23. April 2019 Mechthild Nagel
Was bedeutet Sicherheit für alle? Seit den 1970er-Jahren machen sich Kriminolog_innen in Europa und Nordamerika Gedanken über radikale Gefängnisreformen. Die hohen Rückfallquoten bestätigen Kritiker_innen, dass das Absitzen einer Strafe nicht die erhoffte Resozialisierung bewirkt. Nils Christies Analyse war richtungsweisend für den Ansatz, dass das Gefängnis selbst das Problem und nicht die Lösung ist, um Sicherheit für Communities einzufordern. Weiterhin war Angela Davis' Analyse einer antikapitalischen und intersektionalen Systemkritik ausschlaggebend, eine globale Bewegung für die Abschaffung des Gefängnisapparats (prison industrial complex) ins Leben zu rufen. Aktivist_innen dieser Bewegung fordern nicht nur Reformstrategien, wie man beispielsweise die Gefängnisse erträglicher für gefangene Personen macht, sondern auch politische Maßnahmen, um die Abschaffung von Gefängnisstrafen einzuleiten. Weiterhin ist in Aktivist_innenkreisen penal abolitionism, d. h. sowohl Entknastung wie auch die Abschaffung von Polizei- und Justizstrukturen, ein wichtiger Teil der antirassistischen Gerechtigkeit.
Thematik des Transformativen Justice Kollektivs
Das Transformative Justice Kollektiv Berlin hat kürzlich ein wichtiges Toolkit als Sammelband zu der Debatte um Bestrafen und Sicherheit herausgegeben. Die Herausgeberin Melanie Brazzell von Was macht uns wirklich sicher? Ein Toolkit zu intersektionaler, transformativer Gerechtigkeit jenseits von Gefängnis und Polizei ist Mitgründerin des Transformativen Justice Kollektivs Berlin. Ihr Sammelband ist zusammengesetzt aus bahnbrechenden Beiträgen und praktischen Übungen von feministischen Gruppen und Akademiker_innen. Das Buch ist unterteilt in vier Bereiche: staatliche Gewalt (1), Verquickungen von staatlicher Gewalt und sexualisierter und Partner_innen-Gewalt (2), Strafrechtsfeminismus und Queere Straflust (3) und zuletzt Transformative Alternativen (4). Diesen Bereichen sind elf Übungsaufgaben zu den Themen Sicherheit, Gewalt, Ressourcen und Community-Arbeit untergliedert. Der Impuls für diese Systemkritik und kollektive Verantwortungsübernahme kommt aus abolitionistischen Kreisen in den USA, vor allem von Critical Resistance, deren Mitbegründerin Angela Davis ist, und von INCITE! Women of Color against Violence. Die Buchideen finden auch auf der Website von dem TJ Kollektiv ihren Ausdruck.
Wessen Abolitionismus?
In UN-Foren und Menschenrechtskonferenzen wird Abolitionismus in den Zusammenhang mit Sexarbeit gebracht, d. h., es wird für eine Abschaffung von Prostitution plädiert (Nagel 2015). In diesem Buch wird diese Version von Abolitionismus als carceral feminism – also als Strafrechtsfeminismus – kritisiert, weil mehr Bestrafung und eine Verschärfung der Kriminalisierung befürwortet wird. So kritisiert die Organisation Hydra das sogenannte „Prostituiertenschutzgesetz” als entmündigend und patriarchalisch, weil Sexarbeit_innen zur Meldepflicht gezwungen werden, einen Gesundheitsausweis tragen müssen, und diejenigen in die Illegalität treibt, die keinen gesicherten Aufenthalt haben. Entkriminalisierung kann nicht einhergehen mit repressiver Gesetzesreform. Obwohl der Gesetzestext geschlechtsneutral scheint, betrifft die Ideologie der Schutzbedürftigkeit eher Sexarbeiterinnen (in essentialistischer Weise) als Männer und Trans*Prostituierte, die auch erst gar nicht erwähnt werden (Brazzell 2018: 100ff.).
