23. Juli 2024 Rita Schäfer
Am 26. Juli 1924 wurde Ruth Weiss in Fürth geboren, wegen des bedrohlichen Antisemitismus der Nazis floh sie mit ihrer Mutter und Schwester 1936 nach Südafrika, ihr Vater war kurz zuvor nach Johannesburg emigriert. Dort wurde sie mit Antisemitismus und Rassismus der weißen Minderheitenregierung konfrontiert. Als Wirtschaftsjournalistin kritisierte sie das 1948 etablierte Apartheidregime und wurde daraufhin des Landes verwiesen. Danach leitete sie Zeitungsredaktionen in den Nachbarländern Südafrikas und behauptete sich in einer Männerdomäne. Ihr besonderes Interesse galt den Frauen, die für politische Unabhängigkeit und Gleichberechtigung kämpften. Im Alter kam sie nach Europa zurück; bis heute setzt sich die Zeitzeugin als Autorin und Rednerin gegen Antisemitismus ein.
Anläßlich des 100. Geburtstags von Ruth Weiss fokussiert dieser Beitrag auf ihre innovativen Impulse zur internationalen Frauenforschung. Viel früher als Forschende in Europa oder in den USA erkannte sie die Komplexität des weiblichen Aktivismus gegen die Apartheid in Südafrika, die Widersprüchlichkeit der aktiven Mitwirkung junger Frauen an bewaffneten Konflikten im südlichen Afrika und die Ambivalenz dortiger, männlich dominierter Unabhängigkeitsbewegungen, die Kolonialismus abschaffen wollten, aber gleichzeitig martialisch-autoritär strukturiert waren.
Antikoloniale Kämpferinnen
In zahlreichen Interviews, die Ruth Weiss direkt nach dem antikolonialen Krieg und der politischen Unabhängigkeit 1980 in Simbabwe führte, hörte sie von Ex-Kämpferinnen, wie grausam die Armee des rassistischen Siedlerregimes gegen Schwarze Frauen vorgegangen war. Zudem berichteten frühere Kombattantinnen vom Stolz auf ihre Kampfleistungen, die ihr Selbstbewusstsein durch das Überschreiten traditioneller sowie konservativ-christlicher und kolonialer Rollengrenzen stärkten (Weiss 1985). Allerdings verschwiegen sie gegenüber der empathischen Journalistin Ruth Weiss auch nicht den Machtmissbrauch männlicher Kommandanten der Guerillaeinheiten, die ungestraft junge Rekrutinnen vergewaltigten und, wenn diese schwanger wurden, die Vaterschaft oft nicht anerkannten. Solches Verhalten widersprach der emanzipatorischen Propaganda und den Regeln, die nationalistische Bewegungen, allen voran die Zimbabwe African National Union (ZANU), für sich selbst aufgestellt hatten. Die Folge waren fortgesetzte Geschlechterhierarchien nach dem offiziellen Kriegsende, wie Ruth Weiss kritisch feststellte. Erfahrungsberichte der Ex-Kämpferinnen veröffentlichte sie auch in Deutschland. Die hiesige, ebenfalls männlich dominierte Solidaritätsszene hätte somit selbstkritisch darüber reflektieren können, wie wichtig es gewesen wäre, Geschlechterdifferenzen und fortgesetzte Ungleichheiten zu beachten und sich nicht nur auf die Abschaffung des Siedlerregimes als alleiniges Erfolgskriterium zu beschränken (Weiss 1985).
Widersprüche in der Nachkriegsgesellschaft
In Simbabwe setzten Ex-Kämpferinnen nach der politischen Unabhängigkeit alles daran, rechtsmündig zu werden, das Ehe- und Erbrecht zu reformieren und allen Frauen mehr Zugang zu Bildung und Berufen zu ermöglichen. Auch mehr wirtschaftliche Eigenständigkeit zählte zu den Zielen. Dem stand aber ein konservatives Rollback in der Gesellschaft entgegen. Etliche Ex-Kämpfer weigerten sich, frühere Mitstreiterinnen offiziell zu heiraten, weil diese zu selbstbewusst geworden seien. 1983 griffen staatliche Sicherheitskräfte über 6.000 Stadtbewohnerinnen willkürlich auf und bezichtigten sie der Prostitution, die im unabhängigen Simbabwe wie unter der Kolonialherrschaft verboten war. Mit der Vertreibung wirtschaftlich selbstständiger Frauen aus den Städten setzte die neue Regierung ebenfalls eine koloniale Praxis fort. All das dokumentierte Ruth Weiss und ordnete solche Ereignisse bzw. Konflikte in gesellschafts- und machtpolitische Zusammenhänge ein (Weiss 1985).
Noch immer sind ihre Analysen lesenswert, weil sie von einer sehr guten Kenntnis der Politik und Geschichte Simbabwes zeugen; dazu zählt auch fundiertes Wissen über vorkoloniale Sozialstrukturen und traditionelle religiöse Weltbilder. Am Beispiel der international bekannten Musikerin Stella Rambisai Chiweshe erläuterte Ruth Weiss, wieviel Stärke einzelne Simbabwerinnen bewiesen, wenn sie solche Strukturen nicht als statisch hinnahmen, sondern sie dynamisch veränderten, indem sie sich auf die spirituell-politische Macht von Geistermedien beriefen. Gleichzeitig vermied Ruth Weiss jegliche Anbiederei und die Verklärung von Traditionalismus. Vielmehr bewahrte sie die Rolle einer interessierten, wertschätzenden und differenziert argumentierenden Beobachterin (Weiss 1985).
