28. Mai 2024 Rita Schäfer
Südafrika gilt weltweit als Vorbild für Frauenrechte und Gender-Politik. Die Lebensrealität Schwarzer Frauen ist aber 30 Jahre nach dem Ende des Apartheidregimes noch weit von den verbrieften Rechten entfernt – Anlass für eine Rückschau auf die frühere Siedlerkolonie, die von interdependenten race-, Class- und Gender-Hierarchien geprägt war und deren weiße Minderheitenregierung über Jahrhunderte auf Sklaverei, Eroberungskriege und Militarismus aufbaute.
Das Ende des Apartheidstaats
Ende 1994 fanden die ersten demokratischen Wahlen in Südafrika statt, erstmals durften Erwachsene unabhängig von Hautfarbe und Geschlecht wählen (Marx 2016). Im Apartheidstaat war das Wählen des Parlaments ein Privileg weißer Frauen und Männer. Während der Kolonialzeit beschränkte sich das Zensuswahlrecht auf weiße Männer und wenige männliche coloured Honorationen. Coloured Frauen und Frauen indischer Herkunft waren bis 1986 rechtlich unmündig, Schwarze Frauen erhielten erst 1994 ihre Mündigkeit; alle nichtweißen Frauen konnten in dem Jahr erstmals zu den Wahlurnen schreiten.
Die nach freien und fairen Wahlen demokratisch legitimierte Regierung des African National Congress (ANC) unter Präsident Nelson Mandela wollte einen Schlußstrich unter Rechtlosigkeit, Diskriminierung und mangelnde politische Repräsentanz ziehen.
Frauen gegen Apartheid
Während der Apartheid (1948–1994) war lange Zeit nur eine einzige Frau im Parlament vertreten: Die Wirtschaftswissenschaftlerin Helen Suzman von der kleinen liberalen Oppositionspartei Progressive Federal Party (Shain 2009). Sie kritisierte die Apartheidregierung, von der sie als Frau und Jüdin diffamiert wurde. Ihre Eltern waren vor Pogromen aus Litauen nach Südafrika geflohen. Da Suzman die Rechtlosigkeit Schwarzer Frauen anprangerte und sich für politische Gefangene einsetzte, etwa für Nelson Mandela und dessen unter Bann stehender Ehefrau Winnie, wurde sie zeitweilig inhaftiert (Hassim 2018).
Weiße Regimegegnerinnen – eine Minderheit in der weißen Gesellschaft – waren zum großen Teil Intellektuelle jüdischer Herkunft. Dazu zählte die Journalistin und Sozialwissenschaftlerin Ruth First, die in ihrem Universitätsbüro von einer Briefbombe zerfetzt wurde (Shain & Pimstone 2009). Ihre Publikationen thematisierten die extreme Ausbeutung von Schwarzen Minen- und Farmarbeiter*innen und die Proteste Schwarzer Frauen, bis Killer aus dem staatlichen Sicherheitsapparat ihr das mörderische Päckchen schickten. Zuvor war sie wegen Hochverrats angeklagt und zeitweise inhaftiert worden. Sie hatte an der Erarbeitung der Freiheitscharta 1955 mitgewirkt, die Rechte aller Südafrikaner*innen auf Gesundheit, Wasser und Bildung beinhaltete und später eine Grundlage für die neue Verfassung von 1996 bot (Williams 2019).
Größter Protest gegen rassistisches Regime
Auch die Soziologin Fatima Meer, deren Mutter eine später zum Islam konvertierte, jüdische Waise aus Portugal und deren Vater ein muslimischer Immigrant aus Indien war, hatte Mitte der 1950er-Jahre dafür gesorgt, grundlegende Frauenrechte in die Konzeption eines nichtrassistischen Südafrika zu integrieren. Meer zählte zum Vorstand der Federation of South African Women (FSAW) und der African Black Women’s Federation, die Black als politischen Begriff verstanden – als Selbstbezeichnung jenseits der oft willkürlichen Hautfarbenzuschreibungen des Apartheidstaats. Sie wurde mehrfach inhaftiert, zeitweilig kam sie in Einzelhaft.
