17. Juni 2025 Miriam Bredemann
Die (Arbeits-)Welt ist heute unverkennbar von Diversität geprägt und in Arbeitskontexten sind der Mehrwert und die Wettbewerbsvorteile, die vielfältige Perspektiven und Fähigkeiten in Organisationen bieten können, unumstritten. Doch ebenso klar ist das Potenzial für strukturelle Benachteiligungen und Diskriminierung, denen viele Menschen aufgrund tatsächlicher oder zugeschriebener Merkmale ausgesetzt sind (Antidiskriminierungsstelle des Bundes, 2022; BMFSFJ, 2021; Destatis, 2023; Franzen & Sauer, 2010). Dies hat weitreichende Auswirkungen auf viele Bereiche, einschließlich der Supervision als arbeitsbezogene Beratung. Diversitätsreflexive und diskriminierungskritische Perspektiven werden in der deutschsprachigen supervisorischen Forschung und Praxis jedoch nicht als Querschnittsaufgabe berücksichtigt (u. a. Bredemann, 2023; Petzold et al., 2003; Schigl et al., 2020) und die Supervision bleibt infolgedessen oft hinter den Anforderungen einer pluralen Gesellschaft zurück.
Supervision als White Space
Ein Blick auf die historische Entwicklung der Supervision offenbart ihre historischen Wurzeln in westlich geprägten, weißen, akademischen und psychoanalytischen Traditionen. Die Konzepte der Supervision haben sich vorwiegend aus klinischen Wissenssystemen entwickelt, sie sind in ihrem Anspruch oft normativ und gleichzeitig universalisierend, was bedeutet, dass sie nicht ohne Weiteres auf andere kulturelle Kontexte anwendbar sind (Bredemann, 2023).
Eine Studie zum ältesten und größten Berufs- und Fachverband für Supervision und Coaching in Deutschland, der „Deutschen Gesellschaft für Supervision und Coaching e.V. (DGSv)“, zeigt, dass deren Mitglieder überwiegend weiß, weiblich, über 50 Jahre alt, christlich, ohne Migrationsgeschichte und in der Erstqualifizierung in dem Bereich der Pädagogik und der Sozialen Arbeit verortet sind. Die Autorinnen stellen fest, dass eine „monokulturelle Supervision“ (Gröning et al., 2019) in einer interkulturellen Arbeitswelt keine Antwort bieten kann. Es fehlt in der supervisorischen Community als White Space an Diversität, wozu auch reduzierte Theorie- und Methodenvielfalt zu rechnen sind. Implizite Annahmen und Blind Spots gegenüber diversitäts- und diskriminierungssensiblen Themen können sich so leichter einschleichen. Privilegierungen der Supervisor*innen können so unreflektiert bleiben und die Anliegen und Realitäten der Supervisand*innen unbewusst bagatellisiert werden.
Ausblendung und De-Thematisierung
In meiner Forschungsarbeit zur Genderdimension in der Supervision (Bredemann, 2023) habe ich u. a. Geschlechteranalysen und geschlechtsbezogene Ungleichheiten im Diskurs der Supervision (im Zeitraum von 1979–2021) untersucht. Das soziale Milieu der Supervision erweist sich als strukturelle Barriere, die einen stärkeren Einbezug der Genderdimension behindert. Im vorwiegend bürgerlich und kirchlich geprägten Milieu finden Aspekte wie Fürsorge, Mütterlichkeit und Merkmale sozialer Ungleichheit der weiblichen Berufsfelder zwar Beachtung, werden aber in der Praxis in ihrer geschlechtsbezogenen Bedeutung ausgeblendet. Auch die Frage der Geschlechtergerechtigkeit wird oft weitgehend de-thematisiert.
