10. September 2024 Hanna Völkle Uta C. Schmidt
Ökonomie und Geschichte haben beide etwas mit Zeit zu tun. Die Historikerin Uta C. Schmidt sprach mit der Politökonomin Hanna Völkle über diesen Zusammenhang im Horizont feministischer Perspektiven in der Ökonomie. Kennengelernt haben sich beide auf der Jahrestagung des Netzwerks Frauen- und Geschlechterforschung NRW.
Was ist eine feministische Perspektive in der Ökonomie?
Sie stellt die einfache, gleichwohl zentrale Frage: Was braucht es, bevor Wirtschaften im Sinne des industriellen marktvermittelten Wirtschaftens überhaupt möglich ist? Es ist eine Perspektive, die auf eine lange Tradition zurückblicken kann: In den 1980er Jahren haben Maria Mies, Claudia Werlhof und Veronika Bennholdt-Thomson in Bielefeld bereits über Suffizienz und Subsistenz nachgedacht (vgl. Mies/ Werlhof/ Bennholdt-Thomson 1988). Maria Mies hat für diese erweiterte Vorstellung des Wirtschaftens ein starkes Bild gefunden: das Bild vom Eisberg (vgl. Mies/ Shiva 1995). An der Spitze des Eisbergs findet all das statt, was wir zum Beispiel im Wirtschaftsteil der Zeitung lesen, da werden dann Unternehmensdaten, Immobilienblasen, Gewinne und Verluste besprochen. Die Wissenschaftlerinnen in Bielefeld haben nun im Sinne dieses Eisberg-Bildes den Blick darauf gerichtet, was denn alles unterhalb der Wasseroberfläche als Wirtschaftshandeln passiert und zum Eisberg mit dazugehört. Das sind dann auf der einen Seite Sorgetätigkeiten, die noch immer zumeist von Frauen geleistet werden, Tätigkeiten der Reproduktion könnte man sie auch nennen. Auf der anderen Seite sind es ökologische Ressourcen, auf die das marktvermittelte Wirtschaften zurückgreift: sauberes Wasser, saubere Luft, Rohstoffe, Boden, auf dem Fabriken gebaut und Müllhalden aufgetürmt werden. Das macht das Volumen des Eisbergs aus, aber es wird nicht gesehen.
Es geht um einen Ansatz, der Produktion und Reproduktion zusammendenkt?
Es geht auch um Konzepte des vorsorgenden Wirtschaftens, wie sie die Wissenschaftlerinnen des in den 1990er-Jahren gegründeten Netzwerks Vorsorgendes Wirtschaften verfolgen. Sie haben das Vorsorgen in ihrer ganzheitlichen Betrachtung des Wirtschaftens stark gemacht und dieses ebenfalls aus der Unsichtbarkeit geholt. Da verorte auch ich mich.
Was ist das spezifisch Feministische in diesem Konzept von Ökonomie?
Die feministische Perspektive schärft den Blick für den Zusammenhang zwischen Geschlechterverhältnissen auf der einen und ökonomischen Ungleichheiten auf der anderen Seite. Sie stellt die Grenzziehungen zwischen Produktivität, Reproduktivität, Sichtbarkeit, Unsichtbarkeit, Wertigkeit und Abwertung, zwischen öffentlich und privat und die Durchdringung mit der Geschlechterordnung infrage.
Es gibt so etwas wie Haushalten mit der Geschlechterordnung?
Ein eindrückliches Beispiel: Wir haben einen berufstätigen Junggesellen. Er engagiert sozialversicherungspflichtig beschäftigt eine Haushälterin. Dann zahlen beide auf die nationale Wertschöpfung ein. Nun heiraten sie. Hört die Frau ganz auf zu arbeiten als sozialversicherungspflichtige Reinigungskraft oder als Haushälterin, macht aber dieselbe Arbeit weiter, dann ist dies im traditionellen ökonomischen Sinne keine Wertschöpfung mehr. Hier verändert sich die Arbeit in keinster Weise, nur die Zuordnungsstrukturen legen fest, was als wertschöpfend gilt.
