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Auf halbem Weg im Regen. Reflexionen zu Anke Stellings „Schäfchen im Trockenen“

18. Februar 2020 Sandra Beaufaÿs

Die Gentrifizierung am Prenzlauer Berg oder das „Berliner Selbstverwirklichungsmilieu“ sei angeblich Thema des 2019 mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichneten Romans von Anke Stelling, „Schäfchen im Trockenen“. Rezensent_innen sehen darin wahlweise die „Suada einer Aufsteigerin“ (Jens Bisky) bzw. eine „Angstschrift gegen den Abstieg“ (Carolin Ströbele). Während Iris Radisch dem Buch die literarische Qualität rundheraus aberkennt und sich geradezu gehässig über die vordergründig verhandelten Probleme der Protagonistin auslässt, reibt sich Jens Bisky eher wohlig an der Wut und Wucht der Subjektposition, die hier gegen eine gutsituierte Mittelklasse bezogen wird. Nur Carolin Ströbele fällt auf, dass es auch der Roman über „die Selbstermächtigung einer Frau“ sein könnte.

Vergebliche Warnung

Die Icherzählerin Resi ist eine Frau Mitte 40, behauptet einen Beruf, nämlich den der Schriftstellerin und lebt mit einem Mann und vier Kindern, von denen sie sagt, „es war Irrsinn, sie zu kriegen; es war unsere Entscheidung, also sind wir selbst daran schuld“ (S. 43). Sie richtet ihre Rede an die 14-jährige Tochter Bea und beginnt gleich damit, „was das Wichtigste ist und das Schlimmste“ und dies sei, dass es keine Eindeutigkeit im Leben gebe. Dessen ungeachtet, versucht die weitere Erzählung über biografische Rückblenden und Reflexionen so etwas wie Eindeutigkeit herzustellen, um die Tochter zu warnen, wissend, dass diese Warnung sinnlos ist. Dabei bezieht sich die Protagonistin auch auf die eigene Mutter und die Müttergeneration, der sie vorwirft, geschwiegen zu haben:

„Ihr irrt euch. Indem ihr schweigt, schluckt und verschleiert, schont ihr uns nicht, sondern haltet uns in Unwissenheit. (...) In der Annahme, dass wir im Gegensatz zu euch ja völlig frei, gleichberechtigt und unseres Glückes Schmied sind, gehen wir also in die Welt hinaus. Und geraten naiv, unvorbereitet und ungeschützt in genau die misslichen Zusammenhänge wie ihr vor uns – denn dass die verschwunden sind, glaubt ihr ja wohl selbst nicht.“ (S. 57)

Resi übernimmt (im Gegensatz zu ihrer Mutter) nicht nur als quasi-auktoriale Erzählerin der Geschichte, sondern auch mit ihrer konsequenten und teils toxischen Handlungslogik sehr wohl die Verantwortung für ihr eigenes Schicksal und das ihrer Familie. Aber es hilft ihr nichts.

Gescheiterter Aufstieg

Selbst schuld und des Glückes Schmied sein, es vorher wissen müssen, Jungfrau mit dem Öl im Kännchen, sein Haus nicht auf Sand bauen – biedere und biblische Sprichwörter und Redensarten durchziehen das Buch bis hin zu Kinderreimen, die sich über jene lustig machen, die es nicht besser verstehen, es nicht vorher wissen, die falsche Wahl treffen. Von diesen Ausgangspunkten seziert die Protagonistin ihre eigene (kleinbürgerliche) soziale Herkunft und die ihrer (großbürgerlichen) Freunde.

In der Blütezeit der Bildungsexpansion kommt das Mädchen Resi aufs Gymnasium und befreundet sich mit anderen Jugendlichen, für die dieser Bildungsweg selbstverständlich ist. Während sie im Rückblick ihren Aufstieg als gescheitert erlebt und sich als prekär lebende Künstlerin nach unten abgrenzen muss, um nicht erfasst zu werden von den „in Polyester mit Aufdruck gekleidete(n) Leute(n)“ (S.  115), starten die anderen mit ihrem Hausbauprojekt am Prenzlberg das perfekte Glück. Resi erkennt indessen, dass sie ihre Schäfchen nicht ins Trockene gebracht hat, sondern vielmehr auf halbem Weg im Regen geblieben ist. Bildungskapital ist nur die halbe Miete. Sie überwirft sich mit ihren Freund_innen, nachdem sie ihr Hausbauprojekt für eine öffentliche Abrechnung genutzt hat: Gegen Geld schreibt sie einen schonungslos offenen Artikel darüber und verletzt damit die Gefühle ihrer Wegbegleiter_innen.

