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Forschung

Der travesticidio als postkoloniales Phänomen

08. Juni 2021 Charlotte Fischer

Der travestismo hat in Lateinamerika eine lange Tradition, der mit der Kolonisation ein Ende gesetzt wurde. Der Begriff travesti, der wörtlich übersetzt so viel bedeutet, wie die Kleidung des anderen Geschlechts zu tragen, ist entstanden durch die kolonialistische Fixierung von Geschlechterbinaritäten, welche die soziale Rolle, Kleidung und den Stand in der Gesellschaft determinierten.

In diesem Text kontextualisiere ich den Begriff des travesti und gebe einen kurzen Einblick in seine peruanische Tradition. Anschließend gehe ich auf die prekäre Lebensrealität vieler travestis in Lateinamerika ein und auf die größte Gefahr, der sie ausgesetzt sind, den travesticidio.

Travesti als Widerstand

Während travesti lange eine pejorative Bedeutung hatte, wurde er von peruanischen und argentinischen Aktivist:innen zur Selbstermächtigung wieder vereinnahmt und repräsentativ für „duality as power“ gesehen (vgl. Campuzano 2013: 137). Dora Silva Santana schreibt über die Begriffsverwendung „Travesti“:

“Travesti does not correspond to the English travesty, which is related somewhat to a performance in drag. Travesti is an identification that indexes a political position of resistance by trans femme/feminine/women’s bodies of, historically, mostly black and people of color from poor communities.“ (Santana 2019: 212)

Sich als travesti zu identifizieren bedeutet die Weigerung, eine Frau zu sein; die Weigerung, Trans zu sein und die Weigerung, als eines von zwei Geschlechtern lesbar zu sein, weil die Travesti-Identität über Gender hinausgeht, so Malú Machuca Rose in ihrem Essay zu „Giuseppe Campuzano’s Afterlife“ (vgl. Machuca Rose 2019: 243).

Giuseppe Campuzano, ein peruanischer Philosoph und Künstler, hat sich mit der präkolonialen Geschichte des travestismo in der Andenregion sowie deren kontemporären Ausprägungen beschäftigt. Er kritisiert, dass im postkolonialen Kontext travesti als LGTBQI+ Identität identifiziert und durch die Linse der Sexualität als normative, sexuelle Identität kategorisiert wird. Nach Campuzano reproduzieren moderne Kämpfe über transgender Identitäten die Geschlechternormativität: Sie ließen keinen Platz dafür, innerhalb beider Geschlechter zu bleiben oder sich für ein Wechseln zwischen verschiedenen Geschlechtern zu entscheiden. Ferner erwähnt er das Tradieren kolonialer Geschlechterkonstruktionen in der rechten sowie auch der linken Politik Perus, sowie in Aktivismus und Wissenschaft, die innerhalb des kolonialen Rahmens arbeiten, anstatt an präkoloniale Diskurse anzuknüpfen (vgl. Campuzano 2013: 140).

Gelebte Realitäten von travestis in Lateinamerika

Travestis in Lateinamerika leben oft in prekären Verhältnissen, da sie aufgrund von Stigmatisierung von Einrichtungen des Sozial-, Gesundheits- und Bildungswesens ausgeschlossen sind. Hinzu kommt, dass sie häufig keinen gültigen Pass besitzen: Sie sind undokumentiert, wenn sie ihr familiäres Umfeld verlassen haben, um sich ein neues Leben aufzubauen (vgl. Machuca Rose 2019: 243). Durch die vorherrschende Heteronormativität und die dadurch verstärkten prekären Lebensumstände vieler travestis sind sie einer enormen, strukturellen Benachteilgung ausgesetzt.

Campuzano beschreibt die Konsequenzen für travestis durch Gender-Normativität, zu denen unter anderem body-transformation durch flüssiges Silikon gehört. Durch ihren ökonomisch benachteiligten Stand und ihr Misstrauen gegenüber Gesundheitseinrichtungen seien viele travestis von professionnellen chirurgischen Eingriffen ausgegrenzt. Die Eingriffe werden in den meisten Ländern als kosmetischer Eingriff und nicht als essenziell für mentale Gesundheit verstanden. Dies führe zu gefährlicher Selbstmedikation mit Hormonen, Schamanismus und kosmetischen Eingriffen (vgl. Campuzano 2013: 141).

