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Headergrafik: Institut für Stadtgeschichte Gelsenkirchen, StadtA Ge, FSIII_12469, Foto: Kurt Müller, 1961.

Forschung

Übersehen: Strukturwandel in Textil- und Bekleidungsindustrie

28. November 2023 Alicia Gorny

Ein zentrales Motiv des erfolgreich gemeisterten Strukturwandels im Ruhrgebiet, das metaphorisch für harte Arbeit steht, ist der „Malocher“ oder „Kumpel“. Verbunden damit ist die Erinnerung an Erwerbsarbeit, die um Bergleute und Stahlarbeiter geformt ist, die ihre Jobs im Niedergang der Kohle- und Stahlindustrie verloren. Heute wird das Ruhrgebiet als Vorbild für einen erfolgreichen Übergang vom sekundären zum tertiären Sektor dargestellt. Doch dies ist nur die eine Seite der Medaille: Denn mit der Erzählung des gemeisterten Strukturwandels ist ein starker Gender Bias dafür verantwortlich, dass andere Branchen, in denen ebenfalls ein Rückgang zu beobachten war, vernachlässigt wurden. 

Arbeitsplätze für eine weibliche Belegschaft

Was vergessen oder vielleicht auch nie gesehen wurde, sind die Branchen ohne rauchende Schornsteine, die Arbeitsplätze für eine überwiegend weibliche Belegschaft boten – die Textil- und Bekleidungsindustrie. Hier verloren deutschlandweit insgesamt 800.000 Personen ihre Jobs (vgl. Donath/Szegfü 2021) – zum Vergleich: In der Kohleindustrie verloren 600.000 Personen ihre Anstellung (Statistik der Kohlenwirtschaft e.V. 2020). 6,5 Prozent (52.000) der Beschäftigten in der Textil- und Bekleidungsindustrie waren im Ruhrgebiet tätig (Fischersworring 2007, S. 298). Diese Arbeiter:innen erhielten im Gegensatz zu den Arbeitern in den beiden Schwerindustrien Kohle und Stahl keinerlei Unterstützung oder berufliche Umschulungen. Subventionen oder Regierungsprogramme waren für die Textil- und Bekleidungsindustrie nicht vorgesehen.

Als eine mögliche Erklärung hierfür kann angeführt werden, dass sich beide Sektoren über ganz Deutschland erstreckten und es keine starke Konzentration der Industrien gab, wie wir sie im Kohlenbergbau des Ruhrgebiets vorfinden. Dass diese Annahme jedoch ein Trugschluss ist, erwies sich bspw. in stark textilindustriell geprägten Gegenden wie Gronau und Nordhorn, wo die Arbeitslosenquote in den 1980er-Jahren mit dem Wegfall der Textilproduktion bei bis zu 20 Prozent lag (vgl. Werding 1997). Einleuchtender ist allerdings, dass die Stellenstreichungen politisch als akzeptabel angesehen wurden, da die Frauen, die vornehmlich in diesen Branchen beschäftigt waren, immer noch eine alternative Beschäftigung als Hausfrauen ausüben oder vermeintlich leicht im vielversprechenden Dienstleistungssektor untergebracht werden konnten.

Keine Industrialisierung ohne Textil- und Bekleidungsindustrie

Wenn auch die Deindustrialisierung beider Gewerbe kaum Beachtung fand, so spielten die Branchen für die Industrialisierung des Ruhrgebiets gleichwohl eine entscheidende Rolle (vgl. Fischersworring 2007). Heute wird diese Region hauptsächlich mit Kohle und Stahl in Verbindung gebracht, doch war es die Textilindustrie, die eine Industrialisierung des Ruhrgebiets Mitte des 18. Jahrhunderts einleitete und den bedeutendsten Industriezweig der Region darstellte (Lassotta 2004, S. 849).

Die Bekleidungsindustrie wurde nach dem Zweiten Weltkrieg bewusst im Ruhrgebiet angesiedelt, um einerseits Arbeitsplätze in Berlin, Ost- und Mitteldeutschland, die nunmehr in der sowjetischen Besatzungszone lagen, zu kompensieren, und andererseits Arbeitsplätze zu schaffen, die für Frauen als angemessen galten. Gemein ist beiden Branchen seit ihrer Genese, dass sie als „feminisierte Branchen“ (Canning 1996, S. 25) stigmatisiert sind. Befeuert wurde dieses Stigma dadurch, dass Näharbeiten und der Umgang mit Textilien der häuslichen (weiblichen) Sphäre zugedacht wurden/werden und damit stereotype Rollenerwartungen an weibliche Erwerbsarbeit verknüpft blieben. Vielmehr wurden weibliche Professionen auf ohnehin gegebene „Talente“ (Jenson 1992, S. 141) zurückgeführt. So konnte beispielsweise auch die eineinhalbjährige Ausbildung zur Hemdennäherin den Berufszweig nicht aufwerten, sondern wurde als ‚Anlerntätigkeit‘ gegenüber einer dreijährigen regulären Ausbildung abgewertet, was letztendlich darin resultierte, dass die Berufe in Textil- und Bekleidungsindustrie am untersten Ende der Lohnskala rangierten (Tiesbrummel 2022, S. 9).