Kapitalismus und Patriarchat spielen sich da ganz wunderbar die Karten zu und sorgen in ihrem Sinne für den Erhalt des Systems. Müssen wir nicht auch über das Wachtumsparadigma sprechen?
Es ist für das Funktionieren des Wirtschaftssystems zentral, dass das, was unsichtbar unter der Wasseroberfläche wirkt, weiterhin unbezahlt bleibt. Ansonsten wäre dieses Höher-Schneller-Weiter, so, wie wir es betreiben, gar nicht möglich. Wir stoßen ja zudem an ökologische Grenzen: Es gibt nur ein begrenztes Maß an sauberem Trinkwasser, an sauberer Luft, an Rohstoffen. Es wird nicht mehr lange möglich sein, in einer derartigen Steigerungslogik zu wirtschaften, wenn wir nicht umdenken im Sinne der feministischen Ökonomie, dass auch soziale wie ökologische Reproduktionsprozesse eine Wertigkeit und damit eine Bedeutung für uns als Gesellschaft haben.
Was eröffnet uns die ökologische Dimension innerhalb des Konzepts der feministischen Ökonomik?
Wirtschaften hat immer auch eine körperliche Komponente, es braucht Menschen, die genau diese – bezahlte wie unbezahlte – Arbeit tun. Es zeigt sich dann, dass Wirtschaften in einem bestimmten sozio-historischen umweltlichen wie gesellschaftlichen Kontext stattfindet. Wirtschaften ist verortbar. Dieser Aspekt wird gestärkt, wenn wir die ökologische Dimension einbeziehen. Im Englischen haben wir die Formulierung ‘embedded’, um diese eingebettete, körperliche, raumbezogene, ökologische Komponente zu betonen.
Du beschäftigst Dich ja konkret mit der feministisch-ökologischen Ökonomie von Zeit, welche Bedeutung spielt die Zeit in der umweltlichen Bezogenheit des Wirtschaftens?
Über die Dimension der Zeit lassen sich soziale wie ökologische Reproduktionsprozesse hinter dem marktvermittelten Wirtschaften sichtbar machen. Welche Körper sind in welchen zeitlich-räumlichen Infrastrukturen wie involviert, sodass der Laden so läuft, wie er gerade läuft. Mich interessieren daran sowohl die individuellen wie auch die kollektiven Zeitlichkeiten. So lassen sich über die Fokussierung auf Zeit Arbeitszeiten, Kinderbetreuung, Pflegeaufgaben und Freizeit miteinander in Beziehung setzen. Wenn z. B. Angebote nicht wohnortnah sind, haben die Menschen kaum Zugriff darauf, wenn der Weg zu weit ist und es zu lange dauert. So hängen ganz basal Zeit und Raum im Hinblick auf Reproduktionsprozesse zusammen. Dann kommt die spezielle Ökonomie der Zeit ins Spiel.
Es gibt ja die sogenannten Zeitverwendungserhebungen …
Alle zehn Jahre werden europaweit Menschen befragt, wie sie ihre Zeit verbringen. Wer kann wie viel Zeit anhäufen, diese dann für was ausgeben und was hat dieses Haushalten mit der Geschlechterordnung zu tun? Zeit ist hier nicht nur Uhrenzeit, sondern sie hat auch qualitative Komponenten. In welchen Rhythmen sind wir wo unterwegs? Es macht einen Unterschied, ob wir tags oder nachts arbeiten, biologisch aber auch sozial. Es gibt Arbeiten, die lassen sich nicht verdichten – zum Beispiel das Vorlesen einer Gutenachtgeschichte. Wenn ich mir die aktuelle Zeitverwendungsstudie 2022 anschaue, sind die Zeitvolumen, die Männer und Frauen für Erwerbs- und Sorgearbeit angeben, immer noch ungleich verteilt. Außerdem fällt auf, dass die individuell gestaltbare Zeit von Frauen, die aktuell noch immer zumeist für nasse Tätigkeiten, Haushalt, Kinderbetreuungen, Besorgungen verantwortlich sind, weniger und häufig fragmentierter ist. Das heißt, es gibt zwar rechnerisch eine Stunde Freizeit, doch ist sie – hier nur als Beispiel genannt – in vielleicht sechs mal zehn Minuten aufgeteilt und kaum planbar als eigene Zeit im Sinne einer Zeitsouveränität. Eine Stunde Uhrenzeit ist eben nicht eine Stunde.
