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Interview

Exzellente Forschung mit Geschlechterbezug – Reinhild Kreis und Barbara Umrath

22. März 2022 Reinhild Kreis Barbara Umrath Uta C. Schmidt

Das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen (NRW) verlieh am 10. Februar 2022 zum zweiten Mal einen Forschungspreis für exzellente Forschung mit Geschlechterbezug. Er trägt seit dieser Verleihung den Namen Rita Süssmuth-Forschungspreis und wird in zwei Kategorien vergeben: an eine Professur an einer Hochschule in NRW und an eine promovierte Forschungspersönlichkeit.

Eine andere Geschichte

Frau Kreis, Ihre preisgekrönte Forschung wurde unter dem Titel publiziert: „Selbermachen. Eine andere Geschichte des Konsumzeitalters“. Warum eine „andere Geschichte“?

Das Buch beleuchtet Seiten des Konsumzeitalters seit dem späten 19. Jahrhundert, die oft vernachlässigt werden. Es geht um die große Bedeutung von Haushaltsproduktion, also der eigenhändigen Herstellung und Bereitstellung von Dingen und Dienstleistungen für den eigenen Bedarf. Selbermachen war und ist eine zentrale Versorgungsstrategie für Haushalte, keine Armuts- oder Modeerscheinung, verändert sich aber mit der Industrialisierung.

Mit der Perspektive auf moderne Haushalte zeige ich Haushaltsproduktion als Markt und als moralische Ökonomie. Das bedeutet: Wenn Sie selbst kochen oder das Wohnzimmer tapezieren, gehen Sie zuvor einkaufen – Haushaltsproduktion ist also meist Prosumieren, eine Mischung aus Konsum und Produktion. Selbermachen ist also nicht Konsumverzicht, sondern der Konsum findet an einer anderen Stelle im Versorgungsprozess statt.

Sie orientieren sich in Ihren Forschungen durchgängig an Geschlecht als sozialer und historischer Kategorie. Was kommt dadurch in den Blick?

Mit der Wahl Ihrer Versorgungsstrategie werden Sie zu einer bestimmten Person in ihren eigenen Augen und in den Augen anderer. Wenn Sie Ihren Gästen Fertigpizza vorsetzen, das Kind mit gestopften Socken in die Schule geht, Sie beim Hausbau Baustoffe wiederverwerten oder im Krieg einen Gemüsegarten anlegen, „machen“ Sie sich dadurch zu einer schlechten Hausfrau, einem armen Schlucker, zu einem Öko oder einer Patriotin.

Die gesellschaftlichen Spielregeln werden also von der Kategorie Geschlecht bestimmt?

Man kann in der historischen Perspektive sehen, dass Haushaltsproduktion als moralische Ökonomie Frauen stärker als Männer betrifft. Die Erwartungen waren stets höher und detaillierter, die Sanktionen bei Normübertretungen schärfer. Doch die grundlegenden Mechanismen greifen für alle Geschlechter, und durch den Blick auf das alltägliche Versorgungshandeln sieht man auch, wie wenig eindeutig geschlechtsspezifische Zuordnungen im Alltag oftmals waren. Der Blick auf Haushaltsproduktion als Diskurs und Praxis zeigt also, wie Weiblichkeit und Männlichkeit in erheblichem Maße über Versorgungsstrategien verhandelt wurden, und wie sich Geschlechterverhältnisse konstituieren.

Was mir dabei sehr wichtig ist: Haushaltsproduktion ist extrem vieldeutig. Zu sagen, dass Praktiken des Selbermachens oder Prosumierens per se als Unterdrückungsmechanismus, als Emanzipation oder Zeichen von Kreativität gelesen werden müssen, wird dieser Komplexität nicht gerecht. Der jeweilige Kontext ist entscheidend.

Wieso zeigen sich gerade im Selbermachen diese gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen?

Letztlich geht es bei Versorgungshandeln immer um die Frage: Investiert man Zeit oder Geld, um sich zu versorgen? Diese Entscheidung ist abhängig von vielen Faktoren, sie ist voraussetzungsreich und sie hat weitreichende Folgen, gerade mit Blick auf Geschlecht.

Ich gebe nur zwei Beispiele. Zu den Voraussetzungen zählen Kompetenzen. Quellen wie pädagogische Diskussionen, Erziehungsratgeber oder Schulcurricula zeigen die Vorstellungen, wer welche Kenntnisse und Fertigkeiten haben sollte (ob man also eher mit Geld umgehen, Waren beurteilen oder etwas selbst herstellen können sollte) und wie man Menschen dazu erziehen konnte. Da werden gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen mit Blick auf Geschlecht und Schicht unmittelbar sichtbar und durch die Vermittlung von praktischem Wissen auch in den Körper eingeschrieben.