Beide Gewerbe profitierten enorm von der Verfügbarkeit eines weiblichen Arbeitskräftepotenzials, das zu geringen Kosten entlohnt werden konnte. So war vor allem die Bekleidungsindustrie sehr arbeitsintensiv und auf manuelle Arbeit an Nähmaschinen angewiesen.

Deindustrialisierung

Die Städte Gelsenkirchen, Recklinghausen, Wattenscheid und Essen waren zunächst Profiteure der boomenden Bekleidungsindustrie der Nachkriegszeit (Lassotta/Schneider 2005, 214). Jedoch war der Boom nur von kurzer Dauer. Beide Branchen wurden von dezentralisierenden Globalisierungsprozessen erfasst. Zunächst war davon die Textilindustrie betroffen, die einen 1957 eingeleiteten Abwärtstrend nicht mehr abwenden konnte. Aufgrund kostspieliger Überproduktion und Missmanagement der Textilnachfrage auf dem inländischen Markt verloren bereits Ende der 1950er-Jahre über 5.000 Menschen im Ruhrgebiet ihre Anstellung. Ein Viertel der Unternehmen musste für immer schließen. Die Ölkrisen in den 1970er-Jahren verschärften diesen Trend weiter und führten zu einem Abbau der Arbeitsplätze auf 3.000. Ende der 1980er-Jahre waren nur noch etwas über 1.000 Menschen in der Textilindustrie beschäftigt. Heute gibt es im Ruhrgebiet keine Textilindustrie mehr (Landesdatenbank NRW). Ähnlich erging es der Bekleidungsindustrie, obwohl sich hier der Rückgang erst Mitte der 1960er-Jahre vollständig manifestierte. Zwischen 1970 und 1985 sank die Zahl der Beschäftigten im Ruhrgebiet von über 22.000 auf unter 8.000. Heute gibt es im Ruhrgebiet auch keine Bekleidungsindustrie mehr (Landesdatenbank NRW).

Frauenarbeitsplätze sterben leise

Es ist erstaunlich, dass der signifikante Deindustrialisierungsprozess sowohl in Deutschland insgesamt als auch im Ruhrgebiet unbemerkt blieb. Stattdessen wurde er vom Rückgang der Kohle- und Stahlindustrie überschattet. Noch überraschender ist dies, wenn man bedenkt, dass die Textil- und Bekleidungsindustrie in den 1990er-Jahren bundesweit die höchste Arbeitslosenquote verzeichnete (Beese/Schneider 2001, S. 138, 187).

Ein möglicher Grund für diese mangelnde Aufmerksamkeit könnte sein, dass Arbeiterinnen in diesen Branchen nicht um den Erhalt ihrer Arbeitsplätze kämpften oder dass sie vermeintlich einen geringeren gewerkschaftlichen Organisationsgrad aufwiesen. Diese Annahmen müssen jedoch zurückgewiesen werden. Tatsächlich waren viele Frauen in der Textil- und Bekleidungsindustrie in der Gewerkschaft (GTB) organisiert. Mitte der 1950er-Jahre wurden ein Drittel der Positionen im Betriebsrat von Frauen besetzt und bis in die 1980er-Jahre wurden die Hälfte der Positionen von Arbeiterinnen vertreten (Donath/Szegfü 2021, S. 159).

„Wir hatten keine Unterstützung von Männern. Wir waren Frauen.“

Zu der angeblichen Unorganisierbarkeit und vermeintlich ausgebliebenen Gegenwehr antworteten von mir befragte Gewerkschafter:innen [1] wie folgt:

„Eine Kollegin im Betrieb hat mal den Spruch geprägt, ‚Frauenarbeitsplätze sterben leise‘. […] Und wir haben ja auch als Gewerkschaft Textil-Bekleidung damals ganz viel gemacht in Richtung Handelsabkommen, faire Zollbedingungen statt freien Zoll und solche Sachen. Und wir waren in Bonn mehrfach mit Demonstrationen. Wir haben ja noch kurz vorher das längste Transparent der Welt in Bonn festgehalten.“ (Archiv LWL-IM 3261-12-45-9007: 06.08.2019, Z. 395-404)

Wie dieses Zitat belegt, wollten die in den Branchen beschäftigten Frauen mehrheitlich den Arbeitsplatzabbau nicht hinnehmen. Vielmehr deutet einiges darauf hin, dass es schlichtweg keine Solidarität von großen (männlich dominierten) Gewerkschaften IG Metall oder IGBCE gab und die Verlagerung von Arbeitsplätzen in den europäischen Süden und nach Asien innerhalb der Gesellschaft und den Gewerkschaften als vertretbar gewertet wurde. Dies erkannten auch die Frauen in den Industrien und der GTB:

„Und ich glaube – das wollte ich vorhin zu Bergbau sagen – Frauenarbeitsplätze sind leise gestorben. Als die Bergwerke anfingen zu schließen, sind alle Frauen mit auf die Straße gegangen. Wir hatten keine Unterstützung von Männern. Wir waren Frauen“ (Archiv LWL-IM 3261-12-45-9005: Z.46-49).

