08. Oktober 2024 Ani Kayode Somtochukwu Rita Schäfer
Homophobie ist in vielen Staaten der Welt historisch begründet und wird aus politischen Interessen geschürt. Das betrifft auch Nigeria; die dortige Kriminalisierung von Homosexualität geht auf die britische Kolonialherrschaft zurück. Nach der politischen Unabhängigkeit verabschiedeten Regierende aus machttaktischen Gründen homophobe Gesetze. Der Widerstand dagegen ist inzwischen auch in der Literatur ein Thema. Während des African Book Festivals in Berlin sprach Rita Schäfer mit dem Autor Ani Kayode Somtochukwu.
Was motivierte Sie zum Schreiben?
Schon in meiner Kindheit begann ich mit dem Schreiben. Ich mochte es, auf diesem Wege Geschichten zu erzählen. Während meines Studiums entwickelte ich mein Schreiben weiter. Es wurde Teil meiner politischen Advocacy-Arbeit für queere Menschen. Schreiben bot mir einen geschützten Raum, um Fragen zu stellen und mich mit Ideen auseinanderzusetzen. Schreiben ermöglichte mir, zu träumen und nicht nur darauf zu schauen, was realistisch ist. Schreiben ist eine Form, mich auszudrücken und dabei habe ich viel experimentiert, um professioneller zu werden. Allerdings hatte ich während meines Studiums in angewandter Biologie und Biotechnologie kaum Zeit dazu, denn ich kam aus einer armen Familie und mußte deshalb auch Geld verdienen.
Mein erstes Buchmanuskript habe ich zunächst von Hand in ein großes Schulheft geschrieben. Anschließend tippte ich es in kleinen Kapiteln in mein Handy und druckte die Dateien einzeln aus. Das war im Jahr 2020, damals hatte ich noch keinen Laptop oder Computer. Mit diesem Manuskript bewarb mich um den James Currey Preis für afrikanische Literatur. Das war der Anfang meines ersten Buches über queere Menschen in Nigeria. Das handgeschriebene Manuskript habe ich noch immer.
Literatur ist mächtig, sie kann zeigen: Nichts ist natürlich, statisch oder permanent, wir können die Dinge ändern. So haben wir Möglichkeiten zu erklären, was uns zugemutet wird, was wir ertragen, was unerträglich ist und wie wir zu überleben versuchen. Mit Literatur können wir unser Alltagsleben kommentieren und zum Nachdenken über langfristige Veränderungen anregen. Ich möchte, dass queere Menschen in Afrika ihre Sichtweisen und Selbstbilder selbst vermitteln können. Dass sie von ihren Erfahrungen, ihrem Leben, ihren Hoffnungen und Kämpfen berichten.
Was bedeutet in diesem Zusammenhang queere Liebe für Sie?
Oft wird queere Liebe nur als sexuelle Objektivierung wahrgenommen. Doch für mich geht es darum, füreinander da zu sein: die Sorge füreinander und die Freundschaft miteinander. Solche Liebe ist für uns überlebensnotwendig, damit wir glücklich sind und uns so ausdrücken können, wie wir es wollen, und Akzeptanz einfordern können. Die Gesellschaft hingegen sagt: Wenn Du geliebt werden willst, mußt Du Dich ändern. Aber queere Liebe hinterfragt die Ausgrenzung und alltägliche Unsicherheit bei der existentiellen Versorgung, der Arbeit und im Wohnumfeld. Sie gibt Hoffnung angesichts von Gewalt, Bedrohung und Unterdrückung. Queere Liebe ist eine Form des Widerstands, damit hat sie eine politische Dimension. Sie ist zukunftsorientiert und baut auf Veränderungen. Für mich ist queere Liebe deshalb keine Frage, was man im kapitalistischen Sinn von einem Partner bekommt, sondern wie unsere gemeinsame Zukunft aussehen kann und wohin wir als queere Community gehen wollen.
Welche Bedeutung hat class in Ihrem Scheiben und Aktivismus?
Viele Autor*innen schreiben für die Mittelschicht, schließlich basiert der ganze Literaturbetrieb auf Klassenunterschieden. Aber meine queeren Charaktere sind in einem armen Umfeld angesiedelt, denn da bin auch ich aufgewachsen. Über sechzig Prozent der Nigerianer*innen sind arm. Zudem ist die ethnische und regionale Herkunft in meinem Roman And then he sang a lullaby bedeutend. Die Mutter eines meiner Protagonisten kommt aus einer ethnischen Minderheit im Niger Delta, dort bohrt der Shell-Konzern nach Öl. Es geht jedoch nicht um Ethnonationalismus, denn die Mutter protestiert gegen die massive Umweltzerstörung. Diese Schäden werden politisch in Kauf genommen, die Regierung ließ den Widerstand der dortigen Bevölkerung niederschlagen. Auch Massenentlassungen infolge der Privatisierung, beispielsweise in Elektrizitätswerken, hat ein früherer Präsident angeordnet. Davon ist der Vater eines meiner Protagonisten betroffen. Ich möchte, dass queere Menschen über diese Zusammenhänge nachdenken und eigene Schlußfolgerungen daraus ziehen.
Class ist also wichtig für queere Politik, denn Klassenunterschiede beeinflussen unsere Träume von Überleben und Befreiung. Sie vernebeln unseren Aktivismus; wir setzen zu sehr auf kurzfristige Errungenschaften, nicht auf langfristige politische Ziele, damit meine ich umfassende Befreiung. Sie sollte aber unser Ziel sein, schließlich hängen wir als Minderheit immer von Wahlkämpfen ab, weil Politiker Homophobie verstärken, um ihre afrikanische Identität zu betonen und Homosexualität als fremd darstellen. Dabei wird oft vergessen, dass Antihomosexuellengesetze ursprünglich auf die britische Kolonialherrschaft zurückgehen. Davor gab es keine Kriminalisierung.