In der feministisch-ökologischen Perspektive auf Ökonomik wird auch von Timescapes als analytisches Konzept gesprochen. Was ist damit gemeint?
Wirtschaften als Zeitverwendung braucht immer auch eine Kontextualisierung im Sinne der räumlichen Verortung eines Zeitpunkts von Wirtschaften. Es geht wie in der Betrachtung einer Landschaft um die Verknüpfungen von Zeit, Raum und Gesellschaft. Wir haben über individuelle und kollektive Zeitlichkeiten gesprochen. Nun gibt es hinsichtlich der Zeitdimensionen auch noch die Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Es gibt immer etwas, was vor unserem Wirtschaften da war. Und wie wir aktuell wirtschaften, zeitigt Konsequenzen für die Zukunft. Das sprechen ja Bewegungen wie Fridays for Future oder die Letzte Generation an. Das Konzept der Timescapes von Barbara Adam erinnert uns daran, dass die Auswirkungen unseres Wirtschaftens – unseres Lebens – globale Auswirkungen haben (vgl. Adam 1998). Wenn wir hier grünes Wachstum feiern, wo wird denn der Rohstoff dafür abgebaut? Was passiert mit der Landschaft, mit den Communities, mit den Menschen, die dort leben? Wir sprechen in diesem Zusammenhang auch von ‘langsamer Gewalt’. Das Timescapes-Konzept bringt alles, was die Beschleunigung im Sinne unseres hegemonialen Wachstumsparadigmas zeitigt, zusammen. Es gibt nicht nur planetare Grenzen, sondern auch sozialverträgliche Grenzen, wenn wir nicht bei uns aufhören, Gerechtigkeit ernst zu nehmen und anzuerkennen.
Zur Erforschung dieser komplexen raum-zeitlich-historisch-gesellschaftlichen Zusammenhänge arbeitest du mit dem Konzept der ‚sorgenden Zeiten‘. Bitte erkläre, was diese sorgenden Zeiten sind.
Der Begriff umfasst die individuellen wie die kollektiven Zeitlichkeiten. Zeitlichkeiten meint dabei zeitliche Bedarfe von sozialen und ökologischen Reproduktionsprozessen. Ich nutze den Begriff der sorgenden Zeiten (Völkle 2022), weil er für mich zweierlei verbindet – zum einen die sozialen und ökologischen Reproduktionsprozesse, denen immer sorgende Komponenten innewohnen, und zum anderen schlägt er den Bogen hin zu individuellen und kollektiven Zeitlichkeiten. Die Zeitbedarfe, die Individuen mit ihren subjektiven Körpern für Wirtschaften benötigen und nachfragen, sind immer eingebettet in ein größeres Ganzes, das selbst wieder zeitlichen und räumlichen Aspekten folgt.
Literatur
Adam, Barbara (1998), Timescapes of modernity: the environment and invisible hazards, London/ New York: Routledge.
Mies, Marie/ Bennholdt-Thomsen, Veronika/ Werlhof, Caudia von (1988), Frauen, die letzte Kolonie. Zur Hausfrauisierung der Arbeit. Rowohl: Reinbek bei Hamburg.
Mies, Maria/ Vandana, Shiva (1995), Ökofeminismus: Beiträge zur Praxis und Theorie, Zürich: Rotpunkt-Verlag.
Völkle, Hanna (2022), Sorgende Zeiten: Ansätze feministisch-ökologischer Zeitökonomie, in Knobloch, Ulrike/ Theobald, Hildegard/ Dengler, Corinna/Kleinert, Ann-Christin/ Gnadt, Christopher/ Lehner, Heidi, Caring Societies – Sorgende Gesellschaften, Weinheim: Beltz Juventa.
Zitation: Hanna Völkle im Interview mit Uta C. Schmidt: Sorgende Zeiten: über feministische Perspektiven in der Ökonomie, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 10.09.2024, www.gender-blog.de/beitrag/sorgende-zeiten/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20240910
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