Literatur

[1] Die von der Autorin angeführten Interviews werden archiviert im LWL-Industriemuseum Interviewarchiv unter der Projektnummer 036 (Die Unorganisierbaren. Weibliche Gewerkschaftsarbeit in der Bekleidungsindustrie).

Beese, Birgit/Schneider, Brigitte (2001), Arbeit an der Mode. Zur Geschichte der Bekleidungsindustrie im Ruhrgebiet, Essen: Klartext.

Canning, Kathleen (1996), Languages of Labor and Gender. Female Factory Work in Germany, 1850–1914, Ithaca, London: Cornell University Press.

Donath, Peter/Zegfü, Annette (2021), „Wir machen Stoff“. Die Gewerkschaft Textil-Bekleidung 1949–1998 (Histoire, Band 170), Bielefeld: transcript, https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-5768-5/wir-machen-stoff/ (abgerufen am 23.10.2323).

Fischersworring, Heinz-Edgar (2007), Textil- und Bekleidungsindustrie im Ruhrgebiet unter Berücksichtigung der Veränderung der Standortfaktoren, Diss.  Essen, https://duepublico2.uni-due.de/servlets/MCRFileNodeServlet/duepublico_derivate_00020811/Diss_Fischersworring_Anlage_10_10_2008.pdf  (abgerufen am 23.10.2323).

Jenson, Jane (1002), The Talents of Women, the Skills of Men: Flexible Spezialization and Women, in Wood, Stephen (Hg.), The Transformation of Work? Skill, Flexibility and the Labour Process, London u. a., S. 141–155.

Landesdatenbank NRW (Hg.), Stoff aus NRW. Hotspots der Textil- und Bekleidungsindustrie – Bedeutung der Branchen für den Arbeitsmarkt in Nordrhein-Westfalen, https://www.giscloud.nrw.de/stoff-aus-nrw.html  (abgerufen am 23.10.2323).

Lassotta, Arnold (2004), Textilland an der Ruhr. Die Textil- und Bekleidungsindustrie im Ruhrgebiet von Brügelmann zu Steilmann, in Rasch, Manfred/Bleidick, Dietmar (Hg.), Technikgeschichte im Ruhrgebiet. Technikgeschichte für das Ruhrgebiet, Essen: Klartext, S. 847–872.

Lassotta, Arnold/Schneider, Brigitte (2005), Bekleidungsindustrie. Strukturwandel und Frauenarbeitsplätze, in Kift, Dagmar (Hg.), Aufbau West. Neubeginn zwischen Vertreibung und Wirtschaftswunder, Essen, S. 212–227. https://www.lwl.org/aufbau-west/LWL/Kultur/Aufbau_West/home/index.html (abgerufen am 23.10.2323).

Statistik der Kohlenwirtschaft e.V., https://kohlenstatistik.de (abgerufen am 23.10.2323).

Thiesbrummel, Gabriele (2021), Bekleidungsindustrie in Recklinghausen – ein lokaler Branchenreport, in Arbeitskreis Recklinghäuser Frauengeschichte (Hg.), Von Schnittmustern, Nähmaschinen und Plätteisen. Frauen in der Bekleidungsindustrie in Recklinghausen, Recklinghausen (Blätter zur Vestischen Frauengeschichte, Band 4), S. 6–10, https://www.frauengeschichte-re.de/veroeffentlichungen/ (abgerufen am 23.10.2023).

Werding, Stefan (1997), Der Kloß sitzt kurz hinter dem Gaumen, in Westfälische Nachrichten, 27. November 1997.

Zitation: Alicia Gorny: Übersehen: Strukturwandel in Textil- und Bekleidungsindustrie, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 28.11.2023, www.gender-blog.de/beitrag/textil-bekleidungsindustrie/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20231128

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© Headergrafik: Institut für Stadtgeschichte Gelsenkirchen, StadtA Ge, FSIII_12469, Foto: Kurt Müller, 1961.

Alicia Gorny

Alicia Gorny studierte Geschichtswissenschaften und Gender Studies an der Ruhr-Universität Bochum (Abschluss 2018). Sie ist Promotionsstipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung im Rahmen des Graduiertenkollegs „Soziale Folgen des Wandels der Arbeitswelt in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts“ (Bochum). Ihre Dissertation trägt den Arbeitstitel „Die Unorganisierbaren. Weibliches Engagement in der Gewerkschaft Textil-Bekleidung.“

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