21. September 2021 Anne Schlüter Petra Schmitz
Politische Macht von Frauen ist allen möglichen politischen und sozialen Wechselfällen ausgesetzt. Der Erzählbogen des dokumentarischen Films Die Unbeugsamen von Torsten Körner lässt sichtbar werden, wie unsicher Positionen und Einfluss sind und unter welchen Bedingungen sich politisch etwas bewegen lässt. Aktuell bezieht sich der Film auf die Bundestagswahl 2021 und auf den niederschmetternden Frauenanteil von nur 31 Prozent im 19. Bundestag von 2017 bis 2021.
Wer zu Wort kommt
Die erste historische Aufnahme des Films zeigt Marie-Elisabeth Lüders, hochgewachsen, streng, im langen dunklen Mantel, mit der Aussage, Frauen müssten aufpassen, dass ihnen nicht wieder weggenommen werde, was ihnen einmal – nach langen Kämpfen für den Zugang zu politischen Ämtern – zugestanden wurde. Lüders war zweimal Abgeordnete für die DDP im deutschen Reichstag, nachdem Frauen in Deutschland das Wahlrecht erhielten, und auch im ersten westdeutschen Bundestag von 1952 bis 1961 für die FDP. Sie weiß, wovon sie spricht.
Der Film konzentriert sich auf die Sichtbarkeit und die Wahrnehmung von Politikerinnen im Bundestag und darauf, wie nach deren Erfahrungen Politik funktionierte und funktioniert. Er besteht aus historischem Footage zu Bundestagsdebatten und Aussagen von Zeitzeuginnen aus den Parteien im Bundestag bis 1990. Bereit, an diesem Film mitzuwirken, waren unter anderem Hertha Däubler-Gmelin, Renate Schmidt, Renate Hellwig, Elisabet Haines und Renate Faerber-Husemann von der SPD, Carola von Braun und Helga Schubert von der FDP, Ingrid Matthäus-Maier, die von der FDP zur SPD wechselte, sowie Marie-Elisabeth Klee, Ursula Männle und Roswitha Verhülsdonk von CDU/CSU. Christa Nickels berichtet von der Politik der Grünen, seit den 1980er-Jahren neu im Bundestag. Auffallend ist das Fehlen von weiteren befragbaren Grünen-Politikerinnen, die mit dem ersten Feminat von 1984 und der konsequenten Durchsetzung der Quote die bisherige Männerdominanz gehörig durcheinanderbrachten. Zu nennen wären etwa Waltraud Schoppe oder Marie-Luise Beck. Es ist anzunehmen, dass Regisseur und Autor Torsten Körner noch andere Personen angefragt hat, ohne sie für eine Mitwirkung gewinnen zu können. Daran wird deutlich, dass die Gesamt- und Detailaussagen eines Dokumentarfilms immer auch von Zufällen abhängig sein können.
Wie Dokumentarfilme entstehen – oder: Perspektiven werden ausgestaltet
Die Unbeugsamen zeigt auch, wie Dokumentarfilme entstehen, nämlich am Schneidetisch: Der Film ist montiert und es ist vor allem die Arbeit der Editorin Sandra Brandl zu würdigen, die in der Menge des Materials den Erzählbogen und die visuellen Aussagen gestaltet hat. Furios sind dabei Anfang und Ende des Films: So ist zu Beginn eine Paralellmontage aus Herbert von Karajan zu sehen, der ausschließlich Musiker dirigiert, gemeinsam mit Fotos von Bundestagen und Regierungskabinetten, die ebenfalls allein durch Männer besetzt sind. Am Ende tritt dagegen die Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla auf und leitet die Wiener Philharmoniker, montiert mit Bildern von männlich-weiblich besetzten Bundestagsplenen und Minister:innentreffen. Beides unterlegt mit klassischer Musik.