Das zweite Beispiel bezieht sich auf die Folgen. Haushaltsproduktion macht einen enorm hohen Anteil der produktiven Leistung einer Gesellschaft aus. Aber diese Produktivität ist weitgehend unsichtbar (so wird sie z.B. in Statistiken wie dem BIP ignoriert), und sie ist nicht in die sozialen Sicherungssysteme integriert.

Das heißt, wer für den eigenen Haushalt kocht, näht, tapeziert oder das Auto repariert, ist über diese Tätigkeiten weder kranken- noch rentenversichert?

Genau, dahinter steht ein Verständnis von Arbeit und Produktivität, das nur vertragliche Arbeitsbeziehungen einrechnet. Von den damit verbundenen Ausschlüssen sind vor allem Frauen betroffen, denn sie leisten weitaus mehr der unbezahlten Arbeit als Männer.

Das alltägliche und unspektakuläre Versorgungshandeln führt also tief hinein in Aushandlungsprozesse an der Schnittstelle von Arbeit und Freizeit, Produktion und Konsum und damit in die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft.

(v.l.n.r.) Isabel Pfeiffer-Poensgen, Ministerin für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, Prof. Dr. Rita Süssmuth sowie die Preitsträgerinnen Dr. Barbara Umrath von der TH Köln und Prof. Dr. Reinhild Kreis von der Universität Siegen (Foto: Susanne Kurz für MKW.NRW).

Geschlechterfragen in größeren gesellschaftlichen Zusammenhängen

Frau Umrath, wie sind sie zur Kritischen Theorie gekommen, die in den letzten vielleicht 30 Jahren der Geschlechterforschung von anderen Theoriekonzepten ein wenig an den Rand gedrängt wurde?

Zur Kritischen Theorie bin ich tatsächlich durch mein Studium und dort eher durch Zufall gekommen: Ich habe im Hauptfach Erziehungswissenschaften studiert, um danach mit Frauen und Mädchen zu arbeiten. Früh im Studium konnte ich an einem Seminar zur „Kritischen Erziehungswissenschaft“ teilnehmen. Dort haben wir u.a. Adornos „Erziehung nach Auschwitz“ gelesen. Dies war ein Text, der mich in seiner Eindringlichkeit gefangen hat – dass sich so etwas Ähnliches wie Auschwitz durchaus wiederholen kann. Diese eindrückliche Warnung davor, dies hat bei mir einen Nerv getroffen. Hinzu kam die Differenziertheit, Gewähltheit, Präzision in der Sprache dieses ja eigentlich mündlichen Textes. Das hat mich fasziniert. Und in diesem Text wurde zumindest an einer Stelle bereits so etwas wie „Härte“, „Männlichkeit“, „Ertragen können“ angesprochen – Aspekte, die auf Geschlechterfragen verweisen als Teil der Voraussetzungen dessen, was so etwas wie Auschwitz wieder ermöglichen könnte. Damit war mein Interesse auch als Geschlechterforscherin geweckt. Ich hatte dann das Glück, dass vor allem in der Soziologie an meiner Hochschule weitere Seminare zur Kritischen Theorie angeboten wurden, die ich besuchen konnte.

Warum lohnt es sich, sich mit der Kritischen Theorie zu befassen?

Dort, wo die Kritische Theorie Geschlechterfragen stellt, bettet sie sie immer in größere gesellschaftliche Zusammenhänge ein. Ich habe Geschlechterforschung kennengelernt, als sie bereits universitär institutionalisiert war, etabliert  – natürlich bis heute in einer prekären Rolle, doch sie war für meine theoretische Sozialisation eine Selbstverständlichkeit. Mit ihrer Etablierung ging – notwendigerweise –  eine gewisse Spezialisierung einher. Es war bereits in meiner wissenschaftlichen Sozialisierung nicht mehr so selbstverständlich, Geschlechterfragen als gesamtgesellschaftliche Fragen zu verstehen und zu rahmen. Dass es bei Geschlechterfragen nicht um Spezialfragen geht, das ist heute oftmals nicht mehr auf den ersten Blick ersichtlich. Die Kritische Theorie richtet den Fokus von Geschlechterfragen immer wieder auf die gesamtgesellschaftliche Situation.

Welche Rolle spielt Emanzipation für die aktuelle Lesart der Kritischen Theorie?

Die Kritische Theorie bietet einen breiten Emanzipationsbegriff an – der sich nicht nur auf die Umwälzung der Produktionsverhältnisse im engeren Sinne bezieht, sondern auch auf sexuelle Vorstellungen, auf das familiäre Zusammenleben etc. Dieser Emanzipationsbegriff ist nicht nur breit, sondern die Kritische Theorie knüpft mit ihm an den Frühsozialismus Anfang des 19. Jahrhunderts an. Dabei reflektiert sie die historischen Niederlagen der sozialistischen Bewegungen im 20. Jahrhundert und entwickelt über Verfahren der bestimmten Negation einen Modus, wie es sich an einem Emanzipationsbegriff festhalten lässt, der auf das Insgesamte der gesellschaftlichen Verhältnisse zielt. Ich glaube, dass die Voraussetzungen für feministische Theorie, für feministische Kritik, zum Teil andere sind, weil es vielleicht weniger die Niederlagen sind, die „Emanzipation“ als Leitperspektive entkräftet haben, sondern die Erfolge. Dennoch sollten wir uns weiterhin von der Kritischen Theorie inspirieren lassen. Es stellt sich ja stets die Frage: Wie können wir, den realen Entwicklungen zum Trotz, ein Stück weit an der Utopie einer Emanzipation festhalten.

