14. Mai 2024 Jessica Albrecht
Wenn es um queeren Aktivismus in Sri Lanka geht, ist dieser – wie an einigen anderen Orten im Globalen Süden auch – von mehrfachen Übersetzungen durchzogen: Übersetzungen zwischen einer globalen, englischsprachigen, „queeren“ Öffentlichkeit, zu der bspw. Social Media, aber auch der Menschenrechtsdiskurs gehören, und lokalen geschlechts- und sexualitäts-nonkonformen Identitäten und Lebensweisen; aber auch Übersetzungen zwischen den verschiedenen Sprachen, Kulturen und Religionen innerhalb Sri Lankas. In diesem Beitrag geht es um den Aktivismus queerer Menschen in Sri Lanka und wie sich diese innerhalb dieser Übersetzungen positionieren.
Die Vielsprachigkeit von Queerness in einer globalen Welt
Der Gebrauch des Wortes queer außerhalb des Globalen Nordens wird zwar auch vonseiten Forschender oder lokaler Aktivist*innen im Globalen Süden kritisch gesehen, eine dezidierte Abwehr findet sich allerdings besonders häufig innerhalb konservativer politischer und gesellschaftlicher Strömungen. Die implizierte „Fremdheit“ des Wortes queer wird in diesen Kreisen genutzt, um gleichzeitig queere Identitäten und Lebensweisen selbst als fremd zu markieren – die Übernahme eines englisches Wortes wird als Übernahme „westlicher“ Werte und Normen ausgelegt (Aldrich 2014). Dieser Diskurs ist kaum in Ländern des Globalen Nordens zu finden, was darauf hinweist, dass es sich hierbei weniger um eine Besonderheit der Sprache und sprachlichen Übersetzung an sich handelt als um die Grenzziehung zwischen „eigener“ und „fremder“ Kultur innerhalb postkolonialer Gesellschaften. So wird argumentiert, dass Queerness nicht natürlicherweise in der eigenen Kultur vorkäme, sondern durch den Einfluss des Westens entstanden sei (Gonzales 2019). Das erinnert stark an Argumentationen der Kolonialzeit, wenn es z. B. um die moralische Verwerflichkeit von Frauen ging, sei es durch die Übernahme westlicher Kleidung oder Sexualmoral (De Alwis 1999).
Sichtbar werden, Netzwerke knüpfen, Übersetzung leisten
Im aktuellen wie im historischen Diskurs wird ausgeblendet, dass Cis-Heteronormativität in der heutigen Form ein Produkt kolonialer Verflechtungen ist. So hat María Lugones bspw. argumentiert, dass kolonisierte heterosexuelle Männer die biologisierte Binarität der Geschlechter deshalb angenommen haben, weil ihnen dies selbst mehr Macht im kolonialen Diskurs verschaffte (Lugones 2007). Gleichzeitig werden so alle hiervon abweichenden Identitäten und Lebensformen kategorial ausgeblendet und sowohl historische Forschung als auch die Stimmen gegenwärtiger queerer Aktivist*innen unsichtbar gemacht. Letztere haben in den vergangenen Jahrzehnten gezeigt, wie vielseitig Geschlecht und Sexualität gelebt und gedacht werden können. Dennoch nutzen sie oft – wenn auch nicht ausschließlich und nicht unkritisch – Worte wie queer und trans als Selbstbezeichnungen, vor allem, um sich im globalen Menschenrechtsdiskurs Sichtbarkeit zu verschaffen und auf lokaler Ebene Rechte und Sicherheit zu erlangen. Gleichzeitig wird es so leichter für sie, Teil von globalen queeren Netzwerken zu werden, denn ein Umbrella-Begriff wie queer schafft genau dies: er bringt unterschiedliche Identitäten unter einen Hut und schafft so eine Gemeinsamkeit.
