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Tango Argentino als ästhetische Kultur – postkoloniale und gendertheoretische Fragen

28. Juli 2020 Melanie Haller

Ein Buch über leidenschaftliche Begegnungen im Tango Argentino mag auf den ersten Blick nicht gerade gendertheoretische Innovationen vermuten lassen. Es gibt jedoch in der internationalen Forschungslandschaft Bücher, deren Übersetzung in eine andere Sprache schon immer überfällig war: Das Buch von Kathy Davis ist sowohl gendertheoretisch als vor allem auch intersektional eine erhellende Lektüre. Skizzenhaft möchte ich hier zeigen, worin der Mehrwert in der Lektüre dieses Buches liegt und was es besonders im Forschungskontext um Tango Argentino und Gender Studies zu einem „must read“ macht.

Intersektionale Aspekte im Tango Argentino

Kathy Davis lebt, forscht und theoretisiert Tango Argentino – sie kann mit ihrer Arbeit zeigen, welche Komplexität Forscher*innen trotz oder gerade aufgrund persönlicher Involviertheit erreichen können. Ihre Arbeit ist aber auch ein Paradebeispiel dafür, wie sich über den Forschungsgegenstand einer zeitgenössischen Bewegungskultur und aus einer wissenschaftskritischen Position heraus komplexe Dimensionen sozialkultureller Fragestellungen eröffnen lassen. Indem sie sich dem Tango Argentino über intersektionale (d. h. die Verschränkung sozialer Strukturkategorien wie Geschlecht, Milieu, Ethnie etc. betreffende) Komplexe nähert, zeigt sie gleichzeitig die empirischen Möglichkeiten dieses Forschungsansatzes auf. Tango Argentino als eine ästhetische Kultur, welche vor allem im globalisierten Westen sehr präsent ist, verbindet postkoloniale und gendertheoretische Fragestellungen. Die Autorin setzt sich ausgehend von Ihrer eigenen persönlichen Erfahrung als Feministin und Tangotänzerin mit den kulturellen Zuschreibungen des Tango Argentino auseinander und schafft es, diese scheinbar widerstreitenden Positionen aus einer geschlechtertheoretischen Perspektive neu zu betrachten, wenn nicht gar auf eine eigene Art und Weise neu miteinander zu vereinen.

Global kommodifizierte Ware der Leidenschaft

Die Arbeit basiert auf verschiedenen eigenen, langjährigen und umfassenden qualitativen Teilstudien als Ethnografin in Amsterdam und Buenos Aires mit teilnehmenden Beobachtungen, Interviews und der Auseinandersetzung mit Artefakten wie Fotografien, Filmen und anderen Repräsentationen des Tango Argentino. Sie hinterfragt kritisch die kulturindustriellen Repräsentationen des Tango im Film, bei Youtube, Blogs oder Websites, welche den Diskurs und die Stigmatisierung als negativ konnotierter heterosexueller und exotisierter Tanzpraktik bestimmen. Gleichzeitig positioniert sie sich entsprechend zu aktuellen Forschungsarbeiten und Klassikern der Tangoforschung, welche teilweise diese Diskurse stützen.

In ihrer Einleitung fasst Davis pointiert ihr persönliches und forschendes Interesse am Tango Argentino am Beispiel von drei persönlichen Geschichten zusammen, welche sie subtil miteinander verschränkt: die persönliche und ethnografische Faszination in der Beobachtung einer sichtbaren, sich von außen nicht erschließenden Leidenschaft einer Tanzpraktik; die Erfahrung kultureller Zuschreibungen, wenn nicht gar Stigmatisierung dieser Tanzpraktik als einer antifeministischen Kultur und die irritierende Wahrnehmung von postkolonialen Missverhältnissen im Tango Argentino als global kommodifizierter Ware der Leidenschaft. Diese komplexe Verschränkung eines Tanzes zwischen sichtbar positiv konnotierter Leidenschaft, negativer Zuschreibung und nicht zu leugnenden postkolonialen Machtverhältnissen eröffnet ihre kritische und analytische Auseinandersetzung mit Tango Argentino. Die Studie ist eine umfassende Darstellung der globalen Tango Argentino-Kultur mit ihren lokal differenten Konzepten auch zu Geschlechterbildern, ökonomischen Strukturen und dem global mythischen und postkolonialen Verhältnis zur argentinischen Geschichte.