Was der Film zwischen Auftakt und Schlussakkord zeigt: die Geschichte der immer noch deutlich fehlenden Frauenpräsenz im Bundestag von den 1950er-Jahren bis zur Wiedervereinigung. Höhepunkt dieser 40 Jahre andauernden politischen Kämpfe sind die 80er-Jahre mit den kontroversen Themen Abtreibung, Gewalt in der Ehe, dem ersten „grünen“ Feminat sowie der Auseinandersetzung um den Nationalsozialismus und dessen Einordnung in die deutsche Geschichte. Auch der Amtsantritt von Dr. Angela Merkel ist zu sehen und wirkt, in den Film montiert, wie eine Apotheose. Doch trotz der Ernennung der ersten Bundeskanzlerin ging die Unterrepräsentanz weiter.
Zeitzeuginnen erinnern sich
Der Film lebt von den gut erzählten, detaillierten Erinnerungen der Zeitzeuginnen. Er ist in Kapitel unterteilt, die sich auf Sachthemen oder Personen beziehen. Im Kapitel „Lovely Rita“ berichtet Rita Süssmuth, wie sie, von der Wissenschaft in die Politik gewechselt, von ihrem Posten als Familien- und Frauenministerin ins Amt der Bundestagspräsidentin weggelobt wurde. Weitere Kapitel machen den alltäglichen Sexismus sichtbar, vom Grapschen bis zu Bemerkungen über das Aussehen, den Familienstand und die Pressepräsenz der Politikerinnen, in der Interviewer und Kommentatoren ungehemmt Frauenrolle und Politik als Aufgaben gegeneinander ausspielen. Auch die Journaille ist bis heute ein Männerverein – mit inzwischen deutlichen Änderungstendenzen. Ein Kapitel, das Hannelore Kohl und Petra Kelly gewidmet ist, erschließt sich indes nicht. Dieser parallelen Betrachtung ist nur zu folgen, wenn die Interpretation der Opferrolle der beiden Frauen und deren Zerbrechen an den Erwartungen der Gesellschaft und des politischen Geschäfts als plausibel von den Zuschauer:innen anerkannt wird.
Die zweite Materialebene ist das ausführliche historische Footage aus Bundestagsdebatten und bewirkt eine intensive Wiederbelebung vergangener Zeiten: Sei es die berühmte Rede von Waltraud Schoppe zu Gewalt in der Ehe und Sexismus in der Politik, sei es die Rede von Hildegard Hamm-Brücher zum Wechsel der FDP aus der Koalition mit der SPD zur CDU, sei es ein ausführliches und berührendes Statement von Christa Nickels zur Traumatisierung der deutschen Väter (und Täter) durch die von ihnen abgeforderte Gewalt im Nationalsozialismus.
Die Botschaft des Films
Dokumentarfilme leben von dem Material, das sie zeigen, und ihrer Montage zu Erzählungen und Thesen. Deshalb ist es wichtig, stets mitzudenken, dass die Erinnerung an die Politikerinnen der Bundesrepublik und deren Kämpfe, Erfolge und Niederlagen eine Perspektive der Regie wiedergibt. Es wären immer auch anders fokussierte Erzählungen aus bewegten Zeiten, in denen Politikerinnen ihre Positionen erkämpfen und behaupten müssen, möglich (gewesen).
Der Film wird mit dieser Form der Aufarbeitung und mit der Botschaft, die er vermittelt, nämlich der, dass Frauen in der Politik unbeugsam und durchsetzungsstark sein müssen, auch für den Schulunterricht angeboten. Es ist zu hoffen, dass dabei nicht nur die Inhalte des Films, sondern die dokumentarischen Arbeitsweisen genauso zum Gegenstand gemacht werden, damit auch Kinder und Jugendliche die Besonderheiten des Dokumentarfilms verstehen lernen.