Seit dem Inkrafttreten des Same-Sex Marriage Prohibition Act (SSMPA) 2014 hat die Polizei auf der Suche nach Beweisen für Fehlverhalten viele queere Männer verhaftet. Class entscheidet darüber, ob du Polizisten bestechen kannst oder nicht, also ob du ins Gefängnis mußt. Wenn du dir keine sichere Wohnung leisten kannst und keinen Job hast, bekommst du die Härte des Gesetzes immer stärker zu spüren. Class bestimmt, wessen Leben bedroht ist und wer durch Gewalt stirbt.
Wie beeinflussen class und Wirtschaftspolitik den Alltag queerer Menschen?
Wenn wir class als Analyserahmen in unserem Protest gegen das SSMPA-Gesetz nutzen, dann sollte sich unser Kampf nicht auf die Abschaffung dieses Gesetzes beschränken. Vielmehr sollte die Befreiung unsere Vision und unser Ziel sein. Damit meine ich unseren Traum von einer Gesellschaft, die das Verhalten queerer Menschen nicht als gut oder böse beurteilt. Wir brauchen eine Gesellschaft, die uns einfach als Menschen achtet, sodass niemand das Queersein aufgeben muss, um als normal akzeptiert zu werden. Mir geht es nicht darum, ob wir heiraten oder öffentlich Händchen halten dürfen, sondern wir müssen Freiheit für uns definieren.
Mit class als Ausgangspunkt für unsere Forderungen können wir von wirklichen Veränderungen träumen. Dazu zählt die Abschaffung von Armut. Selbst wenn afrikanische Regierungen aufhören, queere Menschen in Gefängnisse zu stecken, brauchen wir Nahrung, Kleidung, Arbeit, Wohnraum, medizinische Versorgung. Aber Grundbedürfnisse können in einem kapitalistischen System nicht nachhaltig gedeckt werden; es setzt auf immer mehr Wachstum und es wird immer Regierungen geben, die von diesem System gefördert werden. Die ganze Verfolgung von queeren Menschen ist Teil des Kapitalismus. Zum Kontext: Die Weltbank und der Weltwährungsfond hatten afrikanische Regierungen gezwungen, die nationalen Ökonomien an ihre Regeln als internationale Kreditgeber anzupassen. Das bedeutete Privatisierung und massive Kürzungen von Staatsausgaben. In der Folge wurden viele Menschen immer ärmer und dann immer religiöser. Zusätzlich zu bereits bestehenden Kirchen verbreiteten neu gegründete Kirchen Homophobie, sie hatten viel Zulauf. Im Norden Nigerias wurden Moslems fanatischer, obwohl sie zuvor viel toleranter gewesen waren.
Armut verursacht soziale Verwerfungen und Spaltungen. Sie verstärkt ethnischen Antagonismus und gegenseitige Schuldzuweisungen, wer für die Misere verantwortlich ist. Protestierende Frauen und Jugendliche wurden von der Polizei angegriffen und verfolgt. Auch queere Menschen erlitten mehr Gewalt. Die Regierung versucht, die unterschiedlichen Protestgruppen zu spalten. Sie feindet nur queere Menschen für die Proteste an und macht uns zu Sündenböcken. All das bedroht uns.
Wie organisieren sich queere Aktivist*innen in Nigeria?
Ich arbeite in einem queeren Kollektiv mit, dessen Mitglieder aus ganz unterschiedlichen Schichten und gesellschaftlichen Gruppen kommen. Uns geht es um queere Befreiung und Befreiung vom kolonialen Erbe. Wir überlegen, welche konkrete Hilfe und welche Strategien sinnvoll sind. Auf politischer Ebene konnten wir einen Zusatz zum SSMPA-Gesetz verhindern, der das Crossdressing kriminalisiert hätte. Mit praktischer Hilfe unterstützen wir diejenigen, die in Folge des SSMPA-Gesetzes von ihren Familien verstoßen werden. Und wir helfen queeren Opfern der Polizeigewalt. Wir setzen uns für die Abschaffung der Polizeigewalt insgesamt ein. Von psychologischen Schulungen für Polizisten halten wir nichts, denn die geben ihnen nur noch mehr Macht.
Problematisch ist auch, wenn queere Nichtregierungsorganisationen (NRO) Geld von deutschen und US-amerikanischen Gebern erhalten, die Förderung aber keinen Raum für substanzielle politische Arbeit lässt. Als NRO musst Du dann a-politisch sein. Du musst Kondome und Bildungsmaterialien mit Rechtsinformationen oder Gesundheitsthemen verteilen. Diese Dinge sind notwendig, aber sie hängen an Fördergeldern, die zeitlich begrenzt sind. Die Geber interessieren sich nicht wirklich für uns, für queere Befreiung. Sie wollen als progressiv gelten – das ist ein aktueller Trend, aber es ist fraglich, wie lange er anhält. Das ist unberechenbar.
Übersetzung aus dem Englischen von Rita Schäfer.
Literatur
Ani Kayode Somtochukwu: And then he sang a lullaby, Roxane Gay Books/Grove Atlantic, New York, 2023.
Zitation: Ani Kayode Somtochukwu im Interview mit Rita Schäfer: Queere Literatur aus Nigeria – ein Interview mit Ani Kayode Somtochukwu, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 08.10.2024, www.gender-blog.de/beitrag/queere-literatur-nigeria-somtochukwu/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20241008
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