Individuelle Erfahrungen und transnationale Geschichte(n)

Ein weiteres Argument für die Lektüre ist Davis´Stil, ein teils zwar auch akademischer Duktus, jedoch immer wieder aufgelockert durch Fragen an sich selbst und die Leser*innen. Sie setzt Positionierungen zum Tango in den Konjunktiv um das Postulat einer absoluten oder objektiven Wahrheit zu relativieren und ihre wissenschaftskritische Haltung zu verdeutlichen. Davis will verstanden werden und sie möchte ihre Leser*innen mitnehmen. Aus diesem Grund reichert sie ihre Analysen mit bildhaften Ethnografien und vielfältigen Geschichten an, welche keinen einfachen exemplarischen Charakter haben, sondern selbst neue Narrationen eröffnen, wie diese Tanzkultur und ihre Tanzenden beschreibbar werden.

Dabei geht es der Autorin nicht darum, eine einzige objektive Wahrheit zu behaupten oder weitere neue Zuschreibungen zu machen. Davis macht es sich nicht einfach, wenn sie die individuellen Erfahrungen der Tanzenden mit der komplexen globalen transnationalen Geschichte und Kultur verwebt – ihre Analyse vereint beide Ebenen, um Tango-Kulturen umfassend zu untersuchen. Ihr theoretisch angelegtes Dreigestirn von Leidenschaft, Geschlecht und Transnationalität stellt genau diese Verbindung her, wenn sie die Leidenschaft der Tanzenden auf die sozialstrukturelle Kategorie um Geschlecht reflektiert und alles einordnet in Fragen von transnationalen Verstrickungen.

Anspruchsvoll und zugänglich zugleich

Es ist ein anspruchsvolles Buch, das mit Feingefühl und Respekt neue Geschichten und theoretische Reflektionen zur Bewegungskultur des Tango Argentino eröffnet und darüber hinaus auch Anregungen zur Bildung von wissenschaftskritischen Positionierungen enthält.

Das der Übersetzung hinzugefügte einführende Kapitel von Ursula Müller und Helma Lutz führt grundlegend in den Entstehungskontext des Buches ein und ordnet es als quellenkritisches Desiderat auch in die vielfältigen interdisziplinären Forschungen der renommierten Autorin ein. Zudem liefert das Einführungskapitel ausgehend von Davis einen hervorragenden Überblick über den aktuellen Forschungsstand zu Tango und Gender und es macht deutlich, dass das Buch auch für eher gegenstandsferne Leser*innen von großem Interesse sein dürfte – Gegenstandsferne umfasst dabei sowohl fehlende Kenntnisse zu Tango Argentino als auch zu Körper- oder Gendertheorien.

Das Buch „Tango tanzen. Leidenschaftliche Begegnungen in einer globalisierten Welt“ von Kathy Davis, mit einem Vorwort von Helma Lutz und Ursula Müller, ist 2020 in der Reihe Geschlecht & Gesellschaft bei Springer VS erschienen.

Zitation: Melanie Haller: Tango Argentino als ästhetische Kultur – postkoloniale und gendertheoretische Fragen, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 28.07.2020, www.gender-blog.de/beitrag/tango-argentino-postkolonial-gendertheoretisch/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20200728

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Dr. Melanie Haller

Melanie Haller ist aktuell Gastprofessorin für Soziologie am Department Design der Hochschule für angewandte Wissenschaften und seit 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Kulturwissenschaft der Mode und des Textilen in der Fakultät für Kulturwissenschaft/Universität Paderborn. Sie promovierte zu Intersubjektivität im Tango Argentino. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Mode-, Körper- und Bewegungssoziologie, Gender Studies, populäre Tanzkulturen und qualitative Methoden.

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Kommentare

Ursula Müller | 28.07.2020

Liebe Kolleg_innen vom Gender Blog, liebe Frau Haller,

vielen Dank für den schönen Beitrag, der so manche Mühe belohnt.

Freundliche Grüße

Ursula Müller

 

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