Im Buch Translating the Queer (2016) zeigt Héctor Domínguez Ruvalcaba für den lateinamerikanischen Kontext, dass queer eben genau deshalb nicht kolonial sei – wie von konservativer Seite abwertend behauptet –, weil es dezidiert Kritik übe am kolonialen Geschlechter- und Sexualitätsdiskurs, der eine heteronormative Binarität von Geschlecht und Sexualität voraussetzt. Auch wenn queere Identitäten global nicht gleich seien, so Ruvalcaba, greife diese Kritik und hierdurch der Verweis auf die Vielseitigkeit von Queerness selbst.
Sprachliche Möglichkeitserweiterungen
Obwohl das Wort queer also aus einer anderen Sprache stammt, ist es keine „fremde“ Kategorie, sondern bereits übersetzt in lokale Diskurse und mit lokalen Bedeutungen gefüllt. So auch in Sri Lanka. Nicht nur auf Social-Media-Kanälen, sondern auch offline nutzen viele Aktivist*innen Worte wie queer, trans, gay und lesbian als Selbstzuschreibungen, meistens deshalb, weil lokale Begriffe in den Sprachen Singhalesisch oder Tamil entweder derogativ sind (z. B. ponnaya für homosexuelle Männer, welches etwa als „Weibchen“ oder „tierische Frau“ übersetzt werden könnte), etwas ganz anderes bedeuten (z. B. nachchi für weibliche Männer, nichtbinäre Menschen mit männlichem Körper oder trans Frauen) oder gar nicht existieren (wie für homosexuelle Frauen). Englische Wörter eröffnen so neue Möglichkeiten auch für die eigene Identitätsfindung.
Allerdings findet nicht eine einfache Übernahme von einem globalen englischsprachigen Diskurs in den Kontext Sri Lankas statt, sondern durch diese (aktive) Übersetzung werden auch die Begriffe queer, trans oder lesbian verändert und diversifiziert. Wie Ruvalcaba für Lateinamerika zeigt auch dieser Fall, dass es keinen homogenen, globalen Diskurs von Queerness gibt. Denn selbst wenn dieser Diskurs durch die (post)koloniale Vormachtstellung der englischen Sprache sowie die hegemoniale Macht des Globalen Nordens beeinflusst wird, kann das kein Grund sein, die queere Bevölkerung Sri Lankas in ihrer Handlungsmacht zu beschneiden. Dies geschieht beispielsweise durch das Verdecken dieses Übersetzungsprozesses, indem lokale queere Identitäten, seien diese vorkolonial, kolonial oder postkolonial, unsichtbar gemacht werden; und dies geschieht von verschiedenen Seiten, sei es innerhalb von queerem Aktivismus im Globalen Norden oder durch konservative Kräfte im lokalen (postkolonialen) Kontext.
Die Vielsprachigkeit von Queerness in Sri Lanka
Ein bemerkenswertes Beispiel für die Vielsprachigkeit von Queerness in meiner Feldforschung war die aktivistische Künstler*in Sachi (Name geändert). Als Teil der muslimischen, urbanen Bevölkerung Sri Lankas spricht Sachi nicht nur mehrere Sprachen (Englisch, Tamil, Malay, Arabisch und ein wenig Singhalesisch), sondern weiß sich auch in diesen vielsprachigen Kontexten zu bewegen. Während Sachi zuvor nur die Möglichkeit zugestanden wurde, sich bspw. durch Kleidung, Schminke oder Frisuren als „weiblicher Mann“ zu stilisieren und hierdurch eine bestimmte, sehr eingeschränkte kulturelle oder religiöse Rolle einzunehmen, eröffnet ihr die Identität „trans“ nun sowohl nichtbinär als auch weiblich gelesen zu werden. Das ermöglicht es ihr als Künstlerin u. a., muslimischen Frauen für deren Hochzeit Körperschmuckbemalung mit Henna aufzutragen.
