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Toxische Männlichkeit kostet Milliarden – allein in Deutschland

21. Februar 2023 Britta Kuhn

63,5 Milliarden Euro pro Jahr: Auf diese Summe beziffert das Buch „Was Männer kosten“ von Boris von Heesen die volkswirtschaftlichen Schäden patriarchalischer Verhaltensweisen. Diese Berechnung gilt nur für Deutschland und beruht auf sehr konservativen Schätzungen. Dazu kommen Nebenwirkungen, die sich nicht direkt messen lassen, von den weltwirtschaftlichen Einbußen ganz zu schweigen. Was macht manch eine männliche Verhaltensweise so teuer? Und wie will der Autor sie überwinden?

Nachvollziehbare Methodik

Im ersten Teil seines Buches summiert von Heesen direkt messbare Kosten gesellschaftsschädigender Verhaltensweisen, die nach seinen Berechnungen wesentlich häufiger bei Männern als bei Frauen auftreten. Zu diesen Kosten zählt er Gefängnisaufenthalte, häusliche Gewalt, Süchte, Diebstähle, Wirtschaftskriminalität, ungesunde Ernährung, Jugendhilfe, Hooliganismus im Fußballsport, Verkehrsunfälle und Umweltschäden. Der Autor quantifiziert zunächst die gesellschaftlichen Gesamtkosten pro Jahr, die in Deutschland jeweils daraus resultierten. Davon zieht er die Kosten ab, die Frauen verursacht haben. Die Mehrkosten, die Männer im Vergleich zu Frauen produzieren, fließen schließlich in seine Rechnung ein.

Methodisch geht der Verfasser dabei sorgfältig und transparent vor: In der Regel summiert er direkt zurechenbare Kosten, zum Beispiel für Gefängnisaufenthalte pro Häftling und Tag. In Ausnahmefällen kommen indirekte Kosten dazu, etwa im Kapitel „Geschlagene Frauen“ konkrete Einkommensausfälle für die weiblichen Opfer und Deutschlands Sozialversicherungen, die aus Arbeitsunfähigkeit nach häuslicher Gewalt resultieren. Die Zahlen sind sehr vorsichtig geschätzt und nachvollziehbar auf Jahresbasis gemessen – vor Beginn der höheren Inflationsraten ab 2022. Durchweg legt von Heesen seine Quellen offen, erläutert deren Logik und weist auf Grenzen sowie mögliche Probleme seiner Darstellung hin.

Top-Problem „Süchte“

Die Kapitel dieses ersten Teils enthalten informative Einzelaggregationen, die auch eilige Leser:innen über die jeweiligen Kostenbestandteile informieren. Tabelle 6 auf Seite 116 bietet abschließend die Gesamtzusammensetzung der jährlich 63,5 Milliarden Euro. Davon entfallen fast 70 Prozent oder 44 Milliarden Euro darauf, dass Männer unter mehr Süchten als Frauen leiden. Knapp acht Prozent oder fünf Milliarden Euro Extrakosten beruhen auf besonders ungesunder Ernährung, rund fünf Prozent oder drei Milliarden Euro auf überproportional vielen Gefängnisaufenthalten. Die restlichen 11,5 Milliarden Euro verteilen sich auf die anderen sieben Kategorien. Eingängige Abbildungen und Vergleiche wie „Das Suchtverhalten von Männern verursacht Kosten in Höhe des BIP von Serbien“ (S. 63) tragen veranschaulichend dazu bei, dass diese Zahlen nicht abstrakt bleiben.

Insgesamt bietet Teil 1 also einen hochinteressanten ersten Schritt, den Schaden „toxischer Männlichkeit“ in Geldeinheiten zu bewerten. Wobei von Heesen diesen Begriff in der Regel bewusst und mit folgender Begründung vermeidet: „Er könnte so verstanden werden, dass Männer grundsätzlich toxisch sind. Das ist selbstverständlich nicht der Fall“ (S. 15). Um anschließend männliche Verhaltensweisen zu beschreiben, die auch er als toxisch definiert, beispielsweise „gesellschaftliche Strömungen und Organisationen, die für ein Konstrukt von Männlichkeit kämpfen, in der Männer Frauen dominieren und abwerten“ (S. 15). Wie er sich auch dafür entschuldigt, seine Sicht aufgrund der Datenlage auf Männer und Frauen verengen zu müssen, wenn er als Wirtschaftswissenschaftler Verhaltensweisen quantifizieren will.

