09. Juli 2024 Sarah Sickelmann
Menschenhandel und Sklaverei sind keine Phänomene aus längst vergangenen Zeiten, sondern höchst aktuelle und weltweit auftretende Probleme, die sich nicht durch ökonomischen Fortschritt in der modernen Gesellschaft aufgelöst haben. Im Gegenteil: Wie das Buch Trafficking Chains (2024) von Sylvia Walby und Karen Shire verdeutlicht, gilt es nicht einige wenige „böse“ Kriminelle zu bekämpfen, sondern die intersektionalen und systemischen Ungleichheiten in den Blick zu nehmen, die sie hervorbringen.
Walby und Shire plädieren für einen umfassenden Blick auf die gesellschaftlichen Bedingungen, die moderne Sklaverei begünstigen oder verhindern und veranschaulichen dies auch am Beispiel Deutschlands.
Lieferketten des Menschenhandels
Menschenhandel bzw. moderne Sklaverei wird von den Vereinten Nationen im Palermo Protokoll (2000) als Kontrolle über eine andere Person zum Zweck ihrer Ausbeutung definiert, darunter fällt z. B. kommerzielle oder staatliche Zwangsarbeit, sexuelle Ausbeutung oder Zwangsheirat (S. 51). Laut dieser rechtlichen Definition ist das Einverständnis der Betroffenen irrelevant. Zentral ist die Nötigung, indem die Vulnerabilität anderer ausgenutzt wird, um Profit zu erwirtschaften. Angelehnt an u. a. das Konzept der Lieferkette aus der Wirtschaft, wird im Buch das Konzept der ‚Menschenhandelskette‘ vorgestellt (S. 24ff.). Profit wird entlang einer Handelskette an unterschiedlichen Stellen erzielt. Dass es sich beim Sexhandel lediglich um einen Austausch zwischen Verkäufer:innen und Käufer:innen handelt, ist laut Walbys und Shires Darstellungen eine vereinfachte Vorstellung – Moderne Sklaverei ist vielmehr in einen vielschichtigen Markt eingebettet. Treibende Kraft ist dabei die Gewinnbeteiligung Dritter, die häufig als vermittelnde Instanz auftreten und z. B. Gebühren für die Migration und Arbeitsvermittlung in ein anderes Land oder Zinsen auf Kredite erheben, die sie Betroffenen gewähren, damit sie eben diese Gebühren bezahlen können, wodurch eine Schuldenknechtschaft entsteht (S. 6).
Wie groß ist das Ausmaß weltweit?
Verlässliche Informationen lassen sich nur über die kleine Gruppe der registrierten Betroffenen von Menschenhandel ermitteln. Die meisten Fälle sind den Behörden jedoch nicht bekannt. Die häufigste Form der Ausbeutung ist die sexuelle Ausbeutung (50 %), gefolgt von Zwangsarbeit (38 %); Opfer von sexueller Ausbeutung sind zu über 70 % Frauen und Mädchen, während Zwangsarbeit häufiger Männer und Jungen betrifft (S. 69f.). Menschenhandel in der EU wurde 2018 überwiegend zum Zweck der sexuellen Ausbeutung betrieben (60 %), rund die Hälfte der Betroffenen waren Migrant:innen (S. 70). Die meisten registrierten Menschenhändler:innen sind erwachsene Männer. Durch Analysen von Gerichtsfällen mit verurteilten Menschenhändler:innen ist bekannt, dass es während der Rekrutierung häufig zu Täuschung und in späteren Phasen der Ausbeutung zu expliziter Gewalt kommt, nicht selten auch zu extremer und/oder sexualisierter Gewalt (S. 72f.). Die Mehrheit der Täter handelt nicht alleine oder in kleinen Zusammenschlüssen, sondern geht organisiert vor (S. 73). Schätzungen zufolge ist die Anzahl der Personen in Zwangsarbeit in den arabischen Staaten am höchsten, gefolgt von Europa und Zentralasien (S. 74).