Supervision kann zudem als Aufstiegsprojekt verstanden werden (Olk, 1986). Weiterzubildende der Supervision gehören häufig zur Gruppe der sozialen Aufsteiger*innen bzw. der Ambitionierten. Mit dem sozialen Aufstieg geht eine habituelle Transformation der eigenen Wahrnehmung und Haltung, des Denkens und der Sprache einher (Bourdieu, 1987). Diese Transformation ist notwendig, um möglichst erfolgreich im neuen Feld agieren zu können. Es geht darum, als zugehörig zu gelten und sich als zugehörig zu empfinden. Damit verbunden ist eine deutliche Abgrenzung vom ehemaligen und eine möglichst passende Performance im neuen Umfeld. Mögliche Gefühle der Scham über eigene habituelle Prägungen werden vielfach verborgen – auch vor sich selbst.
Wie kann Supervision diversitätsreflexiver und diskriminierungssensibler werden?
Aufgrund solcher geschlechts- und diversitätsbezogenen Ausblendungen und De-Thematisierungen läuft Supervision Gefahr, selbst ungewollt Ausschlüsse und Hierarchien zu reproduzieren. Für die Supervisionsweiterbildung ist die ausreichende Berücksichtigung diversitätsreflexiver und diskriminierungskritischer Perspektiven daher besonders relevant.
Angela Kornau (2025) entwickelt bspw. auf Grundlage ihrer systematischen Analyse des englischsprachigen Fachdiskurses zum Thema Diversity Coaching einen konzeptionellen Orientierungsrahmen für ein diversitätssensibles Coaching und macht Vorschläge, wie Coaches an diversitätsbezogene Anliegen herangehen können. Kornaus Ideen können auf den supervisorischen Kontext übertragen werden. Ihr Orientierungsrahmen folgt sowohl einem identitätsbewussten als auch einem strukturbewussten Ansatz. Identitäts- oder Diversitätsmerkmale der Supervisand*innen selbst oder der Menschen aus dem Umfeld (Klientele der Supervisand*innen) werden in den Fokus des Gesprächs gerückt, anstatt positivistische Zuordnungen vorzunehmen. So kann ein Reflexionsraum eröffnet werden, der es erlaubt, die Auswirkungen und die Bedeutung verschiedener Erfahrungen für die aktuelle Lebenssituation zu erkunden (Kornau, 2025; Hanses, 2007).
Mit Bezugnahme auf Loreen Hennemanns (2024) Forschung zum Zusammenhang von Coaching und Diskriminierung regt Kornau dazu an, Diskriminierung als Kontextfaktor in der arbeitsbezogenen Beratung zu berücksichtigen und als beratende Person auch strukturelle Ungleichheiten zu adressieren. Negative Erfahrungen wie rassistische Diskriminierung seien als solche klar zu benennen, um wirkungsvolle Veränderungen beim Individuum und in der Gesellschaft zu erreichen. Auf diese Weise werde ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass Probleme oft weniger dem Individuum, sondern vielmehr den strukturellen Rahmenbedingungen zuzuschreiben sind (Kornau 2025). So kann ein kollektives Problemverständnis im Rahmen von Supervision gefördert und Individuen können dazu ermutigt werden, auf strukturelle Missstände hinzuweisen.
Habitusreflexivität als ergänzende Perspektive
Ergänzend zu diesem Orientierungsrahmen schlage ich Habitusreflexivität als Perspektive im Umgang mit gesellschaftlicher Vielfalt vor. Damit beziehe ich mich auf das soziologische Konzept des Habitus von Pierre Bourdieu (1987, 1993). Der Habitus umfasst Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster, die Menschen durch ihre soziale Herkunft, Bildung und Lebenserfahrung verinnerlichen. Tragende Säulen des Habitus sind Ethnie, soziale Herkunft bzw. Milieu und Geschlecht. Diese Prägungen beeinflussen, wie Menschen kommunizieren, auftreten, entscheiden – auch in professionellen Rollen. Habitusreflexivität richtet die Aufmerksamkeit auf genau diese verinnerlichten sozialen Prägungen. Unbewusste Bewertungen, strukturelle und Selbst-Ausschlüsse sowie Hierarchien, die nicht immer mit offensichtlicher Diskriminierung zu tun haben, können so erkannt werden. Damit wird die supervisorische Perspektive um eine soziale Tiefenschärfe erweitert.