Kritik am carceral Feminismus
Ela Anders kritisiert die Debatte zur Sexualstrafrechtsreform von 2016, in welcher die Ereignisse der Kölner Silvesternacht rassistisch instrumentalisiert wurden. Die EU hatte schon 2011 das deutsche Strafrecht kritisiert, weil der Tatbestand der Vergewaltigung nur dann geltend gemacht werden könne, wenn sich das Opfer auch wehrt. Diese Auffassung rekurriert auf eine Ideologie der „Reinheit und Geschlechtsehre der Frau.” Kritik am carceral Feminismus geht einher mit einer Ablehnung der radikalen Forderung „Ja heißt Ja”, die sich auch nicht im Gesetz durchgesetzt hat. Allerdings wurde ein repressiver Paragraph verabschiedet, der Gruppenhandlungen strafbar macht und so den Regelungen zum Landesfriedensbruch entspricht. Dabei wird man schon verdächtigt, wenn man einer Gruppe zugerechnet wird – wie das auch der Fall in Köln war, wo Personen durch racial profilingins ins Visier gerieten (Nagel 2015). In ihrer Einleitung argumentiert dazu Brazzell: „Gewalt gegen Frauen wurde genutzt, um die Repressionen gegen People of Color zu rechtfertigen. Aber auch darüber hinaus sind beide Formen von Gewalt eng verknüpft” (Brazzell 2018: 13).
Queere Personen in den USA und auch zunehmend in Deutschland erhoffen sich von einer Gesetzgebung gegen hate crimes mehr Schutz gegen homofeindliche oder transphobische Attacken. Queere, antirassistische Systemkritik hält der Position des Strafrechtsfeminismus entgegen, dass Hasskriminalitätsgesetzgebung auf eine bestimmte homogenisierte Gruppe von schutzbedürftigen weißen queeren Bürgern zutrifft, die somit zu Kompliz_innen des strafenden Überwachungsstaats werden. Sie werden ausgespielt gegen People of Color, vor allem gegen muslimische junge Männer als Feindbild, die keinen Schutz von rassistischer Staatshoheit erwarten können (Brazzell 2018: 16f.).
Kritik an rassistischer Staatsgewalt
People of Color kritisieren das Verhalten der Polizei zweifach. Sie werden nicht als Opfer wahrgenommen, wenn z. B. rassistische Übergriffe gar nicht erst ins Polizeiprotokoll aufgenommen werden. Zweitens ist racial profiling zwar seit einem Gerichtsentscheid von 2012 juristisch verboten, allerdings werden bei Schleierfahndungen, sogenannten verdachts- und anlassunabhängigen Kontrollen, People of Color viel häufiger ins Visier genommen, kontrolliert und verhaftet als weiße Personen (Response n.d.). KOP (Kampagne für Opfer Rassistischer Polizeigewalt) berichtet, dass sogar Verfahren gegen Betroffene oder Zeugen rassistischer Polizeigewalt eingeleitet werden, weil sie sich an Presse und Beratungsstellen gewandt haben oder selbst antirassistisches Engagement zeigen und dadurch vor Gericht unglaubwürdig sind. Das bedeutet, Opfer und Zeugen von Polizeigewalt werden kriminalisiert (Brazell 2018: 34ff.). In den folgenden Kapiteln und Übungen wird die Verquickung von Staatsgewalt, diskriminierenden Gesetzen und sexualisierter Gewalt konkretisiert. Women in Exile, LesMigraS (Antidiskriminierungs- und Antigewaltbereich der Lesbenberatung Berlin) und Tine McCaskill vom TJ Kollektiv beschreiben die verschiedenen Ebenen von Gewaltausübung und möglichen Interventionen gegen Gewalt. Besonders anschaulich sind ein Schaubild und Szenarien in dem Segment Verquickungen zwischenmenschlicher und staatlicher Gewalt für geflüchtete Trans- und queere Personen sowie Frauen auf den Seiten 61f.
