01. April 2025 Mechthild Exo
Eine gesellschaftliche Befreiung und Frieden sind nur möglich, wenn auch die patriarchale Geschlechterordnung und Mentalität überwunden werden – mit dieser Botschaft für den 8. März untermauerte Abdullah Öcalan seinen „Aufruf für Frieden und eine demokratische Gesellschaft“ vom 27. Februar 2025 zur Niederlegung der Waffen und zur Auflösung der PKK (Öcalan 2025a, 2025b). Abdullah Öcalan ist politischer Philosoph und als führender Repräsentant der kurdischen Freiheitsbewegung seit 1999 in der Türkei inhaftiert. In der Frauenbewegung sieht er eine leitende Rolle für die anstehenden demokratischen Transformationen in der Türkei. Frauenorganisationen in Syrien sehen ihrerseits positive Auswirkungen, die von Öcalans Aufruf ausgehen. Welche politischen Konzepte stehen hinter diesen Entwicklungen? Welche Möglichkeiten stecken darin für einen Friedensprozess in der Region?
(Staatliche) Hierarchien und dominante Männlichkeit
Das politischen Denken von Öcalan wurde vor allem mit dem Konzept des Demokratischen Konföderalismus bekannt. Auf der Grundlage von Basisdemokratie, Ökologie und Frauenbefreiung steht darin die sich selbst organisierende Gesellschaft im Zentrum. Diese wird nicht als Zivilgesellschaft mit Bezug auf den Staat gedacht. Im Gegenteil: Staat wird als ein Machtverhältnis, das demokratischer Gesellschaftlichkeit entgegensteht, und als institutionalisierte Form dominanter Männlichkeit für die Lösung der Probleme der Gesellschaft zurückgewiesen.
Dieses Konzept ist eingebettet in der politischen Philosophie, die Öcalan in seinen Gefängnisschriften niedergelegt hat (Öcalan 2019, 2020). Es müsse dorthin zurückgegangen werden, wo Probleme ihren Ursprung haben – und mit der Unterwerfung der Frau und dem gesellschaftlichen System dominanter Männlichkeit hätten Herrschaftsverhältnisse angefangen (Öcalan 2020). Klasse, Staat und Kapitalismus sowie weitere hierarchische, unterdrückende und ausbeutende soziale Verhältnisse folgen in diesem Verständnis aus dem ersten Knechtschaftsverhältnis, dem zwischen Mann und Frau. Aus diesem Denken folgt im neuen Paradigma der kurdischen Freiheitsbewegung, das vor ca. 25 Jahren verankert wurde, dass – anders als noch in den Anfängen der Bewegung – eine Staatsmachtübernahme nicht als Mittel der Befreiung angesehen wird. Im Friedenskonzept der kurdischen Bewegung (Öcalan 2013a) wird der Staat dementsprechend auch nicht als Lösungsanbieter angesprochen.
Demokratischer Konföderalismus
„Staat und Demokratie sind zwei Bereiche, die sorgfältig getrennt voneinander behandelt werden müssen“, so Öcalan (2013a: 25). Demokratischer Konföderalismus ist mit dem Konzept der Demokratischen Nation verknüpft. Demokratische Nation meint nicht einzelne Staatsbürger_innen im Nationalstaat, sondern das selbstbestimmte Zusammenleben verschiedener sozialer Gruppen und Individuen, verschiedene ethnische, kulturelle, religiöse oder anders sich unterscheidende Gruppen, auf Basis des freien Willens.
Die Kommunen und die verschiedenen sozialen Gruppen lösen die sie betreffenden Anliegen selbst, übergreifende Angelegenheiten werden mit Delegierten und durch Räte, aber ohne eine Staatsstruktur bearbeitet. Die selbstorganisierten Frauen und das Prinzip der Doppelspitze (eine Frau und ein Mann) nehmen dabei eine zentrale Rolle ein, damit grundlegende Probleme der Gesellschaft auf eine Art gelöst werden, die tiefgreifend zur Überwindung aller Dominanzverhältnisse beiträgt.
Sowohl in der Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien als auch in der Türkei gibt es reiche Erfahrungen mit demokratischer Selbstorganisation, die sich am Demokratischen Konföderalismus orientiert.