Couragierte Regimegegner*innen, allen voran die Gewerkschaftlerin und FSAW-Vorsitzende Lilian Ngoyi organisierten die größte Massendemonstration gegen die repressive Regierung: Am 9. August 1956 zogen über 20.000 zumeist Schwarze Frauen vor den Regierungssitz in Pretoria und forderten die Abschaffung von „Pässen“ (Akpan 2015). Diese beschränkten den Zugang zu Städten: Wenn sich Schwarze Frauen, die in periphere „Homelands“ zwangsumgesiedelt worden waren, ohne Arbeitsvertrag in einer Stadt aufhielten, konnten sie inhaftiert werden. Während der Apartheid betraf das mehrere Millionen Menschen (Hovey 1983). Lilian Ngoyi wurde wegen ihrer als Hochverrat eingestuften Regimekritik zu Isolationshaft verurteilt. Die meisten Schwarzen Frauen waren mit Zeitverträgen als Hausangestellte für weiße Frauen tätig. Ihre prekäre Arbeitssituation war von persönlicher Abhängigkeit und sehr geringem Verdienst geprägt. Diese Mehrfachdiskriminierung auf der Basis von race, Class und Gender nutzten weiße Frauen zum Erhalt ihrer Privilegien, nur wenige kritisierten die Ungleichheiten aus feministischer und antirassistischer Überzeugung.
Rechtsreformen
Anfang der 1990er-Jahre bildeten Regimegegner*innen unterschiedlicher Herkunft die Women’s National Coalition, sie sammelten gemeinsam mit basisnahen Frauenorganisationen landesweit Vorschläge für rechtliche und politische Reformen (Meintjes 2012). Dazu zählten Neuerungen im Erb- und Unterhaltsrecht, Recht auf legalen Schwangerschaftsabbruch, Gesetze gegen Vergewaltigung und häusliche Gewalt, Mutterschutz und Mindestlohn, politische Partizipation und Repräsentanz. Gender-Expert*innen forderten Gender Mainstreaming in Ministerien und staatlichen Institutionen, Gender Budgeting und die Gründung einer Gender-Kommission.
Die meisten Forderungen wurden von der ANC-Regierung unter Präsident Nelson Mandela in Gesetzesnovellen und politischen Leitlinien berücksichtigt. Damit erteilten die Regierenden traditionellen Autoritäten eine Absage, die über Jahrzehnte mit dem Apartheidregime kollaboriert hatten und nun weiterhin ihre Kontrolle über Schwarze Frauen auf dem Land beanspruchten, indem sie diesen die Rechtsmündigkeit verweigern wollten.
Von frauenfeindlichen Kirchenvertretern, die gegen das Abtreibungsrecht eiferten, ließ sich die ANC-Regierung ebenfalls nicht einschüchtern. Auch Interessenvertretungen sexueller Minderheiten konnten ihre Forderungen nach rechtlicher Gleichheit und Entkrimininalisierung von Homosexualität durchsetzen (Pushparagavan 2014).
Politische Repräsentanz und Wahlbeteiligung
Neben Rechtsreformen verbuchte die ANC-Regierung einen deutlichen Anstieg der politischen Repräsentanz von Frauen im Parlament (Myeni 2014). Da der ANC ein Quotensystem hat, gingen 2019 51 % seiner Parlamentssitze an Frauen. Insgesamt betrug der Frauenanteil im Parlament 46 %. 1994 waren es 27,7 %. Die Hälfte aller Ministerien werden seit 2019 von Frauen geleitet, dazu zählen die Ressorts für Außenpolitik und Verteidigung; 1994 führten Frauen 15 % aller Ministerien.
2019 waren 55,24 % aller Wahlbeteiligten Frauen. Allerdings blieben etliche junge Wahlberechtigte den Urnen fern, weil sie die Gender-Programmatik der größten Parteien (Commission for Gender Equality 2019) nicht überzeugte (Rama & Morna 2019). Sie zweifelten am politischen Willen, Armut und Arbeitslosigkeit zu überwinden und die Untätigkeit von Polizei und Justiz angesichts der grassierenden Gewalt zu beenden.
Geschlechtsbasierte Gewalt
Südafrikanische feministische Aktivist*innen hatten erwartet, dass mit dem Ende der Apartheid die geschlechtsbasierte Gewalt überwunden sein würde. Denn sie machten den militarisierten Apartheidstaat für sexistische Maskulinitätsprägungen verantwortlich. Doch während der Wahrheits- und Versöhnungskommission (TRC) wurden Vergewaltigungen in dessen Auftrag nicht als Strukturproblem behandelt. Vergewaltiger und deren Auftraggeber blieben im Verborgenen.