Alternativen zu Polizei und Gefängnissen
Am Beispiel von Copwatch Frankfurt zeigt Daniel Loick auf, wie man sich gegen Polizeiwillkür wehren kann. Das Motto ist: We look out for each other. Es bedeutet, dass Communities of Color aufeinander angewiesen sind und auch sich vor Staatsgewalt schützen müssen und können. Diese Strategien werden in dem Sammelband jedoch (bis auf Literaturhinweise zu Organisationen wie Copwatch, Rote Hilfe und der Kampagne Stoppt Racial Profiling) nicht konkret thematisiert. Loick schreibt allerdings, dass es seit 2015 möglich ist, die Polizei bei Kontrollen aufzunehmen und zu fotografieren (Brazell 2018: 116). Dem ist entgegenzusetzen, dass Tonaufnahmen rechtswidrig sind und man sich mit einer solchen medialen Beweisführung der Gefahr aussetzt, verhaftet zu werden. Die letzte Übungsaufgabe des Sammelbandes benennt Fragen der Präventionsarbeit. Hier wäre es hilfreich, auf die Safe OUTside the System Kollektive New York hinzuweisen, die auch einen Toolkit für Prävention und Intervention herausgegeben haben. Ihm kann man entnehmen, wie man Staatsgewalt und -repression effektiv entgegenwirken kann.
Das Konzept „Sicherheit” positiv besetzen
Das Buch Was macht uns wirklich sicher? ist richtungsweisend, indem es die Stimmen von marginalisierten Menschen in Deutschland hörbar macht. Brazzell gelingt es nicht nur, Kritik am heutigen System zu üben, sondern auch anhand von Übungen auf communitybasierte und transformative Lösungen hinzuweisen. Daher eignet sich das Buch auch hervorragend für Gender und Diversity Studies und Workshops. Sicherheit ist hier kein politisches Schlagwort, sondern eine ernstzunehmende Forderung, gerade für queere People of Color. In der Hinsicht ist es hilfreich, dass sich in mehreren Kapiteln mit Staatsgewalt und community accountability befasst wird. Dieser Sammelband ist von großer Bedeutung für alle, die sich Gedanken machen, wie man das Konzept Sicherheit positiv besetzen kann, nämlich durch (self)care, solidarische Handlungen und durch „den Aufbau von sozialen Beziehungen in Zeiten der Care-Krise, sowohl als Teil als auch als Methode gegen Gewalt” (Brazzell 2018: 19). Dies ist den Autor_innen gelungen und es ist zu hoffen, dass dieses Buch die Debatte zur Abschaffung des Gefängnisses, angeregt von Thomas Gallis Bestseller (Galli 2016, 2017), noch nuanciert bereichert.
Literatur
Brazzell, Melanie (2018). Was macht uns wirklich sicher? Ein Toolkit zu intersektionaler, transformativer Gerechtigkeit jenseits von Gefängnis und Polizei. Münster: edition assemblage.
Christie, Nils (1977). Conflicts as Property. British Journal of Criminology 17(1). Zugriff am 6.4.2019 unter https://criminologiacabana.files.wordpress.com/2015/10/nils-christie-conflicts-as-property.pdf.
Davis, Angela (2003). Are Prisons Obsolete? New York: Seven Stories Press.
Galli, Thomas (2016). Die Schwere der Schuld: Ein Gefängnisdirektor erzählt. Berlin: Das Neue Berlin.
Galli, Thomas (2017). Die Gefährlichkeit des Täters. Berlin: Das Neue Berlin.
Nagel, Mechthild (2015). Trafficking with Abolitionism. An examination of anti-slavery discourses. Champ Pénal/Penal Field, 12: (o. S.). DOI: 10.4000/champpenal.9141
Zitation: Mechthild Nagel : Sicherheit statt Strafe, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 23.04.2019, www.gender-blog.de/beitrag/sicherheit-statt-strafe/
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Kommentare
Daniel | 25.04.2019
Vielen Dank für die schöne Rezension! Ein kleiner Hinweis: Tonaufnahmen von Polizeieinsätzen sind nur dann rechtswidrig, wenn es um das nicht-öffentlich gesprochenene Wort geht. Von Szenen in der Öffentlichkeit dürfen auch Tonaufnahmen gemacht werden.