Des Weiteren beschreibt er die Beziehung vieler travestis zu gewaltvollen Partnern (machos) und die Konfrontation mit „[t]he worst of both gender roles“ (ebd.: 142): für die Polizei männlich genug, um physische Gewalt anzuwenden sowie im engen sozialen Kreis (u. a. der Familie) weiblich genug, um Unterdrückung, Viktimisierung und Demütigung zu erfahren; vor dem Gesetz/Gericht als Mann verurteilt und auf dem Arbeitsmarkt so stark diskriminiert, dass Prostitution beinahe die einzige Option ist (vgl. ebd.: 140ff.). Letztere ist mit einem besonderen Risiko behaftet, da Prostitution mit dem ständigen Risiko der Ansteckung mit sexuell übertragbaren Krankheiten, Kriminalisierung, Stigmatisierung, Verfolgung und Polizeigewalt einhergeht (vgl. Radi & Sardá-Chandiramani 2016: 2).

Der travesticidio als Ende einer Kette struktureller Gewalt

Travestis und trans* Frauen sind bevorzugte Opfer letaler Gewalt in Lateinamerika. Das Trans-Murder-Monitoring-Projekt (TMM) hat 2016 Morde an Trans- und nichtbinären Personen zwischen dem 1. Januar 2008 und dem 31. Dezember 2015 in 65 Ländern weltweit registriert. 78 Prozent dieser Morde (1573) trugen sich in zentral- und südamerikanischen Ländern zu. Angeführt von Brasilien (802), Mexiko (229), Kolumbien (105), Venezuela (98) und Honduras (79). Die Daten stammen aus Nachrichtenplattformen im Internet, sowie von Organisationen und Trans-Aktivist:innen weltweit. Ferner stellt TMM heraus, dass die meisten Morde in den Ländern registriert werden, in denen Trans- und LGBTQI+ Aktivist:innen organisiert sind und ein professionelles System zur Datenerhebung entwickelt haben. In vielen Ländern ist diese Art von „Monitoring“ nicht vorhanden, was eine genaue Datenerhebung fast unmöglich macht.

Auch die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte betont in einem entsprechenden Report die Wichtigkeit einer funktionierenden Datenerhebung über die Gewalt an LGBTQI+ Personen und verweist darauf, dass Morde an travestis oft mit impunidad (Straflosigkeit) enden (IACHR 2015: Paragraph 22). In amtlichen Statistiken werden außerdem meist nur die behördlichen/staatlichen Angaben zum Personenstand herangezogen und somit Morde an trans* Frauen und travestis als Morde an Männern dokumentiert. Der Travestizid ist der sichtbarste und letzte Ausdruck aus einer Kette struktureller Gewalt, die auf ein kulturelles, soziales, politisches und wirtschaftliches System antwortet, welches durch Heteronormativität strukturiert ist.

Aktivismus im juristischen Kontext

Die travesti-Aktivist:innen Diana Sacayán und Lohana Berkins prägten den Diskurs über Transfeminizide in Argentinien und weiteten das Phänomen des Feminizids aus auf Personen, die sich der binären Geschlechterordnung nicht angehörig fühlen. Sacayáns Ermordung im Jahre 2015 wurde von trans*- und travesti-Aktivist:innen und -Kollektiven zum Anlass genommen, das Gesetz zur „Gender Identity“, welches 2012 in Kraft trat, auch auf die Rechtsprechung bei Morden anzuwenden. Dazu forderten sie die Verwendung des Begriffes „travesticidio“ im weiteren Verlaufe Sacayáns Mordprozesses.

Es bleibt jedoch offen, wie der Begriff im Strafrecht richtig operationalisiert werden kann, da gleichzeitig neue Chancen und Risiken entstehen, wenn Mord an travestis politisch sichtbar gemacht wird (vgl. Sosa 2020: 1). Spade und C. Willse weisen in diesem Kontext darauf hin, dass die Idee des Hasses oder der Phobie diese Verbrechen als jeweils individuellen Ausdruck persönlicher Vorurteile konstruiere und so das Verständnis für die systemische Natur der Ungleichheit verdränge (Spade & Willse 2000: 44f.). Im Falle der Travestizide in Lateinamerika, die sich meist in prekären Kontexten ereignen, trifft dies besonders zu.

