedens- und Konfliktforschung, Geschlechtergeschichte und der deutsch-deutschen jüngsten Zeitgeschichte.

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Lea Müseler

Studium der Geschichte und Mathematik (Lehramt Gym/Ges) im Zweifachmaster an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster; Studentin in der Übung "Queere Geschichte(n) - Historiografie von Queerness" im SS 22; gemeinsam mit den Kommiliton:innen Realisation der Ausstellung "Queer Münster", hier Mitglied der Arbeitsgruppe zu den Konflikten innerhalb der queeren Community.

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Dr. Julia Paulus

wissenschaftliche Referentin am LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte, Lehrbeauftragte am Historischen Seminar der Universität Münster und Regionalkoordinatorin für NRW des Arbeitskreises Historische Frauen- und Geschlechtergeschichte (AKHFG e.V.). Forschungsschwerpunkte in der Geschlechter-, Sozial- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts mit Schwerpunkt auf der Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik.

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Dr. Uta C. Schmidt

Historikerin und Kunsthistorikerin; Forschungen an den Schnittstellen von Raum, Wissen, Geschlecht und Macht; Publikationen zu Klöstern, Klanggeschichte und Geschichtskultur; wiss. Mitarbeiterin im Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW; Kuratorin im DA. Kunsthaus Kloster Gravenhorst; Mitherausgeberin von www.frauenruhrgeschichte.de.

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