Bedingungen moderner Sklaverei
Walby und Shire erklären moderne Sklaverei gesellschaftstheoretisch und ergründen deren Ursachen, um davon ausgehend Hinweise für die Entwicklung wirksamer Präventionsstrategien zu bieten. Nicht nur die strafrechtliche Verfolgung von Menschenhändler:innen ist dabei relevant, auch die Regulierung der Wirtschaft oder mehr wohlfahrtstaatliche Leistungen bieten Möglichkeiten, die über Symptombekämpfung hinausgehen. Denn die Gesellschaft als Ganze schafft vulnerable Situationen, die Menschen in moderne Sklaverei treiben. Solche Situationen entstehen durch intersektionale kapitalistische, koloniale und geschlechterbedingte Ungleichheiten in wirtschaftlichen und politischen Systemen in der Zivilgesellschaft oder durch Kriege und andere bewaffnete Konflikte. So sind Frauen und Migrant:innen überproportional häufig Opfer von Menschenhandel und moderner Sklaverei (S. 83). Walby und Shire unterscheiden sozialdemokratische (EU), neoliberale (USA) und autoritäre (Russland, China) Formen der Moderne, die auf unterschiedliche Weise bestimmte Formen moderner Sklaverei begünstigen oder verhindern.
Im Palermo Protokoll fordern die Vereinten Nationen, Menschenhandel zu kriminalisieren, Betroffene durch Beratung und Betreuung zu unterstützen und Gegenstrategien zu entwickeln. Die länderspezifische Interpretation des Protokolls fällt jedoch unterschiedlich aus: Zum Beispiel sind in Großbritannien Bordelle und Zuhälterei illegal, da Sexverkauf durch Dritte als Ausbeutung gilt. Anders ist es in Deutschland und den Niederlanden: Hier sind Bordelle unter regulierten Bedingungen erlaubt und Zuhälterei gilt nur dann als Straftatbestand, wenn Sexarbeiter:innen ausgebeutet werden.
Strategien der Bekämpfung
Je nach Region sieht die Bekämpfung von Menschenhandel und moderner Sklaverei unterschiedlich aus. Die Strategie der USA ist es, mit Handels- oder Hilfsgütersanktionen gegen ausländische Regierungen vorzugehen, die an moderner Sklaverei beteiligt sind bzw. diese dulden. Die Strategie der EU ist vor allem auf Prävention ausgerichtet und arbeitet eher mit den Mitteln der Kooperation. Hauptempfängerinnen (finanzieller) Förderung für Projekte gegen Menschenhandel sind z. B. zivilgesellschaftliche Organisationen in Entwicklungsländern.
Im Buch wird die Notwendigkeit der Bekämpfung auf unterschiedlichen Ebenen betont. Schwachstellen werden nicht nur hinsichtlich des Zugangs zu Sozialhilfen und Schutz für Frauen und Migrant:innen ausgemacht (S. 111). Auch werden in der Regel nicht die Profiteure an der Spitze der „trafficking chain“ verurteilt, sondern diejenigen aus unteren Teilen der Wertschöpfungskette (S. 105). Darüber hinaus stehen manche Strategien – wie z. B. migrationspolitische und Menschenrechtsanliegen – im Konflikt miteinander. Wirtschaftliche Regulierung kann durch geeignete Bankinvestitionen (seit 2016 orientiert sich die Weltbank an den Sustainable Development Goals), aber auch durch die strengere Regulierung von Arbeit, digitalen Plattformen und Unternehmen erfolgen. Vor allem Unternehmen könnten stärker in die Verantwortung genommen werden, entlang ihrer Lieferketten dafür zu sorgen, Menschenhandel und moderne Sklaverei zu bekämpfen (siehe z. B. Diskussionen zum EU-Lieferkettengesetz).
Sexueller Ausbeutung entgegnen: Kriminalisierung oder wirtschaftliche Regulierung?
Das letzte Kapitel des Buchs widmet sich der Frage, ob moderne Sklaverei vom Sexhandel beseitigt werden kann, indem dieser nicht kriminalisiert, sondern wirtschaftlich reguliert wird. Ergründet wird die Frage am Beispiel Deutschlands, das mit der Legalisierung der Prostitution seit 2002 den Regulationsansatz verfolgt. Ursprünglich sei das Gesetz erlassen worden, um das moralische Stigma von Sexarbeit aufzulösen und Sexarbeiter:innen arbeitsrechtlich vor Ausbeutung und Abhängigkeit zu schützen. Jedoch veranschaulichen Walby und Shire am Beispiel der Situation von Sexarbeit in der Stadt Dortmund, dass die Gesetzgebung primär Nährboden für ein lukratives Geschäft für Dritte darstellt, das weiterhin von der Ausbeutung von Sexarbeiter:innen gekennzeichnet ist. Aus ihrer Perspektive verkennt der Regulierungsansatz Deutschlands vor allem, dass die Gewinnbeteiligung Dritter der Hauptantriebsfaktor für sexuelle Ausbeutung ist. Mit dem Gesetz von 2002 wurde sowohl der Verkauf und Kauf von sexuellen Handlungen als auch die Gewinnbeteiligung Dritter legalisiert (anders als in Großbritannien, Schweden oder den USA).