Was ist dialektisches Denken?

Es geht darum, von Widersprüchen auszugehen und sich dabei auch bewusst zu machen, dass Widersprüche häufig durch Denken allein nicht aufzulösen sind. Dialektisches Denken erkennt Gegenläufigkeiten als solche, die in der Sache selbst liegen und betrachtet diese als einen Aspekt des Ganzen, nicht als Nebensächlichkeit. Es geht darum, den Prozesscharakter dessen, was geworden ist, freizulegen. Und damit im Gegenwärtigen sowohl Spuren der Vergangenheit als auch das Aufscheinen künftiger Möglichkeiten herauszuarbeiten. Dies hört sich sehr abstrakt an. Wenn man mit der „Dialektik der Aufklärung“ denkt, dass jeder Fortschritt der Befreiung auch einer der tieferen Verstrickung in Herrschaft ist, dann lässt sich das anhand ganz konkreter Befreiungsbewegungen diskutieren. Was hat die Frauenbewegung erreicht? Sicher, Frauen sind heute deutlich häufiger ökonomisch selbstständiger, unabhängiger von Männern, als sie das noch vor vielleicht 50 Jahren waren, aber vielleicht sind sie zugleich mehr denn je mehrfach, anders belastet. Dies hängt ja nicht damit zusammen, dass Frauen die falschen Entscheidungen getroffen haben oder das sich nichts verändert, sondern hier zeigt sich: Solange insgesamt noch gesellschaftliche Herrschaft besteht, geht jeder Schritt der Befreiung zugleich mit neuen Verstrickungen einher. So würde es dialektisch gedacht.

Eine Veränderung der Geschlechterordnung lässt sich also nur in einem gesamtgesellschaftlichen Verflechtungszusammenhang angehen?

Emanzipation hin zu einer weniger herrschaftsförmig organisierten Geschlechterordnung bedarf immer auch einer emanzipierteren Gesellschaft. Adorno hat dies noch ganz kategorisch gefasst: ‚Keine Emanzipation ohne die der Gesellschaft‘. Es heißt nicht, dass es nicht auch durchaus befreiende Momente ohne Emanzipation geben kann, doch kann man sich auch nicht mit den kleinen Schritten bescheiden – das ist dialektisches Denken.

Literatur

Kreis, Reinhild (2020). Selbermachen: eine andere Geschichte des Konsumzeitalters. Frankfurt/Main: Campus Verlag.

Umrath, Barbara (2018). Geschlecht, Familie, Sexualität: die Entwicklung der Kritischen Theorie aus der Perspektive sozialwissenschaftlicher Geschlechterforschung. Frankfurt/Main: Campus Verlag.

Zitation: Reinhild Kreis, Barbara Umrath im Interview mit Uta C. Schmidt: Exzellente Forschung mit Geschlechterbezug – Reinhild Kreis und Barbara Umrath, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 22.03.2022, www.gender-blog.de/beitrag/rita-suessmuth-forschungspreis-2022/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20220322

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Prof. Dr. Reinhild Kreis

Reinhild Kreis ist Professorin für Geschichte der Gegenwart an der Universität Siegen. Zuvor war sie Akademische Rätin a.Z. an der Universität Mannheim. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Konsumgeschichte, der Geschichte der transatlantischen Beziehungen, der Protest- und der Emotionsgeschichte. Aktuell arbeitet sie an einem Forschungsprojekt zum Thema „Wettbewerb um die Zukunft. Jugendwettbewerbe im 20. Jahrhundert“.

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Dr. Barbara Umrath

Studium der Erziehungswissenschaften, Soziologie und Psychologie an der Universität Augsburg und der New School for Social Research. Promotion in Soziologie an der Universität Flensburg. Derzeit Post-Doc am Institut für Geschlechterstudien der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften, TH Köln und Referentin für Evaluation bei der Frauenrechts- und Hilfsorganisation medica mondiale e.V.

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Dr. Uta C. Schmidt

Historikerin und Kunsthistorikerin; Forschungen an den Schnittstellen von Raum, Wissen, Geschlecht und Macht; Publikationen zu Klöstern, Klanggeschichte und Geschichtskultur; wiss. Mitarbeiterin im Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW; Kuratorin im DA. Kunsthaus Kloster Gravenhorst; Mitherausgeberin von www.frauenruhrgeschichte.de.

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