Südafrikanerinnen gegen die Apartheid
Mit dieser Haltung begegnete sie auch Südafrikanerinnen unterschiedlicher Herkunft, die gegen das rassistische Apartheidregime protestierten oder dieses aktiv bekämpften. Dazu zählten weiße Gewerkschaftlerinnen wie Helen Joseph und die Wirtschaftswissenschaftlerin Helen Suzman, die wie Ruth Weiss selbst als Jüdin mit dem aggressiven Antisemitismus des Apartheidregimes konfrontiert war. Mit der Literaturnobelpreisträgerin Nadine Gordimer, deren Vater vor Pogromen im Baltikum geflohen war und die in ihren zum Teil verbotenen Romanen die Apartheidgesellschaft ausleuchtete, verband Ruth Weiss eine enge Freundschaft. Sie portraitierte diese Frauen, die Privilegien der weißen Gesellschaft genossen, von denen einige aber auch wegen ihres politischen Aktionismus etliche Jahre unter Hausarrest standen oder sogar zeitweilig inhaftiert wurden (Weiss 1986).
Die menschenunwürdigen Bedingungen in südafrikanischen Frauengefängnissen, in denen Aktivistinnen nach Hautfarben getrennt eingesperrt waren, wurden vor allem von Schwarzen Regimegegnerinnen thematisiert. Ruth Weiss gab solchen Erläuterungen Raum. So beschrieb die Journalistin Joyce Sikakane (auch als Joyce Nomafa Sikhakhane-Rankin bekannt) drastisch, wie feucht, dunkel und dreckig die kleinen Isolationszellen waren, in denen sie 1969/70 siebzehn Monate festgehalten wurde. Zusätzlich zur körperlichen und psychischen Belastung durch diese Haftbedingungen wurde sie von Wärter*innen damit gedemütigt, ihr Monatsbinden vorzuenthalten. Deshalb floß das Menstruationsblut an ihren Beinen herunter, während sie von weißen rassistischen Sicherheitspolizisten verhört wurde. Andere Schwarze Gefangene wurden von diesen vergewaltigt und gefoltert. Ruth Weiss dokumentierte all das ebenso wie den massiven Psychoterror, denn Gefangene wurden erpresst, Mitstreiter*innen zu verraten (Weiss 1986). Um sich diesem Druck nicht zu beugen, brauchten die Inhaftierten große Standhaftigkeit, wenn Sicherheitspolizisten ihnen drohten, gegen ihre Familienmitglieder vorzugehen, falls sie Aussagen verweigerten.
Von Ruth Weiss lernen
Basierend auf Gesprächen mit weiteren Schwarzen Aktivistinnen veranschaulichte Ruth Weiss, inwiefern deren individuelle Erfahrungen Teil struktureller Gewalt des repressiven Apartheidregimes waren – eines totalitären Polizeistaates, mit dem trotz internationaler Sanktionen einige damalige westliche Regierungen und etliche Unternehmen, auch deutsche Auto- und Rüstungskonzerne, kooperierten. Die Wirtschaftsjournalistin hat sich nie in die Niederungen kulturalistischer Scheinkämpfe begeben, sondern schon vor Jahrzehnten immer wieder dokumentiert, dass rassistische Gewalt und Ausbeutung Schwarzer Arbeiter*innen einerseits und grenzenloses wirtschaftskriminelles Gewinnstreben andererseits strukturell verwoben waren.
Ruth Weiss’ Publikationen basierten auf Selbstbildern, Erfahrungen und Analysen afrikanischer Frauen, deren Stimmen sie einer deutschsprachigen Leserschaft nahebrachte. Hinzu kamen ihre fundierten wirtschaftspolitischen und historischen Detailkenntnisse, anhand derer sie die Standpunkte ihrer Interviewpartnerinnen, z. B. nicht gegen die Weißen als solche, sondern gegen repressive Strukturen zu kämpfen, in größere Kontexte einordnete (Weiss 1986).
Deshalb wäre es für die heutige hiesige Frauen- und Geschlechterforschung erkenntnisreich, die Schriften von Ruth Weiss zu lesen, bevor teils weitreichende Aussagen über ganz Afrika publiziert werden, die sich häufig vor allem auf Äußerungen von Wissenschaftler*innen an US-amerikanischen Elite-Universitäten berufen und diese zum Maßstab anlegen. Denn im Unterschied zur regionalen Expertin Ruth Weiss, die über Jahrzehnte vor Ort arbeitete und recherchierte, sind viele heutige Forschende von den oftmals widersprüchlichen Lebensrealitäten und diesen zugrundeliegenden Strukturen nicht nur geografisch weit entfernt.
Literatur
Weiss, Ruth (1985): Die Frauen von Zimbabwe. 2. überarbeitete Auflage. München: Frauenbuchverlag.
Weiss, Ruth (Hg.) (1986): Frauen gegen Apartheid. Zur Geschichte des politischen Widerstands von Frauen. 2. aktualisierte Auflage. Reinbek: Rowohlt Verlag.
Zitation: Rita Schäfer: Ruth Weiss – Zeitzeugin wird 100 Jahre, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 23.07.2024, www.gender-blog.de/beitrag/ruth-weiss-100-jahre/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20240723
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Kommentare
Barbara | 30.07.2024
Ich bin vor kurzem auf einen Podcast des Friedensforschers Franz Jedlicka gestoßen, der anregt, dass sich die Gender Studies auch mit der Entstehung friedlicher Männlichkeiten befassen sollte - das sind wohl "caring masculinities". Vielleicht wollen Sie auch über dieses Thema einmal schreiben. LG Barbara