Gleichzeitig eröffnet queer auch neue Allianzen zwischen marginalisierten Personen. Nicht nur in Sri Lanka sind queere Menschen aufgrund ihrer Unterschiedlichkeit auch verschieden marginalisiert: Homosexuelle Handlungen unter Männern sind seit Ende des 19. Jahrhunderts bis heute strafbar, für Frauen gilt dasselbe erst seit 1995. Allerdings sind nichtheterosexuelle Frauen bis heute faktisch unsichtbar, sowohl in der Gesellschaft als auch für Politik oder Justiz. Lange Zeit wurden homosexuelle Männer mit trans Frauen gleichgesetzt. Die Übernahme neuer Begrifflichkeiten eröffnet somit nicht nur weitere Identifikationsmöglichkeiten, sondern auch Allianzen, weil nun keine dezidierte Abgrenzung von anderen mehr nötig ist, um gesellschaftlich akzeptiert zu werden – zumindest innerhalb liberaler und urbaner Kreise. Gab es bis vor wenigen Jahrzehnten noch hauptsächlich homosoziale Räume, sind queere Räume in Sri Lanka mittlerweile divers und vielseitig.
Queere Allianzen in einem geteilten Land
Solche Allianzen, die sich aus übersetzten und in den Kontext eingebetteten Identitätsmarkierungen gebildet haben, sind gerade in Sri Lanka auch deshalb beachtlich, weil sie über ethnische und religiöse Grenzen hinausgehen. Sri Lanka befand sich zwischen 1983 und 2009 in einem Krieg zwischen dem (singhalesisch regierten) Staat und der tamilischen Terrororganisation LTTE (Liberation Tigers of Tamil Eelam). Dieser Krieg war das Resultat kolonialer und postkolonialer Identitätsdifferenzierungen zwischen der singhalesischen (buddhistischen) Mehrheitsgesellschaft – im Westen, Süden und in der Zentralregion der Insel – und der tamilischen Bevölkerung (zu etwa je 10 % Hindus und Muslime) im Norden und Osten. Ähnlich wie andere aktuelle gesellschafts- und herrschaftskritische Gruppierungen – studentische Vereinigungen oder lokale politische Organisationen –, sind viele queere aktivistische Gruppen sowohl in den Städten als auch in ländlichen Gegenden äußerst heterogen. Sie bemühen sich aktiv darum, innerhalb ihrer Gruppe und in der Gesellschaft die Spannungen und Anfeindungen zwischen den ethno-religiösen Gruppen aufzulösen.
Queerness in Sri Lanka ist also Teil eines vielseitigen Übersetzungsprozesses, der sich nicht nur auf sprachlicher, sondern auch auf körperlicher und kultureller, ritueller und geschichtlicher Ebene abspielt und von queeren Akteur*innen in Sri Lanka geleistet wird. Ihnen zuzuhören und diesem Übersetzungsprozess die ihm zukommende Bedeutung beizumessen, ist wichtig für eine wissenschaftliche Praxis, die Handlungsmacht erkennen und verdeutlichen will, statt sie zu verdecken.
Interviews
Das hier zitierte Interview war Teil meiner Feldforschung in Sri Lanka, August und September 2023. Insgesamt habe ich Interviews mit 22 sich selbst als queer bezeichnenden Personen geführt. Hinzu kommt eine über das Jahr 2023 online durchgeführte Feldforschung auf Instagram.
Literatur
Aldrich, Robert. 2014. Cultural Encounters and Homoeriticism in Sri Lanka. Sex and Serendipity. London, New York: Routledge.
Alwis, Malathi de. 1999. “Respectability”, “Modernity” and the Policing of “Culture” in Colonial Ceylon. In Gender, Sexuality and Colonial Modernities, ed. by Antoinette Burton, 177–92. London: Routledge.
Gonzales, Joshua Arteta. 2019. Repainting the Rainbow. A Postcolonial Analysis on the Politics of the LGBTQ Movement in Colombo, Sri Lanka. Master thesis, Lunds Universitet.
Lugones, María. 2007. Heterosexualism and the Colonial / Modern Gender System. Hypatia 22: 186–209.
Ruvalcaba, Héctor Domínguez. 2021. Translating the Queer: Body Politics and Transnational Conversations. London: Zed Books.
Zitation: Jessica Albrecht: Wie übersetzt sich queerer Aktivismus in Sri Lanka?, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 14.05.2024, www.gender-blog.de/beitrag/queerer-aktivismus-sri-lanka/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20240514
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