Polizei und Justiz wurden nach 1994 nur partiell reformiert (Scanlon 2023). Zwar listen die Kriminalstatistiken etwa 50.000 Vergewaltigungen jährlich auf. Aber nur ein Bruchteil der Anzeigen wird polizeilich so dokumentiert, dass die Strafverfolgung der Täter darauf aufbauen kann. Deshalb bleiben die meisten Vergewaltiger straffrei. Mit einem Freispruch endete auch der Vergewaltigungsprozeß 2006 gegen Jacob Zuma (Hassim 2017). Er war von einer Schwarzen HIV-positiven Lesbe angezeigt worden (Msimang 2018). Der alte weiße Richter entschied, Zuma hätte gemäß der Zulu-Männlichkeitsvorstellungen gehandelt. Zuma war 2009 bis 2018 Präsident Südafrikas. Er geriet u. a. wegen der Marginalisierung der Gender-Politik und der Banalisierung von HIV-Infektionen in die Kritik.
Frauenprotest und Reaktionen aus der Politik
Sein Vorgänger Präsident Thabo Mbeki (1999–2008) hatte den Zusammenhang von HIV und AIDS geleugnet, die Vergabe antiretrovialer Medikamente eingeschränkt und damit Gesundheit und Leben von HIV-infizierten Schwangeren und Babys aufs Spiel gesetzt (Mbali 2005; Nattrass 2005). Zudem zweifelte Mbeki die polizeilichen Vergewaltigungszahlen an, für ihn war deren Höhe ein nationales Imageproblem (Human Rights Watch 2001).
Der derzeitige Präsident Cyril Ramaphosa ließ in Reaktion auf einen landesweiten Frauenprotest (Total Shutdown (UN Women 2018)) wegen dramatischer Vergewaltigungs- und Mordfälle Anfang August 2018 einen nationalen Strategieplan gegen geschlechtsbasierte Gewalt und Femizide erarbeiten (Republic of South Africa 2020). Inzwischen wurden Gesetze zur Strafverfolgung ergänzt; auch gegen homophobe Hassgewalt soll energischer vorgegangen werden (South African Government News Agency 2023). Die Teilnehmenden am Total Shutdown, die auf die große Demonstration für Frauenrechte 1956 Bezug nahmen, könnten das als Erfolg verbuchen. Jedoch bleiben sexualisierte Gewalt und mangelnde Strafverfolgung der Täter weiterhin Strukturprobleme, die insbesondere junge Wählerinnen im Vorfeld der Wahlen Ende Mai 2024 betreffen (Gouws 2022). Deren Relevanz für das Wahlverhalten werden südafrikanische Politolog*innen beobachten.
Anmerkung der Redaktion
Auch interessant zum Thema ist das Interview mit der Aktivist*in Matlhogonolo Samsam: Sichtbarkeit lesbischer Menschenrechtsarbeit: Lesbian Visibility Day in Botswana.
Literatur
Akpan, Idara (2015): The 1956 Women’s March in Pretoria. Zugriff am 24.05.2024 unter https://www.sahistory.org.za/article/1956-womens-march-pretoria.
Commission for Gender Equality (2019): Elections and Gender Mainstreaming: Assessing gender issues and women's representation in South Africa's 2019 election. Zugriff am 24.05.2024 unter https://cge.org.za/wp-content/uploads/2021/01/elections-and-gender-mainstreaming-2019.pdf.
Gouws, Amanda (2022): Rape is endemic in South Africa. Why the ANC government keeps missing the mark. Zugriff am 24.05.2024 unter https://theconversation.com/rape-is-endemic-in-south-africa-why-the-anc-government-keeps-missing-the-mark-188235.
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Hassim, Shireen (2018): Winnie Madikizela-Mandela: Revolutionary who kept the Spirit of Resistance alive by Shireen Hassim (The Conversation), 3 April 2018. Zugriff am 24.05.2024 unter https://www.sahistory.org.za/archive/winnie-madikizela-mandela-revolutionary-who-kept-spirit-resistance-alive-shireen-hassim.
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Zitation: Rita Schäfer: 30 Jahre Demokratie – Gender-Perspektiven auf Politik und Rechtsreformen in Südafrika, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 28.05.2024, www.gender-blog.de/beitrag/suedafrika-30-jahre-demokratie/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20240528
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