Mehr Diversitätskompetenz
Supervision steht zunehmend in der Verantwortung, sich zu Fragen von (Un‑)Gleichbehandlung zu positionieren. Dies nicht in einer oberflächlichen, performativen Weise, sondern mittels eines tiefergehenden Hinterfragens und einer Dekonstruktion von Machtstrukturen. Deshalb ist es unverzichtbar, dass Supervisor*innen bereits in der Weiterbildung eine fundierte Diversity-Kompetenz erwerben. Diese umfasst u. a. die Fähigkeit, die eigenen Werte, Erfahrungen und Privilegien in Bezug auf Diversität zu reflektieren und aus einer Haltung der kritischen Selbstbeobachtung heraus adäquat zu reagieren (Dreas & Rastetter, 2015). Außerdem braucht es Wissen über Diversität und Diskriminierungspotenziale in der Gesellschaft, wobei (Vorab-)Kategorisierungen von Supervisand*innen zu vermeiden sind (Kornau, 2025). Die (Selbst-)Reflexion der Lehrenden spielt dabei eine Schlüsselrolle. Es wäre nicht nur aus diesem Grunde äußerst sinnvoll, Lehrende mit unterschiedlichen kulturellen, sozialen und religiösen Hintergründen in die Weiterbildung einzubinden.
Neben weiterem Forschungsbedarf in der Supervision unter Einbezug sozialwissenschaftlicher Wissensbestände, wie z. B. postkoloniale Theorien, intersektionale Ansätze, feministische Perspektiven, Beiträge von BIPoC-Autor*innen, lassen sich folgende Empfehlungen insbesondere für den Weiterbildungskontext aussprechen: Diversität ist als Querschnittsthema zu verankern, d. h. Themen wie Rassismus, Migration, Religion, Gender, Klasse, Behinderung etc. sollten nicht als Zusatz behandelt, sondern in allen Modulen und Settings mitgedacht werden – von Kommunikation über Fallarbeit bis zur Selbsterfahrung. Es braucht Supervisor*innen, die sich mit ihren eigenen Prägungen und Vorurteilen, mit Gefühlen des Befremdet-Seins, des Fremd-Seins auseinandersetzen (Rohr, 2019), und die dazu bereit sind, Kolleg*innen aus der Community kritisch-solidarisch herauszufordern (Pohlkamp, 2025). Diskriminierungskritische Supervision kann einen Raum bieten, um sich mit Vielfalt, Pluralität, Heterogenität, Uneindeutigkeit und Ambiguitätstoleranz auseinanderzusetzen und gleichzeitig marginalisierte Personen zu stärken.
Literatur
Antidiskriminierungsstelle des Bundes. (2022). AGG-Wegweiser. Erläuterungen und Beispiele zum Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. Letzter Zugriff am 29.04.2025 unter https://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/Wegweiser/agg_wegweiser_erlaeuterungen_beispiele.html.
BMFSFJ. (2021). Mehr Frauen in Führungspositionen in der Privatwirtschaft. Letzter Zugriff am 02.05.2025 unter https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gleichstellung/frauen-und-arbeitswelt/mehr-frauen-in-fuehrungspositionen-in-der-privatwirtschaft-78562.
Bredemann, Miriam (2023). Diskurs über Geschlecht in der Supervision. Eine Diskursanalyse der Veröffentlichungen in supervisorischen Fachzeitschriften. Beltz. https://doi.org/10.25656/01:29136
Bourdieu, Pierre (1987). Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Suhrkamp.
Bourdieu, Pierre (1993). Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Suhrkamp.
Destatis (2023). Frauen in Führungspositionen in der EU. Eurostat Datenbank. Letzter Zugriff am 02.05.2025 unter https://www.destatis.de/Europa/DE/Thema/Bevoelkerung-Arbeit-Soziales/Arbeitsmarkt/Frauenanteil_Fuehrungsetagen.html#:~:text=EU%2Dweit%20sind%20Frauen%20in,Frauenanteil%202023%20bei%20rund%2035%20%25.