Nebenwirkungen und Lösungsvorschläge

Teil 2 ergänzt weitere Kosten ungünstiger Verhaltensweisen, die sich mit der gewählten Methodik nicht direkt messen lassen. Dazu gehören die kürzere Lebenserwartung von Männern und ihre höhere Suizidneigung, sämtliche Formen der Misogynie, Rechtsextremismus, wenig hilfreiche Vorstellungen von Geschlechterbeziehungen und Sexualität sowie die Verhältnisse im Sport. Hier schaut der Autor über den deutschen Tellerrand: Er thematisiert zum Beispiel die weltweit verbreitete Homophobie im Männersport oder vertieft, wie sich patriarchalische Seilschaften zulasten des Gemeinwohls bereichern. Teil 3 bietet Ideen, wie sich zerstörerisches männliches Verhalten überwinden ließe. Spätestens hier fließen von Heesens persönliche Erfahrungen als „Männer- und Jungenberater, als Leiter eines Jugendhilfeträgers und als Vater und Mann“ (S. 19) ein: Feminismus sei auch etwas für Männer, die sich zusammenschließen und Familie neu denken sollten. Auch die Bildungspolitik sei gefordert, früh eingeübten patriarchalischen Verhaltensweisen etwas entgegenzusetzen. Wie das gehen könnte, erläutert er praxisorientiert und kritisch, wenn er etwa aus seiner täglichen Arbeit berichtet. So stellte er in seiner Beratung fest, dass bildungsferne Männer noch nie von „#MeToo“ gehört hätten, und schließt daraus, diese Debatte werde wohl „vorwiegend in einer Bildungsblase ausgetragen“ (S. 241).

Unklare Zielgruppe

Die Verbesserungsvorschläge des dritten Buchteils sind oft konstruktiv, aber auch relativ allgemein gehalten, beispielsweise in den Kapiteln „Überwindung von Stereotypen“ (S. 255ff.) oder „Männergesundheit verbessern“ (S. 261ff.). Noch öfter findet sich hier reichlich Bekanntes, etwa Abbildungen zur ungleichen Geschlechterverteilung nach Branchen und Studiengängen. Auch an anderen Stellen bietet das Buch viele Vorschläge, die wünschenswert, aber keinesfalls neu erscheinen. So fragt sich spätestens bei solchen Sätzen wie: „Es wird ein Gewinn, wenn Männer mehr Zeit mit ihren Kindern […] verbringen“ (S. 16): Wen will von Heesen eigentlich erreichen? Traditionelle männliche „Entscheider“? Oder eine bereits gendersensible Community? Für Letzteres spricht seine wiederholte Rechtfertigung gegenüber seiner Leser:innenschaft, die Kosten des Patriarchats überhaupt in Euro berechnen zu wollen. Oder Sätze wie „Kritische Stimmen könnten […] argumentieren, dass Frauen das Rentensystem aufgrund ihres längeren Lebens stärker belasten. Eine erschreckende Vorstellung“ (S. 23) – die allerdings in der privaten Versicherungswirtschaft auf eine lange Tradition zurückblickt, da hier Risiken nach Eintrittswahrscheinlichkeiten berechnet werden. Weshalb beispielsweise Frauen, die sich vor 2012 privat krankenversicherten, deutlich höhere Prämien zu zahlen hatten als Männer gleichen Alters.

Weltweite Kostenschätzungen wünschenswert

Aus volkswirtschaftlicher Perspektive fasziniert vor allem Teil 1 des Buches. Dessen Methodik ließe sich zwar auch umgekehrt auf Frauen anwenden, wovor von Heesen durchaus Angst hat. Viel interessanter erscheinen dagegen Rechnungen zu den weltweiten Folgen männlicher Verwüstung. Diese reicht weit über das in Deutschland Alltägliche hinaus – siehe Amokläufe, Staatsterrorismus, Angriffskriege und Menschenhandel in ganz großem Stil. Daneben Staatsversagen aufgrund tiefsitzender Korruption, die zu Recht als Vetternwirtschaft bezeichnet wird, denn Cousinen spielen auch auf diesem Gebiet bisher eine untergeordnete Rolle. Diese weltweite Perspektive dürfte allerdings methodisch ungleich komplizierter werden, da sich die Datenlage von Land zu Land stark unterscheidet. Alternativ könnten weitere Länderstudien folgen: Wie hoch sind zum Beispiel die Pro-Kopf-Kosten toxischer Männlichkeit in der russischen Föderation im Vergleich zu Schweden? Und würden diese Kosten sinken, wenn männliche „Entscheider“ über sie informiert wären?

Das Buch Was Männer kosten: der hohe Preis des Patriarchats von Boris von Heesen ist 2022 im Heyne Verlag erschienen.

Literatur

Heesen, Boris von (2022). Was Männer kosten. Der hohe Preis des Patriarchats. München: Wilhelm Heyne Verlag.

Zitation: Britta Kuhn: Toxische Männlichkeit kostet Milliarden – allein in Deutschland, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 21.02.2023, www.gender-blog.de/beitrag/toxische_maennlichkeit_kostet/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20230221

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Prof. Dr. Britta Kuhn

Britta Kuhn lehrt Volkswirtschaftslehre mit Schwerpunkt International Economics an der Wiesbaden Business School der Hochschule RheinMain. Bevorzugte Forschungsgebiete: China und Europäische Integration.

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