Friedenskonzept der kurdischen Bewegung
Als zwischen 2013 und 2015 zuletzt Friedensverhandlungen in der Türkei geführt wurden, hatte Öcalan es zur Bedingung gemacht, dass Vertreterinnen der Frauenbewegung permanent am Verhandlungstisch sitzen. „Die Frauenfrage [ist] das wichtigste Thema, das gelöst werden muss. Sie steht im Fokus von allen Fragen, die den Krieg und die Entwicklung eines Friedensprozesses betreffen“ (Öcalan 2013b). Unter anderem wurde ein Rat weiser Frauen gegründet, der den Friedensprozess begleiten sollte (Exo 2019). Dieses Friedenskonzept und die Grundidee des Demokratischen Konföderalismus wurden in der seit 2012 bestehenden Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien, meist als Rojava bezeichnet, aufgegriffen (Herausgeber_innenkollektiv 2023). Dies zeigt sich auch in den Worten von Canda aus dem dort aufgebauten Frauendorf Jinwar:
„Wir bauen hier eine Alternative auf, ein freies Leben. […] Der Krieg kann nicht mit militärischen Mitteln gewonnen werden. Es geht darum, dass wir als Frauen und als Gesellschaft zusammenkommen und die Grundlagen des Lebens selbst organisieren. Die Entwicklung unseres eigenen Systems, das auf Freiheit und Würde beruht, ist unsere stärkste Selbstverteidigung.“ (Zit. n. Herausgeber_innenkollektiv 2023: 397)
Vor allem in den Jahren vor dem Scheitern der letzten Friedensverhandlungen waren in der Türkei parallel zum Staat unter anderem Frauen- und weitere Akademien, Kollektivbetriebe, Beratungsstellen, Jugendstrukturen, Frauenräte, Stadtteilräte, eigene Medien und Künstler_innenvereinigungen aufgebaut worden (Kampagne TATORT Kurdistan 2019). Nachdem der türkische Staat 2015 die Friedensverhandlungen abgebrochen und den Konflikt militärisch eskaliert hatte, sind die Strukturen weitgehend zerschlagen worden.
Auswirkungen auf Syrien
Nach dem Sturz der Assad-Regierung in Syrien Anfang Dezember 2024 muss die Demokratische Selbstverwaltung NES (North and East Syria) das aufgebaute, basisdemokratische Gesellschaftsmodell verteidigen gegen militärische Angriffe der Türkei, die dabei mit den islamistischen Milizen der SNA (Syrian National Army) kooperiert. In dieser Situation hat der Friedensaufruf von Öcalan bereits direkte Auswirkungen gezeigt. Am 10. März 2025 wurde ein Abkommen zwischen dem Generalkommandanten der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF), Mazlum Abdi, und dem neuen Interimspräsidenten von Syrien, Ahmed al-Scharaa, unterzeichnet. Der Frauenrat von NES (North and East Syria) erklärt in einem Interview, mit diesem Abkommen werde abgesichert, dass alle ethnischen und religiösen Gruppen des Landes an der Gestaltung des neuen Syrien teilhaben werden und insbesondere die Selbstverwaltung in NES eine anerkannte Realität und bedeutende Kraft dabei sein wird (Frauenrat NES 2025). Dies wäre durch die Wirkung des Aufrufs von Öcalan möglich geworden.
Eine Vertreterin des Diplomatiekomitees erklärt, dass mit diesem Abkommen nicht nur verhindert wird, dass ein innersyrischer Krieg ausbricht. Dass dieser Schritt stattfinden konnte, sei „ein Erfolg auch für uns als Frau und für das Projekt der Autonomen Selbstverwaltung“ (Delegation 2025). Die Aushandlungen zur Konkretisierung des Abkommens werden noch geführt, u. a. um die autonomen Frauenstrukturen, nicht zuletzt in der Selbstverteidigung, zu erhalten.
„50%-Quote für Frauen – das ist fair“
Ein Interview mit Emine Omer, Ebir Hesaf, Sterr Kasim und Siham Amouke vom Frauenrat von NES, das am 13. März 2025 mit Fragen der Autorin geführt wurde, zeigt, mit welchem Selbstbewusstsein die frauenpolitischen Ziele nun eingefordert werden. Mit Verweis auf die 13 Ziele des Syrischen Frauenrats für die Zukunftsgestaltung Syriens nach dem Sturz von Assad (WDR 2024) wurden sie gefragt, was sie unter „einer fairen Vertretung von Frauen und Frauenorganisationen aus allen Teilen Syriens beim Aufbau eines demokratischen Syriens und im neuen Verfassungsausschuss“ (ebd.) verstehen. Ihre Antwort:
„Unsere Forderung ist eine 50%-Quote der Beteiligung in allen gesellschaftlichen und politischen Bereichen: an der Übergangsregierung, ihren Komittees und beim Schreiben der Verfassung. Das wäre fair und gerecht.“ (Frauenrat NES 2025)
In der Verfassung müssten die Rechte der Frauen niedergeschrieben sein, einschließlich des Rechts, ihre eigenen politischen Organisationen und Parteien zu gründen und zu leiten (ebd.).
Demokratiemodell Rojava versus religiöser Nationalismus?
Eine Verfassung, die nur von sechs oder sieben Personen geschrieben wird, könne unmöglich von der Bevölkerung akzeptiert werden, sind sich die Vertreterinnen des Frauenrats von NES sicher (ebd.). Die Erfahrungen aus 13 Jahren Selbstverwaltung könnten dagegen ein Vorbild für ganz Syrien sein, erklären sie (ebd.). Das betreffe vor allem den Gesellschaftsvertrag, der dort gemeinsam mit der Beteiligung aller verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen entwickelte wurde, die ihre Bedürfnisse und ihren Willen einbringen konnten. Um Frieden zu erreichen und die Probleme zu lösen in einem Land, das reich an verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen ist, sei es äußerst wichtig, dass keine dieser Gruppen vom Neugestaltungsprozess ausgeschlossen werde. Sie plädieren dafür, einen Kongress mit Beteiligung aller Gruppen, die in Syrien leben, zu organisieren (ebd.). Bevölkerungsgruppen aus allen Regionen des Landes, aus allen ethnischen Gruppen und Religionen müssten beteiligt sein und das Gleiche gelte für die Beteiligung der Frauen.