Die Gesetzgebung verbessert weder Arbeitsbedingungen noch straft sie Nötigung, vielmehr trägt sie zum enormen Wachstum der Sexindustrie bei – weshalb Deutschland auch als ‚Bordell Europas‘ bezeichnet wird. Sexarbeiter:innen sind weiterhin prekär beschäftigt, da sie meist nicht direkt angestellt, sondern selbstständig sind und somit ihre Kranken- und Rentenversicherung selbst zahlen müssen. Sie stehen häufig in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Auftraggeber:innen, die Profit durch die Vermietung von Räumen zu erhöhten Preisen erwirtschaften und nicht als Arbeitgeber:innen in die Verantwortung gezogen werden können (S. 136). Das Gesetz verfehlt damit das Ziel der Verbesserung der Arbeitnehmer:innenrechte und des generellen Schutzes für Sexarbeiter:innen.
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Die Autorinnen stellten das Buch im Rahmen des gemeinsamen Book Launchs des Netzwerks Frauen- und Geschlechterforschung NRW mit dem Interdisziplinären Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (InZentIM) im April auf dem Campus Duisburg der Universität Duisburg-Essen vor. Darüber hinaus erhielten Doktorand:innen und Postdoktorand:innen die Möglichkeit, theoretische Ansätze zu Gewalt im Rahmen der Master Class „Violence in varieties of gender regimes“ mit Sylvia Walby zu besprechen. Ein Bericht dazu ist im Journal Nr. 54 des Netzwerks FGF NRW erschienen.
Literatur
Walby, Sylvia & Shire, Karen A. (2024). Trafficking Chains: Modern Slavery in Society. Bristol: Bristol University Press. Auch verfügbar im Open Access unter https://bristoluniversitypress.co.uk/trafficking-chains.
Zitation: Sarah Sickelmann: „Trafficking Chains“ – Moderne Sklaverei auf allen Ebenen bekämpfen, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 09.07.2024, www.gender-blog.de/beitrag/trafficking-chains-sklaverei-bekaempfen/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20240709
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Kommentare
Cedrik Clement | 09.07.2024
Hallo,
1. mich würde interessieren, welche konkreten Lösungsansätze das Buch von Walby und Shire im Bereich der Handelskettenproblematik liefert, denn das wird im Blog doch wohl als größtes systemisches Problem dargestellt?
2. Kritisiert wird das deutsche Regulationsmodell am Beispiel der Stadt Dortmund, dass dazu führt, dass die sexuelle Ausbeutung hier bei uns gefördert wird und dass wir sogar als Bordell Europas bezeichnet werden. Sind denn denn schon mal die Folgen der strikten Untersagung in GB oder USA untersucht worden? Könnte es sein, dass in diesen Ländern das gemittelte Elend der Sexarbeiterinnen viel schlimmer ist als hier bei uns?
LG
Cedrik Clement
Cedrik Clement | 10.07.2024
Hallo ein zweitesmal,
der Blogbeitrag war selbst für mich als Naturwissenschaftler ziemlich gut zu verstehen.
Meine Frage: Ist auch das beschriebene Buch allgemeinverständlich? Das Thema interessiert mich und reizt zu Kritik.
LG
Cedrik Clement
Sandra Beaufays | 10.07.2024
Sehr geehrter Herr Clement,
vielen Dank für Ihr Interesse. Bei dem Buch handelt es sich um ein in englischer Sprache geschriebenes soziologisches Fachbuch.
Es ist, wie Sie in der Literaturangabe sehen können, im Open Access abrufbar. Vielleicht können Sie so einmal vorab prüfen, ob es sich für Sie lohnt, das Buch in Print-Fassung zu erwerben?
Mit freundlichen Grüßen aus der Redaktion,
Sandra Beaufays