Dreas, Susanne & Rastetter, Daniela (2015). Die Entwicklung von Diversity Kompetenz als Veränderungsprozess. In Petia Genkova & Tobias Ringeisen (Hrsg.), Kompetenz: Perspektiven und Anwendungsfelder. Handbuch. Springer. S. 351–370. https://doi.org/10.1007/978-3-658-08003-7_30-1
Hanses, Andreas (2007). Macht, Profession und Diagnose in der Sozialen Arbeit. Zur Notwendigkeit einer Epistemologie unterdrückter Wissensarten. In Ingrid Miethe, Wolfram Fischer, Cornelia Giebeler, Martina Goblirsch und Gerhard Riemann (Hrsg.), Rekonstruktion und Intervention. Interdisziplinäre Beiträge zur rekonstruktiven Sozialarbeitsforschung, S. 49–60. Barbara Budrich.
Franzen, Jannik & Sauer, Arn. (2010). Benachteiligung von trans* Personen, insbesondere im Arbeitsleben. In Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Hrsg). Letzter Zugriff am 19.05.2025 unter https://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/Expertisen/expertise_benachteiligung_von_trans_personen.pdf?__blob=publicationFile&v=3.
Gröning, Katharina, Heitmann, Tina und Humme, Anika (2019). Bielefelder Studie zu Diversität in der Deutschen Gesellschaft für Supervision und Coachung. Letzter Zugriff am 21.05.2025 unter https://www.dgsv.de/wp-content/uploads/2019/07/Forschungsbericht_Univ_Bielefeld.pdf.
Hennemann, Loreen (2024). Diskriminierungssensibles Coaching. In Organisationsberatung, Supervision, Coaching (OSC), 31(1), S. 113–126. https://doi.org/10.1007/s11613-023-00857-9
Kornau, Angela (2025). Diversity Coaching!? Eine begrifflich-konzeptionelle Annäherung anhand einer systematischen Literaturanalyse. In Organisationsberatung, Supervision, Coaching (OSC), 32(1). S. 7–24. https://doi.org/10.1007/s11613-024-00923-w
Olk, Thomas (1986): Abschied vom Experten. Sozialarbeit auf dem Weg zu einer alternativen Professionalität. Juventa.
Petzold, Hilarion G., Schigl, Brigitte, Fischer, Martin und Höfner, Claudia (2003). Supervision auf dem Prüfstand. Wirksamkeit, Forschung, Anwendungsfelder, Innovation. Leske & Budrich.
Pohlkamp, Ines (2025). Diversität, Macht und Supervision – Intersektionale Perspektiven In Stefan Busse, Olaf Geramanis, Hans-Peter Griewatz, Silja Kotte und Heidi Möller (Hrsg.). Positionen, 1.2024. Letzter Zugriff am 19.05.2025 unter https://www.dgsv.de/wp-content/uploads/2025/04/Positionen_1-2025_Web.pdf.
Rohr, Elisabeth (2019). Interkulturelle Supervision: ein ethnozentrisches Phantasma? In Bielefelder Onlinezeitschrift für Supervision und Beratungswissenschaft „Forum Supervision“, 53, S. 18–29. https://doi.org/10.4119/fs-2307
Schigl, Brigitte, Höfner, Claudia, Artner, Noah A., Eichinger, Katja, Hoch, Claudia B. und Petzold, Hilarion G. (2020). Supervision auf dem Prüfstand. Wirksamkeit, Forschung, Anwendungsfelder, Innovationen. 2. Aufl. Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-658-27335-4
Zitation: Miriam Bredemann: Supervision: Diversitätsreflexive und diskriminierungskritische Perspektiven, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 17.06.2025, www.gender-blog.de/beitrag/supervision-diversitaetsreflexiv-diskrimierungskritisch/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20250617
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