Wenige Tage nach dem Interview hat der Interimspräsident Ahmed al-Scharaa den Entwurf einer Übergangsverfassung für Syrien unterzeichnet, die für fünf Jahre gelten soll. Diese Nachricht hat Protestdemonstrationen in NES ausgelöst. Hunderte Frauen zogen mit dem Banner „Nein zur Verfassung, die die Rechte der Frauen und Völker ignoriert“ durch die Straßen von Qamişlo. Es wird kritisiert, dass die neue Verfassung die Rechte der Frauen missachte und ein religiös-nationalistisches Weltbild widerspiegele (ANF 2025).
Literatur
ANF (Ajansa Nûçeyan a Firatê) 2025: Verfassungsentwurf für Syrien treibt Frauen auf die Straße, 15.3.2025. Abgerufen am 16.03.2025 unter anfdeutsch.com/frauen/verfassungsentwurf-fur-syrien-treibt-frauen-auf-die-strasse-45602.
Delegation 2025: Gespräch mit einer Frau aus dem Diplomatie Komitee der PYD, Frauendelegationsreise aus Deutschland in die Selbstverwaltungsregion Nord- und Ostsyrien auf Einladung von Kongra-Star, Qamişlo, 11.03.2025. Unveröffentlichte Transkription.
Exo, Mechthild 2019: Verbindungen knüpfen: Jineolojî, Frauenbefreiung und der Aufbau von Frieden. In: Internationale Initiative „Freiheit für Öcalan – Frieden in Kurdistan“ (Hg.): Das freie Leben aufbauen. Dialoge mit Abdullah Öcalan. Münster: Unrast, 189–208.
Exo, Mechthild 2024: Demokratische Friedenskonzepte jenseits des liberalen Abgrunds. Beispiele aus Afghanistan, Nagaland und Kurdistan. In: Mühlbauer, Josef/Lakitsch, Maximilian (Hg.): Kritische Friedensforschung. Wien: Mandelbaum, 397–324.
Frauenrat von NES 2025: Interview mit Vertreterinnen des Frauenrats von Nord- und Ostsyrien, durchgeführt im Rahmen einer Frauendelegationsreise aus Deutschland in die Selbstverwaltungsregion Nord- und Ostsyrien auf Einladung von Kongra-Star mit Fragen von Mechthild Exo, Qamişlo, 13.03.2025. Unveröffentlichte Transkription.
Herausgeber_innenkollektiv des Andrea Wolf Instituts 2023: Wir wissen was wir wollen. Frauenrevolution in Nord- und Ostsyrien. Münster: Edition Assemblage.
Kampagne TATORT Kurdistan (Hg.) 2019: Demokratische Autonomie in Nordkurdistan. Rätebewegung, Geschlechterbefreiung und Ökologie in der Praxis. Münster: Unrast.
Öcalan, Abdullah 2013a: Die Roadmap für Verhandlungen. Köln: Internationale Initiative Edition.
Öcalan, Abdullah 2013b: Botschaft anlässlich des Internationalen Frauentages 2013, 08.03.2023.
Öcalan, Abdullah 2019: Jenseits von Staat, Macht und Gewalt. Münster: Unrast.
Öcalan, Abdullah 2020: Soziologie der Freiheit. Manifest der demokratischen Zivilisation (Bd. III). Münster: Unrast.
Öcalan, Abdullah 2025a: Aufruf für Frieden und eine demokratische Gesellschaft. ANF, 27.02.2025. Abgerufen am 11.03.2025 unter anfdeutsch.com/aktuelles/-45431.
Öcalan, Abdullah 2025b: Botschaft zum 8. März. ANF, 08.03.2025. Abgerufen am 11.03.2025 unter anfdeutsch.com/frauen/-45525.
WDR (Women Defend Rojava) 2024: Erklärung des Syrischen Frauenrats zur Neugestaltung Syriens, 20.12.2024. Abgerufen am 15.03.2025 unter womendefendrojava.net/de/2024/12/21/erklarung-des-syrischen-frauenrats-zur-neugestaltung-syriens.
Zitation: Mechthild Exo: Ein Vorbild für ganz Syrien? Das Friedenskonzept des Demokratischen Konföderalismus, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 01.04.2025, www.gender-blog.de/beitrag/syrien-friedenskonzept-demokratischer-konfoederalismus/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20250401
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Kommentare
Fe Martin | 01.04.2025
Zum Subtitel: 50% Frauen, das ist fair… nun für eine wirkliche Veränderung braucht es eher eine 2/3 Mehrheit, 50 % stehen immer auf dem Kippunkt!