Schöne Geste

Sie selbst war mit ihrer Familie nicht Teil des Projekts, obgleich sie es hätte sein können. Den Kredit dafür bekam sie großzügig vom Mann ihrer Freundin angeboten. Doch Resi und auch ihr Lebensgefährte Sven scheuen die Konsequenzen, die eine derartige Bindung an andere Menschen mit sich bringen würde. Zudem missbilligt Resi die schöne Geste als Herablassungsstrategie: So wie sich der nette Ingmar in die Hocke begibt, wenn er mit Kindern redet („weil man das tun soll, wenn man das Wort an Kinder richtet“, S. 128), beugt er sich zu ihr mit seinem Angebot herab. Zudem unterstellt die Ich-Erzählerin ihm, sich damit eine symbolische Aufwertung des eigenen Projekts einzukaufen, „um die Baugruppe mit uns zu würzen, sie für sich sowie nach außen als Sozialprojekt darstellen zu können: »Doch, es sind auch Geringverdiener mit an Bord. Künstler – «“ (S. 75).

Armut wird – auch in Form der „migrantischen Verhältnisse“ in der Kita, die Ingmar lobend hervorhebt – zu einem Distinktionsmerkmal und gleichzeitig zu einer symbolischen Aufwertung des eigenen Lebensstils. Resi befürchtet somit, einen viel höheren Preis zurückzahlen zu müssen als die Summe des geliehenen Baugeldes, indem sie mit ihrer Familie zu symbolischem Kapital für die Besserverdienenden wird. Ihre schimpfende Analyse ist auch für Leser_innen schmerzhaft, die sich in Resis Blick auf die anderen und auf sich selbst gespiegelt sehen. Zur selbstbestätigenden Identifikation taugt keine Figur in diesem Roman.

Wirklichkeitsfremde Idylle

„Immer wenn das Einbilden anfängt, fängt auch das Schlimme an,“ lässt Theodor Fontane die Figur der Frau Dörr zu Beginn seines Romans „Irrungen, Wirrungen“ sagen (Fontane 2014 [1888], S. 9). Der Roman spielt im Berlin der 1880er-Jahre und Frau Dörr ist eine Person, die als „den Eindruck (...) einer besonderen Beschränktheit“ hinterlassend beschrieben wird (ebd., S. 8). Die Dörr’sche Feststellung bezieht sich auf eine junge Nachbarin, Heldin des Romans, die in eine romantische Affaire mit einem Adeligen verstrickt ist – der sie am Ende natürlich nicht heiratet. Insofern erweist sich die angebliche Beschränktheit der älteren Frau als Lebensweisheit: Die Idylle muss scheitern, da sie wirklichkeitsfremd ist.

Das Buch Fontanes behandelt Standesgegensätze, es thematisiert nicht Klassenkämpfe. Ganz ähnlich könnte gesagt werden, Stellings Roman behandelt nicht die großen sozialen Verwerfungen, sondern kaum sichtbare Ungleichheiten. Resis Problem ist nicht so sehr der tatsächlich vorhandene Herkunftsunterschied zwischen ihr und ihren wohlhabenderen bürgerlichen Freunden, auch nicht ihr ständiger Geldmangel, sondern, dass sie die soziale Kluft als solche erkennt und hinter ihre Erkenntnis nicht mehr zurücktreten kann. Das Wissen um die Strukturen bringt für sie keinen Vorteil, es trennt sie sowohl von den Freunden als auch von ihrem Herkunftsmilieu. In ihrem Fall könnte man somit sagen: Wo das Einbilden aufhört, fängt erst das Schlimme an.

Weiterlesen: Annika Klanke und Linda Leskau stellen im Journal Nr. 45 des Netzwerks Frauen- und Geschlechterforschung NRW Überlegungen zum Roman "Schäfchen im Trockenen" aus literaturwissenschaftlicher Sicht an.

Literatur

Fontane, Theodor (2014 [1888]): Irrungen, Wirrungen. Hamburg: Fabula Verlag.

Stelling, Anke (2018): Schäfchen im Trockenen. 1. Aufl. Berlin: Verbrecher Verlag.

Zitation: Sandra Beaufaÿs: Auf halbem Weg im Regen. Reflexionen zu Anke Stellings „Schäfchen im Trockenen“, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 18.02.2020, www.gender-blog.de/beitrag/reflexionen-zu-anke-stelling/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20200218

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Dr. Sandra Beaufaÿs

Sandra Beaufaÿs ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Koordinations- und Forschungsstelle des Netzwerks Frauen- und Geschlechterforschung NRW an der Universität Duisburg-Essen. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Wissenstransfer sowie bei den Themen Geschlechterverhältnisse in Wissenschaft, Professionen und Arbeitsorganisationen.

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