Bilanzierungen zur Repräsentanz von Frauen in der Politik
Die mangelnde Repräsentanz von Frauen in der Politik ist in der Forschung vielfach Thema geworden. Allein schon deshalb, weil das Thema immer noch relevant ist und inzwischen auf weitere Diversitätslagen ausgeweitet wurde. Aktuell finden sich in den Medien datenjournalistische Aufbereitungen einer Bilanz der 16 Jahre Merkel-Regierung. In einer Dokumentation von MDR und WDR wurden die Bereiche des Human Development Index der UN recherchiert, zu denen neben Nachhaltigkeit, sozialer Ungleichheit und Bildung auch Geschlechtergerechtigkeit gehört. Danach stieg der Anteil von Frauen in der Bundesregierung in den 16 Jahren Merkel von 35 Prozent auf 44 Prozent, anders als im Bundestag, wo der Anteil auf 31 Prozent fiel.
Zur Erschließung von Material aus dem Bundestag sei hier ein weiterer Hinweis gestattet. Auf der re:publica 2021 stellten zwei Developer:innen aus dem Bundestagsarchiv das Projekt „Open Discourse“ unter dem Motto vor: „Wir wissen, was sie letzten Sommer gesagt haben“. Alle stenografierten Bundestagsprotokolle seit 1949 sind inzwischen maschinell lesbar und damit über Algorithmen erschließbar gemacht worden. Es kann nicht nur nach Stichworten gesucht werden, sondern auch nach Relationen: Wie oft sprachen männliche und weibliche Mitglieder des Deutschen Bundestags? Welche Schlüsselbegriffe wurden von ihnen wann und wie benutzt? Wie sind Themen von den Parteien über die Jahre besetzt worden? Die Präsentation auf der re:publica zeigt die Erschließungsmöglichkeiten zum Thema Beschimpfungen im Bundestag: Wer fluchte am meisten in Plenardebatten und gehörte welcher Partei an? Was waren die am häufigsten benutzten Schimpfworte? Das erste Mal fluchte ein weibliches Mitglied des Deutschen Bundestags 1977, der männliche Vorsprung ist hier längst nicht mehr einzuholen. Das Beispiel zeigt, wie vielfältig die Fragestellungen bei der Suche im Material sein können. „Open Discourse“ kann als Basis für künftige Forschungen über Frauenpolitik in der Bundesrepublik dienen – in historischer Sicht und in prognostischer Perspektive.
Zitation: Anne Schlüter, Petra Schmitz: Unbeugsame Frauen in der Politik?! Dokumentarfilm zur Bundestagswahl 2021, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 21.09.2021, www.gender-blog.de/beitrag/unbeugsame-frauen-politik/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20210921
Beitrag (ohne Headergrafik) lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz
Kommentare
claudia Winter | 21.09.2021
... bleibt die Frage, wie komme ich an den Film ran, wenn ich ihn gemeinsam im Freund*innenkreis zeigen will ...
am liebdsten noch vor dem Wahlsonntag
Mara | 21.09.2021
Danke für die Rezension, die ich sehr gerne gelesen habe, nachdem ich heute im Kino war. Ich habe mich auch gefragt, wer die Dirigentin am Ende war - komme aber zu dem Schluss, dass es nicht Canellakis war, wie Sie oben schreiben, sondern Mirga Gražinytė-Tyla. Vielleicht können Sie das noch korrigieren?
Petra L. Schmitz | 22.09.2021
Liebe Claudia Winter,
am besten wäre, Sie gingen diese Woche alle gemeinsam ins Kino. Da läuft der Dokumentarfilm noch. Alle Orte und Zeiten im Kinofinder unter
www.kino-zeit.de/aktuelles-kinoprogramm/film/48315.
Petra L. Schmitz | 22.09.2021
Liebe Mara,
Sie haben recht: am Ende des Films ist Mirga Gražinytė-Tyla zu sehen, wahrscheinlich mit einem Ausschnitt von den BBC Proms, 2017. Ich war durch das Dirigat mit Karina Canellakis, kürzlich zu sehen auf arte im Rahmen eines Beethoventags, in meiner Wahrnehmung der Sequenz auf sie konzentriert. Inzwischen konnte ich den richtigen Sachverhalt recherchieren. Ich danke Ihnen sehr für den Hinweis.