“The androgynous as double synonym of perfection”

Laut Campuzano ist es vonnöten, travestis nicht einfach aufzuoktroyieren, dass sie sich dem gegenüberliegenden normativen Geschlecht angleichen, sondern sie von normativen Geschlechterrollen komplett zu befreien. Nur so wäre es ihnen möglich, ihr eigenes Geschlecht jenseist binärer Geschlechterkonstruktionen zu definieren. Weiter fragt er:

“When did vestments as symbols of power, the androgynous as double synonym of perfection, get lost? How did the enriching multiple points of view (before: a female within a male body; after: a male within a female body) as a major advantage become denied?“ (Campuzano 2013: 143)

Als Antwort auf diese Frage sieht er klar den Kolonialismus. Die Lösung liege darin, die eigene Geschichte zurückzufordern und prähispanische Traditionen wieder aufzugreifen, in denen Nonbinarität ihren Platz hatte (vgl. ebd. 143).

Wie Feminizide haben auch die Travestizide und Trans*feminizide ihren Ursprung in der Kolonialität von Geschlecht. Mit dem Beginn der Kolonisierung wurden, wie es bereits schon Maria Lugones und weitere dekoloniale Denker:innen herausgestellt haben, eine binäre und hierarchische Geschlechterordnung aufgezwungen, travestismo und Intergeschlechtlichkeit wurden als natürliches Phänomen verneint. Für die Individuen, die von Diskriminierung und gesellschaftlichem Ausschluss durch das gesellschaftliche Konstrukt der Heteronormativität betroffen sind, bedeutet dies eine enorme Prekarisierung. Der Travestizid und der Trans*feminizid sind die verheerendsten Konsequenzen daraus. Daher ist es wichtig, ein adäquates „Monitoring“-Programm aufzubauen, dessen korrekte Durchführung bislang in vielen Fällen Lateinamerikas an patriarchalen Strukturen in Staat und Gesellschaft scheitert. Die Wiederaneignung des Begriffs travesti durch die Community und seine Verwendung in juristischen Kontexten sind erste Ansätze für Gender-Gerechtigkeit.

Literatur

Campuzano, Guiseppe (2013). Gender, identity and travesti rights in Peru. In Andrea Cornwall, Sonia Correa & Susie Jolly (Hrsg.), Development with a Body: Sexuality, Human Rights and Development (136–145). London: Zed Books. https://doi.org/10.5040/9781350219588.ch-011

Inter-American Commission on Human Rights (IACHR). (2015). Violence against LGBTI Persons. Zugriff am 31.05.2021 unter http://www.oas.org/en/iachr/reports/pdfs/violencelgbtipersons.pdf.

Machuca Rose, Malú (2019). Giuseppe Campuzano’s Afterlife-Toward a Travesti Methodology for Critique, Care, and Radical Resistance. Transgender Studies Quarterly, 6(2), 239–253. https://doi.org/10.1215/23289252-7348524

Radi, Blas, & Sardá-Chandiramani, Alejandra (2016). Travesticide/transfemicide: Coordinates to think crimes against travestis and trans women in Argentina. Publicación en línea. Zugriff am 31.05.2021 unter https://www.aacademica.org/blas.radi/15.

Santana, Dora (2019). Mais Viva! Reassembling Transness, Blackness, and Feminism. Transgender Studies Quarterly, 6(2), 210–222. https://doi.org/10.1215/23289252-7348496

Spade, Jane & Willse, Craig (2000). Confronting the limits of gay hate crimes activism: A radical critique. Chicano-Latino Law Review, 38–52. Zugriff am 31.05.2021 unter http://www.deanspade.net/wp-content/uploads/2017/06/Confronting-the-Limits-of-Gay-Hate-Crimes-Activism-A-Radical-Cri.pdf.

Sosa, Lorena (2020). Now You See Me? The Visibility of Trans and Travesti Experiences in Criminal Procedures. Politics & Governance, 8(3), 266–277. https://doi.org/10.17645/pag.v8i3.2804

Zitation: Charlotte Fischer: Der travesticidio als postkoloniales Phänomen, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 08.06.2021, www.gender-blog.de/beitrag/travesticidio-als-postkoloniales-phaenomen/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20210508

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Charlotte Fischer

Charlotte Fischer studiert im Master Kulturwissenschaft mit dem Schwerpunkt „Globalität und Macht“ an der Universität Koblenz-Landau. Sie interessiert sich für postkoloniale/dekoloniale Theorie (hauptsächlich auf Lateinamerika bezogen) und allgemein für Gender Studies. In ihrer Bachelorarbeit beschäftigte sie sich mit der dekolonialen Untersuchung feminizidischer Gewalt an der US-Grenze Mexikos.

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